Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dritter Abschnitt.
Vertrauliche Mittheilungen

Als Gretchen den Abend in ihr Schlafzimmer ging, fühlte sie durchaus keine Neigung, sich zu entkleiden. Sie setzte das Licht auf den ersten besten Tisch und ging in dem großen Zimmer mit festem, regelmäßigen, etwas raschen Schritte auf und ab, daß man sah, es sei ihre Gewohnheit, bei starker Aufregung sich Bewegung zu machen. Augen und Gesicht glänzten fast fieberhaft; den Kopf hatte sie zurück geworfen, die Hände hielt sie mit den Flächen nach auswärts verschlungen und ihre Arme waren angespannt, wie sie wohl zu sein pflegen, wenn man in Gedanken verloren ist.

War denn was besonderes vorgefallen?

Nicht das geringste, was nicht jeder für höchst unbedeutend halten würde. Sie hatte schöne Musik von einer schönen Baßstimme gehört, hatte bemerkt, daß ein Paar Augen unter scharfgezeichneten graden Augenbrauen hervor sie sehr oft und sehr verstohlen mit einem Blick angesehen hatten, in welchem die Schwingungen des Gesanges nachzuzittern schienen. Auf eine wohlerzogene junge Dame mit vollkommen harmonischer Stimmung, die alle Vortheile des Glücks, der Erziehung und der guten Gesellschaft genossen hatte, würde so etwas gar keinen merklichen Eindruck gemacht haben. Aber wenn Gretchen so eine junge Dame gewesen wäre, wüßten wir wahrscheinlich nichts von ihr; ihr Leben wäre dann so gleichmäßig verflossen, daß sich's kaum schreiben ließe, denn die glücklichsten Frauen wie die glücklichsten Nationen haben keine Geschichte.

Das arme Gretchen kam eben erst aus einem kleinen Mädcheninstitut mit all seinen Mißtönen und seinem kleinlichen Einerlei, und bei ihrer hochgespannten, hungrigen Natur hatten diese scheinbar nichtssagenden Ursachen die Wirkung, ihre Einbildungskraft in einer Weise zu wecken und aufzustacheln, die sie selbst nicht begriff. Sie dachte nicht etwa bestimmt an Stephan oder verweilte bei den Andeutungen, daß er sie mit Bewunderung angesehen habe; sie fühlte vielmehr die Nähe einer Welt voll Liebe und Schönheit und Glück, in der die unbestimmten Bilder aus aller Poesie und Romantik, die sie in Büchern gefunden oder in ihren Träumereien ausgesonnen hatte, sich verwirklichten. Einige Male blickte sie im Geist auf die Zeit zurück, wo sie die Philosophie der Entbehrung getrieben und geglaubt hatte, alles Sehnen, alle Ungeduld sei überwunden, aber dieser Seelenzustand schien unwiederbringlich dahin und sie bebte vor der bloßen Erinnerung daran zurück. Jetzt konnte kein Gebet, kein Ringen, kein Mühen ihr jenen negativen Frieden wiederbringen; der Kampf des Lebens sollte für sie nicht so kurz und leicht durch vollständige Entsagung auf der Schwelle der Jugend entschieden werden. Die Musik zitterte noch in ihr nach, und sie konnte nicht verweilen bei der Erinnerung an jene öde, einsame Vergangenheit. Schon war sie wieder in ihrer lichten luftigen Welt, als leise an die Thür geklopft wurde; natürlich war es ihre Cousine, die in einem faltigen, weißen Nachtkleide hereintrat.

»Ei, Gretchen, Du unartiges Kind, hast Dich noch nicht ausgezogen?« sagte Lucie erstaunt. »Ich hatte Dir versprochen, ich wollte Dich nicht stören, weil ich glaubte, Du wärst müde. Aber Du bist ja noch grade wie vorher und siehst aus, als könnt'st Du eben auf 'nen Ball gehen. Nun, mach' rasch, zieh' Dein Nachtkleid an und mach' Dir's Haar los.«

»Nun, Du bist auch noch nicht sehr weit«, entgegnete Gretchen, indem sie eilig ihren Nachtrock von rosa Kattun zur Hand nahm und Luciens hellbraunes Haar ansah, welches in lockiger Unordnung nach hinten gekämmt war.

