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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Lebendig oder tot

Der Polizeileutnant sah so merkwürdig aus, und was er gesagt hatte, klang so sonderbar, daß die beiden anderen wie versteinert dastanden und ihn anblickten.

Er war sehr blaß und zitterte am ganzen Körper. Asbjörn Krag hielt ihn noch immer in seinen Armen, und nachdem er sich losgerissen hatte, packte er den Detektiv am Handgelenk und klammerte sich an seinen Revolver. Er wollte ihn daran hindern, auf den Flüchtling zu schießen, und bedachte keinen Augenblick, daß er sein eigenes Leben in Gefahr brachte, indem er sich vor Asbjörn Krags Waffe stellte.

Und dabei murmelte er ganz verstört und geistesabwesend:

»Um Gottes willen Krag, wissen Sie, was Sie fast getan hätten? Sie hätten sie fast erschossen!«

»Wen?« fragte Krag heiser, indem er ihn von sich schob.

»Sie,« antwortete der Polizeileutnant nur.

Krag schüttelte halb ärgerlich, halb ratlos den Kopf und blickte über den Weg, wo der Flüchtling gerade zwischen den herbstgelben Bäumen verschwunden war. Er sah den Polizeileutnant streng an und fragte:

»Ist es vielleicht Ihre Meinung, daß wir den Flüchtling nicht verfolgen sollen?«

»Doch,« antwortete der Polizeileutnant.

Asbjörn Krag lachte. Und es war ein Lachen voller Zorn und Erbitterung. Der Amtmann wandte sich ab und betrachtete die ziehenden Wolken am Himmel. Eine Bewegung seiner Schultern ließ ahnen, daß er sich mächtig über etwas dort oben amüsierte.

Krag faßte den Polizeileutnant am Arm.

»Kommen Sie zu sich!« rief er eindringlich.

Und der arme Polizeileutnant schien wirklich unter Asbjörn Krags Blick zu sich zu kommen.

»Entschuldigen Sie,« sagte er, »aber ich weiß selbst nicht, ob ich einen Lebenden oder einen Toten gesehen habe.«

»Meinen Sie den Menschen, der eben flüchtete?« fragte Krag. »Der war springlebendig, das kann ich Sie versichern.«

Der Polizeileutnant nickte und sah über die Landstraße. Er wurde von einem Kälteschauer geschüttelt.

Asbjörn Krag gewahrte es und fragte ihn:

»Fürchten Sie sich vor etwas?«

Der Polizeileutnant fuhr sich nervös mit der Hand über die Stirn.

»Ja,« flüsterte er, »ich fürchte mich vor mir selbst. Vielleicht habe ich eine Sinnestäuschung gehabt. Haben Sie das Gesicht gesehen. Krag?«

»Ja.«

»Es war ein wunderschönes Gesicht, nicht wahr.«

Krag lächelte.

»Finden Sie?« fragte er.

»Große braune Augen, lange gebogene Augenwimpern, nicht wahr?«

»Kann schon sein,« antwortete Krag.

»Reiches, schwarzes Haar, eine feingeschnittene, nervöse Nase ...«

Krag unterbrach ihn. »Nun mag es genug sein,« sagte er, »Sie kennen also den Menschen. Sagen Sie uns, wer es war!«

»Erinnern Sie sich noch,« fragte der Polizeileutnant, »daß ich zu Ihnen sagte, während wir im Schuppen standen: Es ist ein furchtbarer Gedanke, Frau Sonjas Mörder so nah zu sein? Als ich dann zu Ihnen ans Fenster trat, meinte ich, daß ich den Mann mit dem blauseidenen Halstuch zu sehen bekommen würde. Sie dürfen nicht glauben, daß ich verrückt bin, lieber Krag, aber wissen Sie, wen ich drin sah?«

»Ich hoffe, daß ich es endlich erfahre.«

»Es war nicht der Mann mit dem Halstuch,« fuhr der Polizeileutnant fort, »es war auch nicht der andere Apache, sondern es war die Ermordete.«

»Die Ermordete?« fragte Krag.

»Ja,« antwortete der Polizeileutnant, »es war die ermordete Frau Sonja, die ich sah, und sie ist es auch, die über die Landstraße geflüchtet ist.«

Asbjörn Krag faßte seinen Freund unter dem Arm und ging ein paar Schritte mit ihm. Der Amtmann betrachtete noch immer die Wolken und die Landschaft die ihm auch ferner viel Spaß zu machen schienen.

