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Fünfter Abschnitt.
Der letzte Kampf

In der zweiten Woche des September saß Gretchen wieder allein in ihrem einsamen Stübchen, wieder im Kampf mit dem Geisterheere, das immer erschlagen wurde und sich immer wieder erhob. Mitternacht war vorbei, und vom tosenden Winde gepeitscht schlug der Regen heftig gegen das Fenster. Den Tag nach Luciens Besuch war das Wetter plötzlich umgeschlagen; der Hitze und Dürre waren kalte wechselnde Winde gefolgt und von Zeit zu Zeit heftige Regengüsse, und Lucie hatte nicht abreisen dürfen, sondern sollte auf beständigeres Wetter warten. Höher hinauf am Floß hatte es unaufhörlich geregnet und die Ernte war unterbrochen worden. In den letzten beiden Tagen regnete es nun auch hier unten am Flusse fortwährend, und die alten Leute fingen schon an den Kopf zu schütteln und sprachen von vor sechzig Jahren, wo um die Tag- und Nachtgleichen dasselbe Wetter die große Ueberschwemmung gebracht hatte, welche die Brücke über den Floß wegriß und die Stadt in schlimmes Unglück stürzte. Aber das jüngere Geschlecht, welches nur einige kleine Ueberschwemmungen erlebt hatte, verachtete diese düsteren Erinnerungen und Ahnungen, und Bob Jakin, der von Natur heiter und guter Dinge war, lachte seine Mutter förmlich aus, als sie bedauerte, daß ihr Haus grade am Flusse, läge, und hielt ihr entgegen, sonst hätten sie ja keine Boote und im Fall einer Ueberschwemmung seien die ein rechter Segen, wenn man sich das Essen weit her holen müsse.

Aber jetzt waren die Sorglosen und die Besorgten alle zu Bett und schliefen. Es war Hoffnung, morgen würde der Regen Nachlassen; schon bösere Vorzeichen, wie plötzliches Thauwetter nach mächtigem Schneefall, waren in den letzten Jahren oft ohne Schaden vorübergegangen und im schlimmsten Falle rissen die Uferdeiche gewiß mehr stromabwärts, so daß die Wasser sich verlaufen konnten.

Alle waren jetzt zu Bett, denn Mitternacht war vorüber – alle, nur nicht wer so einsam wachte wie Gretchen. Sie saß in ihrem Stübchen nach dem Flusse hin, bei einem einzigen Lichte, dessen matter Schein das Zimmer dunkel ließ und nur einen Brief beleuchtete, der vor ihr auf dem Tische lag. Der Brief, den sie erst heute bekommen hatte, war eine von den Ursachen, die sie bis tief in die Nacht wach hielten – unbewußt der Flucht der Stunden – auf Ruhe nicht bedacht – kein Bild von Ruhe im Herzen, außer der fernen, fernen Ruhe, von der es kein Erwachen mehr gäbe zu diesem Leben des Kampfes.

Zwei Tage, ehe Gretchen diesen Brief erhielt, war sie zum letzten Mal bei Pastor Kenn gewesen. Nicht der heftige Regen allein hatte sie seitdem zu Hause gehalten; es gab noch einen andern Grund. Von der neuen Wendung, welche das verläumderische Stadtgeschwätz über Gretchen genommen hatte, waren dem Pastor zuerst nur einige Andeutungen zugekommen; kürzlich aber hatte ihm einer der angesehensten Bürger der Stadt alles ganz genau mitgetheilt und eine ernstliche Vorstellung daran geknüpft, wie gewagt es für ihn sei, der herrschenden Stimmung in der Gemeinde sich zu widersetzen. Kenn fühlte sich in seinem Gewissen viel zu ruhig, um nicht auf dem Widerstande zu beharren, aber endlich schlug die Erwägung bei ihm durch, in seiner amtlichen Stellung habe er eine besondere Verantwortlichkeit und müsse selbst den bösen Schein meiden. Wie alle gewissenhaften Leute hielt er leicht das für seine Pflicht, was ihm am schwersten wurde, und nachgeben wurde ihm immer schwer. Er entschloß sich also, Gretchen zu rathen, sie möge lieber St. Ogg auf einige Zeit verlassen, und er erfüllte diese schwere Aufgabe mit möglichster Zartheit, indem er nur in unbestimmten Ausdrücken erklärte, er sehe zu seinem Bedauern, daß der Schutz, den er ihr gewähre, eine Quelle der Zwietracht zwischen ihm und seinen Pfarrkindern sei, die seiner Wirksamkeit als Geistlicher schädlich zu werden drohe. Zugleich bat er sie um Erlaubniß, in ihrem Interesse an einen befreundeten Geistlichen zu schreiben, der ihr entweder in seinem eigenen Hause eine Stelle geben oder sonst ein passendes Unterkommen verschaffen könne.

