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Fünftes Buch.
Weizen und Wicken

Erster Abschnitt.
Im rothen Grunde

Die gewöhnliche Wohnstube der Tulliver'schen Familie war ein langes Zimmer mit einem Fenster an jedem Ende; das eine ging auf den Garten am Hause und den Rieselbach entlang auf die Ufer des Floß, das andre nach dem Mühlenhofe. Gretchen saß mit ihrer Arbeit an dem letzten Fenster, als sie Wakem auf den Hof kommen sah; wie gewöhnlich ritt er sein schönes schwarzes Pferd, aber er war nicht wie gewöhnlich allein, jemand war bei ihm, jemand in einem Reitmantel, auf einem hübschen Pony. Gretchen hatte kaum Zeit zu bemerken, es sei Philipp, als sie auch schon an dem Fenster vorbei ritten und er den Hut vor ihr abnahm, während sein Vater, der diese Bewegung durch einen Seitenblick bemerkte, sich scharf nach ihnen beiden umsah.

Sofort eilte Gretchen von dem Fenster weg und ging mit ihrer Arbeit nach oben. Denn Wakem kam bisweilen herein und sah die Bücher nach, und Gretchen fühlte, in Gegenwart der beiden Väter würde das Wiedersehen mit Philipp durchaus kein Vergnügen sein. Sie träfen sich wohl mal wieder, meinte sie; dann könnten sie sich die Hand geben, und sie würde ihm sagen, daß sie sich noch immer erinnere, wie gut er einst gegen Tom gewesen sei und was er ihr in früherer Zeit gesagt habe, wenn sie auch jetzt nicht mehr freundlich gegen einander sein dürften. Es war für Gretchen garnicht aufregend, Philipp wieder zu sehen; sie hatte das kindliche Gefühl von Dankbarkeit und Mitleid gegen ihn bewahrt und erinnerte sich, wie klug er sei, und in den ersten Wochen ihrer Einsamkeit hatte sie unter den wenigen, die ihr Freundlichkeiten erwiesen, beständig sein Bild sich vor die Seele gerufen und oft gewünscht, ihn zum Bruder und Lehrer zu haben, wie sie sich das als Kinder ausgedacht und besprochen hatten. Aber auch dieser Wunsch war zusammen mit den andern Träumen verbannt, die nach Eigenwillen zu schmecken schienen, und überdies dachte sie, Philipp sei durch das Leben in der Fremde vielleicht ein anderer geworden, sei wohl gar weltlich gesinnt und frage garnichts mehr darnach, ob sie noch mit ihm rede. Und doch hatte sich sein Gesicht auffallend wenig verändert; es war nur ein größerer, mehr männlicher Abdruck des blassen Knabengesichts mit den kleinen Zügen, den grauen Augen und dem knabenhaften braunen Lockenhaar; die alte Verwachsenheit war noch da und weckte das alte Mitleid, und nach allem Ueberlegen fühlte Gretchen, sie möchte doch wirklich ein paar Worte mit ihm reden. Vielleicht war er noch so schwermüthig wie früher und hatte gern, daß man ihn freundlich ansah. Sie war neugierig, ob er sich noch wohl erinnere, wie gern er ihre Augen gehabt habe, und bei dem Gedanken blickte sie nach dem viereckigen Spiegel, der verurtheilt war, mit dem Glase gegen die Wand zu hängen; sie sprang halb vom Stuhle auf, um ihn herunter zu nehmen, aber sie hielt sich zurück, griff wieder nach der Arbeit und suchte die aufsteigenden Wünsche dadurch zu unterdrücken, daß sie sich zwang, Stellen aus geistlichen Liedern leise vor sich hin zu sagen, bis sie endlich Philipp mit seinem Vater draußen fortreiten sah und wieder hinuntergehen konnte.