»O, ich bin bald fertig. Ich setze mich zu Dir und plaudere, bis Du mir unter den Händen einschläfst.«

Während Gretchen dastand und sich das lange schwarze Haar losmachte, setzte sich Lucie neben den Toilettentisch und beobachtete sie mit zärtlichem Blick, den Kopf ein wenig seitwärts geneigt, wie ein hübsches Wachtelhündchen.

»Du hast doch wirklich heut Abend Deine Freude gehabt an der Musik, nicht wahr, Gretchen?«

»Ja, große Freude, und darum bin ich jetzt nicht schläfrig. Ich glaube, wenn ich immer Musik hören könnte, würde ich keine andern Bedürfnisse haben; es ist mir immer, als gäbe die Musik meinen Gliedern Kraft und meinem Gehirn Gedanken. Das Leben scheint mir so leicht, wenn ich voll Musik bin. Zu andern Zeiten fühlt man seine Last.«

»Und Stephan hat 'ne prächtige Stimme, nicht wahr?«

»Nun, darüber sind wir beide wohl nicht Richter«, sagte Gretchen lachend, indem sie sich setzte und ihr langes Haar zurückwarf; »Du bist zu sehr Partei, und ich finde jede Drehorgel herrlich.«

»Aber, sag mir, was Du von ihm denkst – sag mir alles ganz genau, gutes und böses.«

»Ich glaube, Du müßtest ihn ein bischen mehr ducken; für einen Geliebten hat er zu viel Selbstvertrauen. Er müßte mehr Furcht und Respekt haben und vor Dir zittern.«

»Unsinn, Gretchen! als wenn einer vor mir zittern könnte! Du hältst ihn für eingebildet – ja ja, das seh' ich. Aber er mißfällt Dir doch nicht?«

»Mißfallen! Nein. Bin ich denn mit liebenswürdigen Leuten so verwöhnt, daß ich so sehr schwer zu befriedigen wäre? und zudem, wie sollte mir einer mißfallen, der Dich glücklich zu machen verspricht, Du liebes Ding!« – und dabei kniff sie Lucie in ihr reizendes Grübchenkinn.

»Morgen Abend machen wir wieder Musik«, sagte Lucie, und die Freude lachte ihr aus den Augen; »Stephan bringt Philipp mit.«

»O Lucie, ich kann ihn nicht sehen«, rief Gretchen erblassend. »Wenigstens müßte ich erst Tom's Erlaubniß haben.«

»Ist Tom so'n Tyrann?« fragte Lucie überrascht. »Dann übernehme ich die Verantwortung; sag ihm, es sei meine Schuld.«

»Aber, liebste«, stammelte Gretchen, »ich habe Tom feierlich gelobt, – schon vor Vaters Tode – ich wollte ohne sein Wissen und Willen nie mit Philipp sprechen. Und ich ängstige mich recht, wieder mit ihm davon anzufangen; ich bin bange, wir erzürnen uns wieder.«

»Aber so was verrücktes ist mir noch nicht vorgekommen! Was hat denn der arme Philipp nur verbrochen?! Darf ich nicht mit Tom davon sprechen?«

»O nein, auf keinen Fall«, antwortete Gretchen; »ich will selbst morgen zu ihm und ihm sagen, daß Du Philipp einladen möchtest. Ich hab' ihn immer schon bitten wollen, mich meines Versprechens zu entbinden, aber ich konnte nie so recht Muth dazu fassen.«

Einige Augenblicke schwiegen beide, dann sagte Lucie:

»Gretchen, Du hast Geheimnisse vor mir und ich sage Dir alles.«

Gretchen sah weg und überlegte; dann wandte sie sich zu Lucie und sagte: »ich möchte Dir alles von Philipp erzählen, aber Du darfst es Dir gegen niemand merken lassen, daß Du davon weißt, am allerwenigsten gegen Philipp selbst oder gegen Stephan.«

Die Erzählung dauerte lange, denn Gretchen hatte bisher noch nicht erfahren, welch eine Herzenserleichterung in solcher Mittheilung liegt; bisher hatte sie Lucien noch nichts von ihrem innern Leben mitgetheilt, und das süße Gesicht, welches sich mit herzlichem Antheil zu ihr neigte, und die liebe kleine Hand, welche die ihre drückte, ermuthigten sie, alles zu sagen. Nur in zwei Punkten war sie etwas zurückhaltend. Die schweren Beleidigungen, mit denen Tom Philipp überhäuft hatte – sie hatte diese schwere Sünde immer noch nicht vergeben – deutete sie nur an; so sehr die Erinnerung sie quälte, so konnte sie doch sowohl um Tom's als Philipp's willen den Gedanken nicht ertragen, daß ein anderer es erführe. Und eben so wenig konnte sie's über sich gewinnen, von dem letzten Vorfall zwischen ihrem Vater und Wakem zu erzählen, obschon derselbe als ein weiteres schweres Hinderniß ihrer Vereinigung mit Philipp für die Erzählung von Bedeutung war. Sie sagte nur, daß Tom im ganzen doch Recht habe, wenn er jede Aussicht auf eine Heirath mit Philipp wegen der beiderseitigen Familienverhältnisse für unmöglich erkläre; denn natürlich würde Philipp's Vater nie einwilligen.

»Da hast Du meine Geschichte, Lucie«, schloß Gretchen unter Thränen lächelnd. »Du siehst, es geht mir wie Junker Andreas Bleichenwang: ›ich wurde auch mal angebetet.‹«

»Aha, jetzt begreif' ich, wie's zugeht, daß Du Shakespeare kennst und alles und seit der Schule so viel zugelernt hast; früher hielt ich das immer für Hexerei, wie Du überhaupt eine Zauberin bist.«

Dabei sah die kleine Lucie nachdenklich vor sich hin und meinte: »es ist so hübsch, daß Du Philipp liebst; ich hätte nie geglaubt, daß ihm solches Glück blühe. Und nach meiner Meinung brauchst Du ihn durchaus nicht aufzugeben. Es sind wohl Hindernisse da, aber mit der Zeit lassen sich die überwinden.«

Gretchen schüttelte den Kopf.

»Ja ja«, fuhr Lucie tapfer fort, »ich gebe die Hoffnung nicht auf. Es ist was romantisches drin, so was ungewöhnliches, grad' wie es bei Dir sein muß. Und Philipp wird Dich vergöttern wie ein Ehemann in einem Märchen. O, ich werde meinen kleinen dummen Kopf schon anstrengen und mir einen Plan aushecken, daß alles hübsch in Ordnung kommt und daß Du Philipp heirathest, wenn ich – jemand anders heirathe. Wär' das nicht ein hübsches Ende für alle Trübsal meines armen, armen Gretchens?«

Gretchen versuchte zu lächeln, aber sie bebte wie vor plötzlicher Kälte.

»Dich friert, liebes Kind«, sagte Lucie. »Du mußt zu Bett und ich auch. Ich mag garnicht dran denken, wie spät es ist.«

Sie küßten einander und Lucie ging fort, um ein Geständniß reicher, welches auf ihre späteren Eindrücke von großem Einfluß war. Gretchen war durchaus aufrichtig gewesen, wie sie es ihrer Natur nach nicht anders sein konnte. Aber vertrauliche Geständnisse haben bisweilen etwas blendendes, auch wenn sie ganz aufrichtig sind.


 << zurück weiter >>