Mit bebendem Munde hörte ihn das arme Gretchen an; sie konnte nur ein schwaches: »ich danke – Sie sind sehr gütig« sagen und ging durch den strömenden Regen mit einem neuen Gefühl von Verlassenheit nach ihrer Wohnung. Einsam also hinaus auf die Wanderschaft – unter fremde Gesichter, die sie verwundert ansehen würden, weil das Leben ihr nicht lustig schien – hinaus in ein neues Leben, wo sie sich aufraffen müsse, neue Eindrücke zu empfangen – und sie fühlte sich doch so unsäglich, so jämmerlich müde! Für den Irrenden gab's also keine Heimath, für den Strauchelnden keine Hülfe; selbst die Mitleid empfanden, wurden zur Härte gezwungen. Aber durfte sie denn klagen? durfte sie so zurückweichen vor der langen Buße des Lebens, dieser einzigen Möglichkeit, die ihr blieb, andern Duldern die Last zu erleichtern und so den Fehltritt der Leidenschaft in eine neue Kraft selbstloser Nächstenliebe umzuwandeln?! Den ganzen folgenden Tag saß sie in ihrem einsamen Zimmer, das die Wolken und der strömende Regen verdunkelten, nur in die Zukunft hinausdenkend und ringend nach Geduld – denn welche Ruhe hätte das arme Gretchen sich nicht erst erringen müssen?!

Und am dritten Tage – dem Tage, den sie eben zu Ende gewacht hatte – war der Brief gekommen, der vor ihr auf dem Tische lag.

Der Brief war von Stephan. Er war aus Holland zurück wieder in Mudport, ohne daß von seinen Freunden jemand es wußte, und hatte ihr von da aus durch die Vermittelung einer Vertrauensperson in St. Ogg geschrieben. Von Anfang bis zu Ende war der Brief ein leidenschaftlicher Nothschrei – eine Beschwörung, nicht nutzlos ihn zu opfern – sich selbst zu opfern, ein Protest gegen das verkehrte Rechtsgefühl, aus dem sie einer bloßen Idee zu Liebe und ohne wahrhaften guten Zweck seine Hoffnungen zerstöre – seine Hoffnungen, den sie liebe, und der sie liebe mit der einzigen übermächtigen Leidenschaft und Anbetung, die ein Mann einer Frau nur einmal im Leben widmet.

 

»Man schreibt mir, Du würdest Kenn heirathen. Als wenn ich das glauben könnte! Vielleicht hat man Dir auch solche Fabeln von mir erzählt. Vielleicht sagt man Dir, ich sei auf Reisen. Wohl, mein Leib hat sich hie und da herumgeschleppt, aber ich habe nie die schreckliche Stelle verlassen, wo Du mich verliehest – wo ich aus der Betäubung ohnmächtiger Wuth nur erwachte, um zu sehen. Du seiest fort.

Gretchen! wer kann solche Qualen erduldet haben wie ich? wer so tief gelitten wie ich? wen außer mir hat der lange Blick voll Liebe getroffen, der sich mir in die Seele gebrannt hat, so daß hinfort kein andres Bild da eine Stelle findet? Gretchen, ruf mich zurück zu Dir! – ruf mich zurück in's Leben! Zwei Monate haben nur die Gewißheit vertieft, daß ich nach dem Leben ohne Dich nichts frage. Schreib' mir ein Wort – sag' »Komm!« und in zwei Tagen bin ich bei Dir. Gretchen, hast Du vergessen, was es heißt, zusammen sein – dem Blick erreichbar sein – dem Klang der Stimme?«

 

Beim ersten Lesen dieses Briefes war es Gretchen gewesen, als finge die wahre Versuchung nun erst an. Im Eingang einer kalten dunkeln Höhle wenden wir uns mit frischem Muthe von dem warmen Lichte ab, aber wie, wenn wir im feuchten Dunkel lange gegangen sind und zu ermatten beginnen – wie, wenn es sich da plötzlich über uns öffnet und uns wieder emporlockt zu dem lebenspendenden Tage?! Die Menschennatur hat einen so mächtigen Drang, sich dem Drucke des Schmerzes zu entziehen, daß alle andern Triebe leicht daneben schweigen, bis wir dem Schmerze entronnen sind.