Es war nun schon tief im Juni, und Gretchen hätte gern den täglichen Spaziergang möglichst weit ausgedehnt, der ihre einzige Erholung war, aber heute und die folgenden Tage gab es soviel nöthige Arbeit, daß sie nicht über den Hof hinauskam und ihr Bedürfniß nach frischer Luft befriedigte, indem sie sich draußen vor die Thür setzte. Wenn sie nicht nach der Stadt gehen mußte, ging sie am häufigsten nach einer Stelle jenseits des sogenannten Hügels, einer unbedeutenden mit Bäumen bewachsenen Erhöhung, welche seitwärts an dem Wege lag, der an der rothen Mühle vorbeiführte. So unbedeutend diese Erhöhung aber auch war, bildete sie doch einen unregelmäßigen Wall von ein paar hundert Schritt Länge links neben der rothen Mühle und den hübschen Feldern dahinter, welche der plätschernde Rieselbach begrenzte. Grade da, wo der kleine Höhenzug sich wieder in die Ebene senkte, ging ein Fußweg ab und führte auf die andere Seite des Hügels, wo dieser in höchst seltsame Löcher und aufgeschüttete Ränder zerklüftet war; in weit entfernter Zeit war dort nämlich ein Steinbruch betrieben worden, – in so entfernter Zeit, daß beide, die Aushöhlungen und die Aufschüttungen, jetzt mit Brombeersträuchern und Gebüsch und hier und da mit etwas Gras überwachsen waren, welches ein paar Schafen Weide bot. In den Tagen der Kindheit hatte sich Gretchen vor dieser Stelle, welche der rothe Grund hieß, sehr gefürchtet und ihres ganzen Vertrauens auf Tom's Tapferkeit bedurft, um einen Ausflug dahin zu wagen; aus jeder Vertiefung stiegen Räuber und wilde Thiere vor ihr auf. Aber jetzt hatte die Stelle für sie den Reiz, den jeder zerklüftete Boden, jede Andeutung von Felsen und Felsspalten für ein Auge hat, welches gewöhnlich auf die Ebene blickt; namentlich im Sommer, wo sie unter dem Schatten einer breit geästelten Esche, die grade aus der steilen Rückwand über ihr hervorsprang, in einer grasbewachsenen Höhlung sitzen und auf das Summen der Insekten – dieser kleinsten Glöckchen am Gewande des Gottes des Schweigens – lauschen konnte, oder das Sonnenlicht durch der fernen Zweige Grün dringen und mit dem Himmelblau der wilden Hyacinthen spielen sah. Im Juni standen auch die wilden Rosen in voller Pracht, und das war ein Grund mehr, warum Gretchen ihre Schritte lieber nach dem rothen Grunde als nach jeder andern Stelle lenkte, sobald sie den ersten freien Tag zum Spazierengehen hatte – ein Vergnügen welches sie so liebte, daß sie bisweilen im Eifer der Entsagung meinte, sie müsse sich die zu häufige Wiederholung versagen.

Da geht sie nun ihren Lieblingsweg hin und biegt durch eine Gruppe Föhren auf einem schmalen Fußweg nach dem Steinbruch; ihre große Gestalt und ihr altes blaßgrünes Kleid sieht man durch einen abgetragenen schwarzseidenen Shawl von durchbrochener Arbeit, und nun sie sich ganz unbeachtet weiß, nimmt sie ihren Hut ab und hängt ihn an den Arm. Wenn wir sie nicht kennten, wir hielten sie gewiß für älter als sechszehn Jahre, sei es wegen der verdrossenen resignirten Wehmuth im Blick, aus dem alles Sehnen und alle Unruhe gewichen scheint, sei es weil die gesetzte Fülle ihrer Gestalt schon etwas frauenhaftes hat. Jugend und Gesundheit haben die unfreiwilligen und freiwilligen Leiden gut überstanden, und die Nächte, die sie zur Buße auf dem harten Fußboden zugebracht hat, haben keine merkliche Spur hinterlassen; ihre Augen sind klar, die braune Wange ist fest und gerundet, die vollen Lippen sind roth. Mit liebendem Blick sieht sie an den hohen Föhren hinauf. Aber indem wir sie ansehen, überkommt uns eine gewisse Unruhe, ein Gefühl, als stritten in ihr feindliche Elemente, zwischen denen bald ein wilder Kampf entbrennen wird; es ist etwas verhaltenes in ihrem Ausdruck, wie man wohl oft auf ältern Gesichtern sieht, an denen uns ein Rest von Jugend überrascht, der jeden Augenblick leidenschaftlich aufflammen kann, um gleich einem halbgedämpften Feuer, das plötzlich wieder ausbricht, den stillen Frieden zu vernichten.

Aber Gretchen selbst war in diesem Augenblicke durchaus nicht unruhig. Sie genoß freudig die frische Luft, während sie an den alten Föhren hinaufblickte und in den geknickten Aesten die Geschichte vergangener Stürme las, welche die röthlichen Stämme nur um so mächtiger in die Höhe getrieben hatten. Aber während ihre Augen noch hinaufsahen, bemerkte sie auf dem Graswege vor sich einen wandelnden Schatten; erschrocken blickte sie nieder und erkannte Philipp Wakem, der seinen Hut abnahm und dann tief erröthend auf sie zutrat und ihr die Hand hinhielt. Auch Gretchen erröthete, erst vor Ueberraschung und dann vor Freude. Sie gab ihm die Hand und blickte auf die verwachsene Gestalt mit unbefangenem Blick, in welchem sich nur die Erinnerung an die Gefühle der Kindheit spiegelte – eine Erinnerung die immer mächtig in ihr war. Sie war die erste, welche sprach.

