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Neuntes Kapitel

Wer kam?

Während der Advokat wie ein Rasender über die Landstraße fuhr, sah er die ganze Zeit auf seine Uhr. Er wurde immer nervöser, und das Gefühl, daß er machtlos sei, machte ihn beinahe verrückt. In seinem erregten Zustand gaukelte er sich allerhand Schreckbilder vor. Er erinnerte sich, daß er einmal in einer französischen Zeitung von solch einem Überfall, wie er ihn sich vorstellte, gelesen hatte. Es war an einem einsamen Ort, und die Frau war allein zu Hause. Aber sie hatte ein Telephon und konnte von Augenblick zu Augenblick ihrem Mann in Paris von dem Gang des Überfalles berichten, von dem Erscheinen der Räuber, bis sie schließlich den Hörer loslassen mußte, weil die Mörder über ihr waren. Sollte er so etwas erleben? Der arme, gequälte Mann jagte den Chauffeur vorwärts, und der Chauffeur, der begriff, daß es etwas sehr Wichtiges sei, steigerte das Tempo des Wagens bis zum Fabelhaften. Dies sollte sich indessen rächen und das Seinige dazu beitragen, daß die Ereignisse solch merkwürdigen Verlauf nahmen.

Wenn der Advokat nicht an Mörder und Räuber dachte, wanderten seine Gedanken unwillkürlich zu dem Polizeileutnant und seiner Frau; aber er schob sie beständig von sich, wie man etwas Häßliches und Böses von sich weist. Doch sie kamen wieder und wieder. Das ist die Aufregung, dachte er. Ich tue ihr unrecht, weil ich so nervös bin. Jetzt begann die Gegend ihm bekannt zu werden. Hier war der Wald, der das Badehotel umgab. Er beugte sich über die glühenden Lampen des Autos und sah auf seine Uhr. Es fehlten jetzt noch 20 Minuten an zwölf. Er würde sogar etwas vor der Zeit da sein, ein Viertel vor zwölf oder so.

Da geschah es.

Bei einer Biegung glitt das Automobil aus und fuhr in den Graben.

Es war in einer scharfen Kurve, und der Chauffeur hatte das Fahrtempo bedeutend herabgemindert. Wäre er mit seiner bisherigen Geschwindigkeit gefahren, wäre sicher ein Unglück geschehen. So aber ereignete sich nichts anderes, als daß der Advokat kopfüber in das weiche Heidekraut flog und der Chauffeur sich am Steuer eine Rippe brach. Der Advokat war im nächsten Augenblick wieder auf den Beinen.

»Kann das Auto weiterfahren?« fragte er.

Der Chauffeur jammerte und untersuchte ärgerlich die Panne. Es dauerte einen Augenblick, bis er meldete:

»Eine verfluchte Geschichte: vor einer Stunde kann ich nicht weiterfahren.«

Der Advokat überlegte einen Augenblick.

»Ich gehe den Rest des Weges zu Fuß,« sagte er. »Kommen Sie mir so schnell wie möglich mit dem Auto nach! Ich wohne in der weißen Villa mit dem hohen Eisengitter.« Dann lief er durch den dunklen Wald. Die bestimmte Überzeugung, daß er sich beeilen müsse, um eine Gefahr oder ein Unglück abzuwenden, verlieh ihm eine Geschwindigkeit, die man einem Mann in seinem Alter nicht zugetraut hätte.

Frau Sonja ging in ihrem Boudoir nervös auf und ab. Die Uhr war bald zwölf. Sie lauschte, ob alles zur Ruhe gegangen sei. In der ganzen Villa war kein Laut zu hören. Die schöne junge Frau trug eine sehr geschmackvolle Abendtoilette, ein enganschließendes gelbes Kleid, das ihre schlanke und elegante Gestalt hob. Außerdem hatte sie alles im Zimmer so geordnet, als wolle sie auf den, den sie erwartete, Eindruck machen. Die dunkelrote Ampel verbreitete ein eigenartiges Licht in dem dunklen Raum. Auf dem kleinen Messingtisch neben dem Diwan stand eine kleinere Lampe, eine kleine japanische Fackellampe, deren Flamme matt unter einer Zederholzschale brannte und einen seltsamen Weihrauchgeruch im Zimmer verbreitete. Aber sie war, wie gesagt, nervös. Warum? Bereute sie es, daß sie dem jungen Norweger die Erlaubnis gegeben hatte, zu kommen, oder war sie nervös, weil sie endlich einmal ein Geheimnis entschleiern wollte, das sie bisher allein getragen hatte? Sie sah fortwährend auf die Uhr. Jetzt mußte er bald hier sein. Ihre Unruhe wuchs. Sie hatte versprochen, die Verandatür angelehnt zu lassen. Sollte sie sie nicht lieber doch schließen? Sie war gerade im Begriff es zu tun, als sie stehen blieb, weil sie etwas hörte. Sie hörte Schritte, und sie hörte eine Tür knarren. Es mußte der sein, den sie erwartete.

Nachdem sie einen letzten Blick auf ihre Gestalt im Spiegel geworfen hatte, nahm sie auf dem Diwan Platz und lehnte sich in einer halb ruhenden Stellung zurück. Sie lächelte, und ihr Lächeln war gleichzeitig neugierig und erwartungsvoll. Sie lag so auf dem Diwan, daß sie der Tür den Rücken zukehrte und den Eintretenden also nicht sehen konnte. Sie hörte Schritte, die sich näherten. Der Kommende ging durch das dunkle Nebenzimmer. Die Schritte klangen unsicher. Da hörte sie einen Griff auf den Türdrücker Die Tür ging auf, sie lag noch immer lächelnd da.