Stundenlang fühlte Gretchen, als sei all ihr Kämpfen vergeblich gewesen. Stundenlang verdrängte das Bild Stephans, wie er sehnsüchtig des einen Wortes harrte, jeden andern Gedanken, den sie festzuhalten strebte. Sie las den Brief nicht, sie hörte ihn von seinem Munde, und die Stimme durchbebte sie mit der alten wunderbaren Gewalt. Noch gestern hatte das Bild einer einsamen Zukunft sie erfüllt, wo sie die Last der Reue zu tragen hatte und nur der treue Glauben sie aufrecht hielt. Und jetzt – so nahe, daß sie nur die Hand danach auszustrecken brauchte – so berechtigt, daß es sich ihr gar als ein Gebot der Pflicht aufdrängte – winkte ihr eine andere Zukunft, wo statt schwerer Entbehrung und Anstrengung die liebende Kraft eines andern sich ihr zur behaglichen, köstlichen Stütze bot! Und doch, was der Versuchung die furchtbare Gewalt gab, war nicht die Aussicht auf Freude und Glück – es war Stephan's Jammerton, es war der Zweifel an der Gerechtigkeit ihres eigenen Entschlusses, was die Waage so schwanken machte, daß sie einmal schon von ihrem Sitze aufsprang und nach der Feder griff, um zu schreiben »Komm!«

Aber grade vor diesem entscheidenden Schritte sträubte sich ihr Geist, und das Gefühl des inneren Widerspruchs mit ihrer früheren Kraft und Klarheit überkam sie wie das Entsetzen einer bewußten Erniedrigung. Nein – sie mußte warten – mußte beten – das Licht, welches jetzt von ihr gewichen, würde schon wiederkommen; sie würde wieder fühlen, was sie empfunden hatte, als sie einer Eingebung folgend, die mächtig genug war, die Qual des Todes – ja, die Liebe zu überwinden, von Stephan geflohen war; sie würde wieder fühlen, was sie gefühlt hatte, als Lucie neben ihr gestanden, als Philipp's Brief alle Fasern ihres Innern aufgeregt hatte, die sie an die ruhigere Vergangenheit knüpften.

Bis tief in die Nacht saß sie ganz still, ohne Trieb, ihre Stellung zu wechseln, ohne Kraft selbst, im Geist zu beten – immer nur auf das Licht wartend, welches gewiß wieder käme. Und es kam – mit den Erinnerungen, die keine Leidenschaft lange unterdrücken konnte; die Vergangenheit stieg wieder herauf, und damit strömten wieder die Quellen des selbstvergessenen Mitleids und der Hingebung, der Treue und des Entschlusses. Die Worte, welche die liebe Hand in dem kleinen alten Buche bezeichnet und welche sie vor langer Zeit auswendig gelernt hatte, drängten sich ihr auf die Lippen und machten sich in einem leisen Gemurmel Luft, welches in dem lauten Fallen des Regens und dem lauten Stöhnen und Heulen des Windes ganz verhallte: »Ich habe das Kreuz empfangen, empfangen von Deiner Hand; ich will es tragen bis zum Tode, weil Du es mir auferlegt hast.«

Aber bald traten ihr andere Worte auf die Lippen, die nur unter Schluchzen laut wurden: »Vergieb mir, Stephan! Es wird vorübergehen. Du kehrst zu ihr zurück.«

Sie nahm den Brief, hielt ihn an's Licht und ließ ihn langsam verbrennen. Morgen wollte sie Stephan das letzte Scheidewort schreiben.