»Frau Sonja in Männerkleidern,« sagte Krag, »das erscheint mir sonderbar.«

»Aber ich könnte jeden Eid darauf leisten, daß sie es war.«

»Dann ist sie also gar nicht tot.«

Der Polizeileutnant überlegte eine Weile, dann schüttelte er den Kopf.

»Nein, nein,« murmelte er halb für sich. »So ähnlich können zwei Menschen sich nicht sehen.«

»Gut, dann nehmen wir also an, daß sie es war,« sagte Krag etwas ungeduldig. »Aber wenn Frau Sonja nicht tot ist, dann ist ja auch kein Mörder da, nicht wahr?«

»Nein.«

»Und dann ist unsere ganze Untersuchung überflüssig Daß eine Dame sich in Männertracht kleidet und nach Schweden reist, kann unmöglich ein so gewaltsames Eingreifen von unserer Seite rechtfertigen. Demnach liegt also nichts anderes vor als der Überfall auf Advokat Aage Gade. Das aber ist nicht genug für uns. Das ist eine reine Kriminalangelegenheit und geht nur die Kopenhagener Polizei an.«

Während Krag sprach, hatte er seinen Freund die ganze Zeit prüfend angesehen. Er war offenbar nur so abweisend, um die Meinung seines Freundes zu erfahren.

Gleichzeitig zog er ihn mit sich über die Landstraße. Sie gingen schneller und schneller, und Asbjörn Krag war es, der das Tempo beschleunigte. Der Amtmann folgte ihnen in einiger Entfernung.

Der Polizeileutnant sagte:

»Ich bin sehr glücklich, daß die Sache diese Wendung genommen hat, und ich finde es recht herzlos von Ihnen, daß Sie den Fall mit so kalten Augen betrachten. Kaum zeigt es sich, daß kein Mord vorliegt, so verlieren Sie jedes Interesse. Ehrlich gesagt, ich finde, daß Sie etwas zu viel Detektiv und etwas zu wenig Mensch sind.«

Krag antwortete nicht. Er ließ den andern reden. Aber er beschleunigte seine Schritte immer mehr. Sie gingen jetzt sehr schnell.

»Sie sollten sich lieber freuen, daß die Menschheit von dieser Greueltat verschont geblieben ist,« fuhr der Polizeileutnant fort, der immer heftiger zu werden begann. »Und es sollte Sie mit Genugtuung erfüllen, daß eine so schöne und gute Dame nicht durch Mörderhand ums Leben gekommen ist.«

Asbjörn Krag blickte neugierig zu ihm auf, während er neben ihm herschritt.

»Und im übrigen,« sagte der Polizeileutnant, »finde ich gar nicht, daß die Sache dadurch weniger geheimnisvoll oder interessant wird. Im Gegenteil. Jetzt müssen wir uns die Frage vorlegen: Warum in aller Welt hat sie diese Komödie in Szene gesetzt? Das ist doch wirklich ein großes und eigentümliches Rätsel. Wie hat sie aus der Badeanstalt entschlüpfen können? Was hat sich in der Badeanstalt ereignet? Was hat der Mann mit dem Halstuch dort vorgenommen? Wo ist er geblieben? Warum hat Frau Sonja sich in dieser öden Gegend versteckt? Hat sie ihren Mann in das Geheimnis eingeweiht? Wie ist der Hund hierher gekommen? Das alles sind Rätsel, die einer Lösung harren.«

Plötzlich sah der Polizeileutnant Asbjörn Krag ins Gesicht. Er hatte das aufmerksame Blinzeln in seinen Augen bemerkt.

»Und außerdem glaube ich Ihnen kein Wort,« sagte er.

»Was glauben Sie nicht?«

»Ich glaube nicht, daß Ihnen die Sache langweilig geworden ist, weil kein Mord vorliegt.«

»Sie haben so unrecht nicht,« antwortete Krag. »Es war gut, daß wir nicht geschossen haben. Frauen dürfen sich allerdings nicht öffentlich in Männerkleidung zeigen, aber Todesstrafe steht nicht darauf.«

»Warum gehen Sie so schnell?« fragte plötzlich der Polizeileutnant.

Asbjörn Krag antwortete nicht. Er blickte die ganze Zeit auf die Erde.

»Oh, jetzt weiß ich es,« unterbrach sich der Polizeileutnant, »Sie verfolgen Frau Sonja.«

»Ja,« antwortete Krag, indem er auf die Erde zeigte, »dort laufen die Spuren des Fahrrades.«

 


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