Dann wandte sie langsam den Kopf und streckte ihre Hand aus. Ihr Lächeln aber erstarrte plötzlich, und eine furchtbare Blässe glitt hastig über ihr Gesicht. Die Gestalt, die in der Tür stand, war nicht die, die sie erwartet hatte. Ihr Mann war es, der dort stand. Sie fuhr in die Höhe und starrte ihn an, als sehe sie eine Erscheinung. Der Mann stand unbeweglich neben der Tür, er atmete schwer. Er war stark gelaufen, und die Gemütsbewegung, als er sie in dieser Toilette und der dunkelroten Beleuchtung fand, brachte sein Herz so heftig zum Schlagen, daß er sich nicht rühren konnte. Er sah auch ihr erstauntes, fast entsetztes Gesicht. Alles das, was er nur flüchtig gedacht hatte, der Verdacht, der hin und wieder in seinem Gehirn gespukt hatte, sammelte sich jetzt plötzlich zu einer grausamen und riesenhaften Frage. Während sie dort saß und ihn entsetzt ansah und er unbeweglich dastand, wollte diese Frage sich beständig Bahn brechen. Aber es war, als bliebe sie ihm im Halse stecken. Schließlich aber brachte er sie mit einem heiseren Röcheln über die Lippen:

»Wen erwartest du?«

Frau Sonja erhob sich und bewegte sich auf ihren Gatten zu; aber sie antwortete nicht.

Er wiederholte die Frage, diesmal klar und deutlich und mit drohender Stirn:

»Wen erwartest du?«

Hätte sie sich nicht so überrumpelt gefühlt, hätte sie Zeit gehabt zu überlegen, dann würde sie vielleicht offen und ehrlich geantwortet haben: »Ich erwarte den jungen Norweger.« Sie hätte ihrem Mann eine Erklärung gegeben, ihm erzählt, daß sie in einer gewissen Affäre den Beistand des Polizeileutnants suchen wollte. Aber sie tat nichts von alledem. Sie antwortete:

»Ich erwarte niemand.«

Da fehlten noch 10 Minuten an zwölf.

Ihr Mann sah sie lange an, und in dem Schweigen, das nun folgte, fand sie Gelegenheit sich zu sagen: Das war dumm. Du hättest ihm lieber alles erzählen sollen – und der Mann fand Gelegenheit sich zu sagen: Sie lügt.

Er blieb neben der Tür stehen, zeigte mit der Hand durchs Zimmer und sagte:

»Ich sehe, du hast Vorbereitungen getroffen.«

Jetzt aber war sie mit einem Satz neben ihm. Ihr ganzer Körper zitterte. Sie begriff, wenn sie etwas retten wollte, dann mußte es schnell sein. Sie warf sich ihm an die Brust. Er aber stand unbeweglich und nahm ihre Zärtlichkeit nicht entgegen. Sie beteuerte ihm, daß sie niemand erwarte. Sie habe nur alles dies arrangiert, die Lampen angezündet, sich festlich gekleidet, weil es eine Laune von ihr gewesen sei. Und ihr weiblicher Instinkt fand gerade die richtigen Worte. Denn jetzt sagte sie etwas, was den Mann traf und ihn nachdenklich machte. Sie sagte: »Du verstehst mich vielleicht nicht, aber ich will versuchen es dir zu erklären. Ich langweile mich, ich langweile mich entsetzlich. Hörst du, weißt du, was es heißen will, sich so furchtbar zu langweilen? Du bist ja fast nie bei mir. Und wenn du einmal kommst, sitzt du die ganze Zeit bei deinen Papieren, deinen ewigen Papieren, von denen ich nicht das geringste verstehe. –

Was soll ich mir denn immer ausdenken? Heute abend ging ich in diesen leeren Stuben umher und wußte nicht, womit ich mich zerstreuen sollte. Du hast mir nicht einmal die neuesten Bücher mitgebracht. Und außerdem fühlte ich mich so furchtbar allein. Da verfiel ich auf diese Spielerei. Das ist alles. Verstehst du mich?«

Er sah sie an. Ihre Augen standen voll Tränen. Ihr ganzer Körper erzitterte. Da drückte er sie an sich und legte ihren Kopf gegen seine Schulter.

»Arme Kleine,« sagte er, »habe ich dich vernachlässigt?«

Sie fühlte, daß sie gewonnen habe, aber nur für einen Augenblick. Unstet sah sie über seine Schulter hinweg zur Uhr. Ihr unbarmherziges Ticken klang melodisch und ruhig. Noch war es nicht zwölf.

Wenn er uns nur hören würde, dachte sie, wenn er nur unsere Schatten an den Gardinen entdecken und umkehren würde! Oder wenn sie nur die Zeit in ihrem entsetzlichen Vorwärtseilen aufhalten könnte!

Da aber hörte sie wieder, daß die Verandatür vorsichtig geöffnet wurde. Jemand war in das Verandazimmer gekommen. Ein Kälteschauer durchfuhr sie. Alles war verloren.

 


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