»Ich will's tragen, tragen bis zum Tode … Aber wie lange noch, bis der Tod kommt! Ich bin so jung, so gesund. Woher nehme ich Geduld und Stärke? werde ich wieder kämpfen müssen und erliegen und bereuen? – hat das Leben noch mehr so schwere Prüfungen für mich?« Mit diesem Schrei der Verzweiflung sank Gretchen auf die Kniee und verbarg ihr gramzerstörtes Gesicht in den Händen. Ihre Seele erhob sich zu dem unsichtbaren Erbarmer, der bis an's Ende bei ihr sein wollte. Sie fühlte, sie solle etwas lernen aus der Erfahrung dieser großen Noth – ein Geheimnis; von Liebe und Langmuth, das die weniger strauchelnden nicht wissen konnten. »O Gott«, rief sie endlich, »wenn mein Leben lang sein soll, dann laß mich leben andern zum Trost und Segen!«

In diesem Augenblicke fühlte Gretchen plötzlich eine Kälte an Füßen und Knieen: es war Wasser. Sie sprang auf – das Wasser floß unter der Thür durch, die nach dem Flur ging. Sie war keinen Augenblick überrascht und verwirrt; sie wußte, was das war – Ueberschwemmung!

Der Aufruhr der Empfindungen, den sie in den letzten zwölf Stunden durchgemacht hatte, schien eine große Ruhe in ihrem Innern zurückgelassen zu haben; ohne einen Schrei, ohne einen Laut eilte sie mit dem Lichte die Treppe hinauf in Bob's Schlafzimmer. Die Thür war nur angelehnt, sie ging hinein und schüttelte ihn an der Schulter:

»Bob, es ist Überschwemmung! Das Wasser steht im Hause. Wir müssen sehen, ob wir die Boote festmachen können.«

Sie steckte sein Licht an, während die arme Frau hastig das Kind aufnahm und in Thränen ausbrach; dann stürzte sie wieder hinunter, um nachzusehen, ob das Wasser rasch stiege. Das Zimmer lag gegen die Treppe eine Stufe niedriger; schon stand das Wasser mit der Stufe in gleicher Höhe. Während sie noch hinsah, stieß etwas mit furchtbarem Krach gegen das Fenster, daß die Bleifenster und der alte hölzerne Rahmen in Stücken hereinstürzten; das Wasser strömte nach.

»Es ist das Boot!« rief Gretchen. »Bob, kommt rasch, daß wir die Boote behalten!«

Und ohne einen Augenblick zu zögern oder sich zu ängstigen, trat sie in das Wasser, das ihr rasch bis an's Kniee spülte, und bei dem matten Scheine des Lichts, welches sie auf der Treppe hatte stehen lassen, stieg sie auf die Fensterbank und kroch in das Boot, welches mit dem Vordertheil durch's Fenster ragte. Gleich hinter ihr kam Bob herangestürzt, ohne Schuhe und Strümpfe, aber mit der Laterne in der Hand.

»Da sind sie ja beide noch – beide Boote«, sagte Bob, als er zu Gretchen in's Boot stieg. »Wie wunderbar, daß die Kette nicht auch gerissen ist wie die Ringe.«

In der Aufregung, mit der er in's andere Boot stieg, es von dem ersten losmachte und ein Ruder einsetzte, beachtete Bob nicht, welche Gefahr Gretchen lief. Für den Furchtlosen fürchtet man nicht leicht, wenn man seine Gefahr theilt, und Bob war ganz verloren in dem Gedanken, wie er wohl die Hülflosen im Hause retten könne; Gretchen, die ihn geweckt und ihm mit rascher Thätigkeit vorangegangen war, schien ihm garnicht hülfsbedürftig, sie machte vielmehr den Eindruck, als könne sie mithelfen und retten. Auch sie hatte mittlerweile ein Ruder ergriffen und mit einigen Stößen ihr Boot von dem überhängenden Fensterrahmen freigemacht.

»Das Wasser steigt mächtig schnell«, sagte Bob; »ich fürchte, bald steht's oben in der Schlafkammer – das Haus liegt so tief. Am liebsten nähm' ich Frau und Kind und die Alte in's Boot, wenn ich könnte, und wagte mich auf's Wasser; das alte Haus steht nicht zu fest. Und wenn ich das Boot treiben ließe … aber Sie, Fräulein Gretchen«, rief er aus, indem er plötzlich das Licht seiner Laterne auf Gretchen fallen ließ, die, das Ruder im Arm und das schwarze Haar triefend, im Regen stand.

Gretchen hatte keine Zeit zu antworten; eine plötzliche Strömung stürmte die Häuser entlang und trieb mit heftigem Stoß beide Boote hinaus in's offene Gewässer.

In den ersten Augenblicken fühlte Gretchen nichts, dachte an nichts, als daß sie plötzlich hinweg sei aus dem Leben, welches ihr eine Qual gewesen; es schien ihr der Uebergang zum Tode ohne Todeskampf – und sie war in der Dunkelheit allein mit ihrem Gott.

Das ganze war so rasch gekommen – so völlig wie ein Traum, daß die Fäden des gewöhnlichen Vorstellens und Verknüpfens zerrissen; sie sank im Boote nieder, hielt mechanisch das Ruder fest und hatte lange Zeit keine klare Vorstellung von ihrer Lage. Was sie zuerst wieder etwas zum Bewußtsein brachte, war, daß der Regen aufhörte und daß sie einen schwachen Lichtschimmer die Dunkelheit theilen sah, der den schwer herabhangenden Wolkenhimmel von der unermeßlichen Wasserfläche trennte. Nun besann sie sich wieder auf die Ueberschwemmung – diese furchtbare Heimsuchung Gottes, von der ihr Vater so viel gesprochen hatte – die in den Tagen der Kindheit das Schreckgespenst ihrer Träume gewesen war. Und mit der Erinnerung stieg das Bild der alten Heimath herauf – der Gedanke an Tom – an die Mutter – sie hatten's ja alle zusammen angehört.

»O Gott, wo bin ich? wie komme ich nach Haus?« rief sie hinaus in die trostlose Wasserwüste.

Wie mochte es auf der Mühle aussehen? Einst hatte die Ueberschwemmung sie fast zerstört. Vielleicht waren sie in Gefahr – in Noth – Mutter und Bruder, ganz allein, von aller Hülfe so weit! Nun war ihr ganzer Sinn auf diesen Gedanken gestellt; sie sah die vielgeliebten Gesichter vor sich, wie sie in die Dunkelheit nach Hülfe ausblickten und keine fanden.

Das Boot trieb auf ruhigem Wasser, vielleicht weit weg vom Flusse auf überschwemmten Feldern. Keine augenblickliche Gefahr lenkte ihre Gedanken von der alten Heimath ab, und sie strengte ihre Blicke an, um in dem düstern Grau ringsum einen Fleck zu entdecken, der ihr einen Anhalt gäbe für die Richtung, die sie einzuschlagen hätte.

Welche Freude, als die schreckliche Wasserfläche sich immer klarer erweiterte – der Wolkenhimmel sich allmälich aufhellte – die Gegenstände sich allmälich schwarz abhoben von dem dunkeln Spiegel! Ja, sie trieb auf überschwemmten Feldern – das waren die Spitzen von Bäumen in den Hecken. Nach welcher Richtung lag der Fluß? Hinter sich sah sie die Reihen dunkler Baumspitzen, vor sich sah sie keine – der Fluß lag vor ihr. Sie ergriff ein Ruder und trieb das Boot mit der Kraft erwachender Hoffnung vorwärts; die Dämmerung schien rascher heraufzusteigen, nun sie thätig war, und bald sah sie einen Haufen Vieh auf einer Erhöhung zusammengedrängt, wohin die armen Geschöpfe sich gerettet hatten. Immer vorwärts ruderte sie; die nassen Kleider klebten ihr am Leibe und ihr triefendes Haar peitschte der Wind, aber körperlicher Empfindungen war sie sich kaum bewußt, nur ein Gefühl von Kraft durchströmte sie, welche die gewaltige Aufregung ihr gab. Zu der Sorge und dem Drang nach Rettung für die Geliebten in der alten Heimath gesellte sich ein unbestimmtes Gefühl von Versöhnung mit ihrem Bruder: welche Feindschaft, welche Härte, welcher Zweifel kann sich angesichts eines großen Unglücks behaupten, wo unser Leben aller seiner Künstlichkeit entkleidet ist und wir alle mit einander eins sind in der nackten Bedürftigkeit unserer schwachen sterblichen Natur?! Davon hatte auch Gretchen ein unbestimmtes Gefühl; die Liebe zu dem Bruder stieg wieder mächtig herauf, vertilgte mit eins alle späteren Eindrücke von harter grausamer Kränkung und ließ nur die tiefen, unzerstörbaren Erinnerungen der ersten Liebe bestehen.

Bald zeigte sich in der Ferne ein großer dunkler Fleck, und nahebei unterschied Gretchen die Strömung des Flusses. Der dunkle Fleck war gewiß – ja, es war die Stadt St. Ogg. Nun wußte sie, wo sie nach dem ersten Blick von den wohlbekannten Baumen zu suchen hatte – den grauen Weiden, den jetzt herbstlich gelben Kastanien – und über ihnen weg von dem alten Dache! Aber noch war keine Farbe zu erkennen, kein Umriß; alles war matt und unbestimmt.

Immer mächtiger schien ihre Energie sich anzuspannen, als sei ihr Leben ein angesammelter Vorrath von Kraft, den sie in dieser Stunde ganz ausgeben könne, weil sie in Zukunft seiner nicht mehr bedürfe. Sie vergegenwärtigte sich lebhaft die Lage der Mühle und der ganzen Umgebung und überlegte sich, sie müsse die Strömung des Floß zu gewinnen suchen, um am Rieselbache vorbeizukommen und das Haus zu erreichen. Aber wenn sie zu weit stromab getrieben würde und aus der Strömung nicht wieder hinaus könne! Zum ersten Mal kam ihrem bestimmter Gedanke an Gefahr, aber sie hatte keine Wahl, keine Zeit zum Zögern, und ruderte in die Strömung hinein. Schnell trieb sie nun hinab und konnte die Arme ruhen lassen; immer deutlicher und näher unterschied sie, was die wohlbekannten Bäume und Dächer sein mußten; schon war sie nahe an einer reißenden schmutzigen Strömung – das mußte der sonst so klare ruhige Rieselbach sein.

Allmächtiger Gott! feste Massen wälzte sein Gewässer heran, die ihr Boot zertrümmern, ihr zu früh den Tod bringen konnten. Was waren das für Massen?

Zum ersten Mal befiel Gretchen tödtliches Entsetzen. Hülflos saß sie im Boot – sich kaum bewußt, daß sie hinabtriebe – deutlicher sich bewußt der Angst vor dem kommenden Zusammenstoß. Aber der Schreck ging vorüber, als sie zur Seite die Packhäuser von St. Ogg erblickte; sie war also an der Mündung des Rieselbaches vorbei; jetzt mußte sie ihre ganze Kraft und Geschicklichkeit aufbieten, um aus der Strömung zu kommen. Sie konnte nun erkennen, daß die Brücke eingestürzt war, und weitab im Felde sah sie die Masten eines gestrandeten Schiffes ragen. Aber kein Boot war auf dem Fluß zu sehen; alle, deren man habhaft werden konnte, waren in den überschwemmten Straßen beschäftigt.

Mit neuem Entschluß ergriff Gretchen ihr Ruder und arbeitete tüchtig; aber inzwischen war Ebbe eingetreten und die Strömung riß sie über die Brücke hinaus. Aus den Häusern am Ufer hörte sie Stimmen, als riefen die Leute ihr zu. Erst als sie fast am nächsten Dorfe war, konnte sie der Strömung Herr werden und ihr Boot seitab in stilles Wasser rudern. Dann warf sie einen sehnsüchtigen Blick nach Onkel Deane's Hause, das weiter unten am Flusse lag, ergriff beide Ruder und fuhr mit aller Macht über die überschwemmten Felder zurück nach der Mühle. Schon begannen sich die Gegenstände zu färben, und als sie sich den Feldern an der rothen Mühle näherte, konnte sie die Farbe der Bäume unterscheiden – die alten schottischen Föhren fern zur Rechten erkennen und die Kastanienbäume am Hause – o, wie tief sie im Wasser standen, tiefer als die Bäume unterhalb des Hügels. Aber das Dach der Mühle – wo war das? Jene schweren Massen im Rieselbach – was hatten die bedeutet? Doch nein, das Haus war's nicht, das Haus stand fest, zwar bis an den ersten Stock im Wasser, aber immer noch fest – oder war vielleicht der Theil nach der Mühle zu eingestürzt?

Mit krampfhafter Freude, daß sie endlich da sei – mit einem Jubel, der alles Elend übertönte, näherte sich Gretchen der Vorderseite des Hauses. Nichts zu sehen und zu hören. Ihr Boot war in gleicher Höhe mit den Fenstern im oberen Stock. Mit lauter durchdringender Stimme rief sie:

»Tom, wo bist Du? Mutter, wo bist Du? Gretchen ist da!«

Gleich darauf hörte sie aus dem Dachfenster im mittleren Giebel Tom's Stimme:

»Wer ist da? habt Ihr ein Boot?«

»Tom, ich bin's – Gretchen. Wo ist Mutter?«

»Die ist nicht hier; seit vorgestern ist sie auf dem Tannenhofe. Ich komme hinunter an's Fenster.«

»Ganz allein, Gretchen?« sagte Tom mit dem Ausdruck tiefen Erstaunens, als er das Fenster öffnete.

»Ja, Tom; Gott hat mich beschützt und hergeleitet. Steig rasch ein. Ist sonst keiner im Hause?«

»Nein«, sagte Tom und stieg in's Boot. »Ich fürchte, der Knecht ist ertrunken; er fiel in den Bach, als ein Theil der Mühle von dem fürchterlichen Anprall von Bäumen und Steinen zusammenstürzte; ich habe nach ihm gerufen und gerufen, aber es kam keine Antwort. Gieb mir die Ruder, Gretchen.«

Erst als er abgestoßen war und wieder auf der weiten Fläche fuhr – Aug' in Auge mit Gretchen – erst da drängte sich ihm die volle Bedeutung der Sache auf. Es überkam ihn mit so überwältigender Macht – war für seinen Geist eine so neue Offenbarung der Tiefen des Lebens, die sich seinem, wie er meinte, scharfen und klaren Blick entzogen hatten, daß er unfähig war, ein Wort, eine Frage an sie zu richten. Sie saßen stumm und blickten sich an – Gretchen mit einem abgehärmten, abgezehrten Gesichte, aber mit Augen voll tiefen Lebens, Tom blaß vor Scheu und Ehrfurcht. Die Lippen waren stumm, aber der Gedanke war lebendig, und obschon unfähig zu sprechen, ahnte Tom eine Geschichte von wunderbarer Anstrengung unter dem Schutze des Himmels. Endlich legte sich ein feuchter Schleier über seine blaugrauen Augen und die Lippen fanden ein Wort – das alte Wort der Kindheit: »Gretelchen!«

Gretchen versagte die Stimme; nur ein langes tiefes Schluchzen sprach von dem geheimnißvollen wundersamen Glück, welches eins ist mit Schmerz.

Sobald sie zu Worte kam, sagte sie: »Wir wollen zu Lucie, Tom; wir müssen sehen, ob wir da helfen können.«

Mit rüstiger Kraft ruderte Tom und kam rascher vorwärts als vorhin das arme Gretchen. Bald war das Boot wieder in der Strömung des Flusses und trieb schnell hinab.

»Guest's Haus ragt hoch aus dem Wasser hervor«, sagte Gretchen. »Vielleicht ist Lucie da.«

Weiter wurde nichts gesprochen; eine neue Gefahr trieb der Fluß auf sie los. Auf einer Werft war eben ein hölzernes Krahnwerk losgegangen und mächtige Trümmer wälzten sich stromab. Die Sonne stieg herauf, und in schrecklicher Klarheit breitete sich rings die Wasserwüste – in schrecklicher Klarheit trieben die drohenden Trümmer reißend schnell auf sie los. Aus einem Boot, das sich an den Häusern entlang arbeitete, bemerkte man die Gefahr der beiden Geschwister und rief ihnen zu, sie sollten sich aus der Strömung fortmachen.

Aber das ging nicht so rasch, und Tom sah den Tod auf sie einstürzen. Riesige Trümmer, zu schrecklicher Gemeinschaft verschlungen, streckten sich quer über die Strömung.

»Gretchen, es kommt!« sagte Tom mit tiefer heiserer Stimme, und dabei ließ er die Ruder los und umschlang die Schwester.

Im nächsten Augenblicke sah man das Boot nicht mehr auf dem Wasser – und in scheußlichem Triumph wälzten sich die Trümmer darüber hin.

Bald tauchte der Kiel des Boots wieder auf – ein schwarzer Punkt auf der goldigen Fläche.

Das Boot kam wieder – aber Bruder und Schwester waren hinab in unzertrennlicher Umarmung; in einem letzten Augenblicke hatten sie wieder die Tage durchlebt, wo sie ihre Kinderhände liebend in einander verschlangen und die blumenbesäten Felder durchstreiften.


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