»Sie haben mich erschreckt«, sagte sie mit mattem Lächeln; »ich begegne sonst niemand hier. Wie kommt es, daß Sie hier spazieren gehen? wollten Sie mich treffen?«

Es war klar, Gretchen fühlte sich wieder als Kind.

»Ja wohl«, sagte Philipp, noch immer verlegen; »ich wollte Sie sehr gern sprechen. Ich habe gestern lange bei Ihrem Hause gewartet, ob Sie nicht ausgingen, aber Sie kamen nicht. Heute hab' ich wieder gewartet, und als ich sah, welchen Weg Sie einschlugen, behielt ich Sie im Auge und bin da hinten am Hügel herumgekommen. Sie sind mir doch hoffentlich darum nicht böse?«

»Nein«, antwortete Gretchen treuherzig und ging weiter, als rechnete sie darauf, Philipp werde sie begleiten, »ich freue mich recht, daß Sie gekommen sind; mich hat so sehr nach einer Gelegenheit verlangt, mit Ihnen zu sprechen. Ich habe nie vergessen, wie gut Sie damals gegen Tom waren und gegen mich auch, aber ich war nicht ganz sicher, ob Sie sich auch noch an uns erinnerten. Tom und ich, wir haben viel Trübsal seitdem erlebt und ich glaube, dann erinnert man sich öfter an die frühere Zeit vor dem Unglück.«

»Ich glaube doch nicht, daß Sie so viel an mich gedacht haben, wie ich an Sie«, sagte Philipp schüchtern. »Wissen Sie, als ich fort war, habe ich ein Bild von Ihnen gezeichnet, wie Sie den Morgen im Arbeitszimmer aussahen, als Sie sagten, Sie würden mich nicht vergessen.«

Dabei holte Philipp ein kleines Etui aus der Tasche und öffnete es. Gretchen sah sich als Kind, sie lehnte an einen Tisch, ihr schwarzes Haar hing hinterm Ohre zurück, mit wundersamen träumerischen Augen blickte sie in's Leere. Es war eine Skizze in Wasserfarben und als Portrait von wirklichem Verdienst.

»Nein wahrhaftig«, rief Gretchen vor Freude ganz aufgeregt, »was war ich doch für ein komisches kleines Mädchen! Ich erinnere mich noch recht gut, daß ich so aussah und mein Haar so trug und das rothe Kleid anhatte. Ich hatte doch wirklich was vom Zigeuner. Und ich fürchte beinahe, ich hab' noch was davon«, fügte sie nach kurzem Schweigen hinzu; »seh' ich so aus wie Sie erwarteten?«

Diese Frage hätte man für Coquetterie halten können, aber der volle strahlende Blick, den Gretchen auf Philipp wandte, war nicht der einer Coquette. Freilich hoffte sie sehr, er habe ihr Gesicht gern, aber es war doch nur das Wiederaufleben ihrer angeborenen Freude an Bewunderung und Liebe. Philipp begegnete ihrem Blick und sah sie lange schweigend an, ehe er ruhig sagte: »Nein, Gretchen.«

Aus Gretchens Antlitz wich das Licht und ihre Lippe bebte ein wenig. Sie senkte die Augen, aber wandte den Kopf nicht weg, und Philipp fuhr fort sie anzusehen. Dann sagte er langsam:

»Sie sind viel, viel schöner als ich glaubte.«

»Wirklich?!« sagte Gretchen, und die Freude kehrte wieder auf ihr Gesicht und es röthete sich tiefer. Sie wandte sich von Philipp ab und ging einige Schritte, indem sie schweigend vor sich hinblickte, als wollte sie sich im Geiste mit diesem neuen Gedanken befreunden. Mädchen sind so dran gewöhnt, den Hauptgrund zur Eitelkeit in Kleidern zu sehen, daß Gretchen auf den Gebrauch des Spiegels nur deshalb verzichtet hatte, weil sie nach äußerm Schmuck nichts fragte, aber nicht um auf das Vergnügen zu verzichten, ihr eigenes Gesicht zu sehen. Wenn sie sich mit eleganten vornehmen jungen Damen verglich, so war ihr nicht in den Sinn gekommen, daß sie selbst mit ihrem Gesicht und ihrer Gestalt den geringsten Eindruck machen könnte. Philipp schien dies Schweigen zu lieben. Er ging neben ihr her und sah ihr in's Gesicht, als ließe ihm dieser Anblick für andere Wünsche keinen Raum. Sie waren nun aus den Föhren herausgetreten und standen an einer grünen Vertiefung, die fast ganz von einem Amphitheater blaßrother wilder Rosen eingeschlossen war. Aber wie das Licht um sie her heller geworden war, so hatte Gretchens Gesicht seinen Glanz verloren. Sie stand still, sah wieder Philipp an und sagte mit ernster wehmüthiger Stimme:

»Ich wollte, wir könnten Freunde sein – ich meine, wenn es recht und gut für uns wäre. Aber das ist mein Loos, was ich zu tragen habe: ich darf nichts behalten, was ich liebte, als ich noch klein war. Die alten Bücher sind fort, und Tom ist ganz anders geworden, und mein Vater auch. Ach, 's ist wie der Tod! Ich muß mich von allem lassen, was mir als Kind lieb war. Und auch von Ihnen muß ich mich trennen; wir dürfen nichts mehr von einander wissen. Darum wollte ich Sie gern sprechen. Ich wollte Ihnen sagen, daß Tom und ich in dieser Beziehung nicht thun können was wir wollen, und wenn ich mich gegen Sie benehme als hätte ich Sie ganz und gar vergessen, so geschieht's nicht aus Neid oder Stolz, oder aus Uebelwollen.«

Immer kummervoller und sanfter hatte Gretchen gesprochen, und ihre Augen schwammen in Thränen. Philipp's Gesicht trug den alten schmerzlichen Ausdruck; er sah wieder ganz aus wie als Knabe, und seine traurige Gestalt rührte Gretchens Mitleid.

»Ich weiß schon, ich sehe alles was Sie sagen wollen«, erwiderte er mit einer Stimme, die vor Niedergeschlagenheit matt war, »ich weiß schon, was uns getrennt hält. Aber 's ist nicht recht, Gretchen – sein Sie mir nicht böse; ich bin so dran gewöhnt, Sie in meinen Gedanken Gretchen zu nennen – es ist nicht recht, den unverständigen Launen anderer alles zu opfern. Ich würde für meinen Vater auf vieles verzichten, aber meine Freundschaft oder – oder sonst eine Neigung gebe ich ihm zu Liebe nicht auf, wenn ich den Wunsch nicht als recht anerkenne.«

»Ich weiß doch nicht«, sagte Gretchen nachdenklich. »Oft wenn ich ärgerlich und unzufrieden gewesen bin, habe ich mir gedacht, ich sei nicht verpflichtet irgend etwas aufzugeben, und in diesen Gedanken bin ich immer weiter hineingerathen, bis mir schien, ich könnte meine ganze Pflicht wegraisonniren. Aber daraus ist nichts gutes gekommen; es war immer ein böser Seelenzustand. Und nun bin ich überzeugt, was ich auch thun mag, ich werde schließlich immer wünschen, daß ich lieber für mich auf alles verzichtet hätte, als meinem Vater das Leben zu erschweren.«

»Aber würde es ihm denn das Leben erschweren, wenn wir uns bisweilen sähen?« fragte Philipp. Er wollte etwas anderes sagen, hielt sich aber zurück.

»O, er sähe es gewiß nicht gern. Fragen Sie mich nicht warum oder sonst etwas näheres«, sagte Gretchen mit tiefer Betrübniß. »Gewisse Dinge gehen meinem Vater gleich an's Herz. Er ist so unglücklich.«

»Das bin ich auch«, sagte Philipp stürmisch, »ich bin auch recht unglücklich.«

»Warum denn?« fragte Gretchen sanft. »Ich sollte zwar nicht fragen, aber's thut mir recht, recht leid.«

Philipp wandte sich um weiter zu gehen, als hätte er keine Geduld, länger stehen zu bleiben, und sie traten wieder aus der Vertiefung heraus und gingen schweigend durch's Gebüsch. Nach dem was Philipp zuletzt gesagt hatte, war es Gretchen unmöglich, auf einem sofortigen Abschied zu bestehen.

»Ich fühle mich viel glücklicher«, sagte sie endlich schüchtern, »seit ich jeden Gedanken an die Annehmlichkeiten und Freuden des Lebens aufgegeben habe und nicht mehr unzufrieden bin, daß ich meinen Willen nicht bekomme. Ein höherer Wille lenkt unser Leben, und es macht die Seele frei, wenn wir das Wünschen aufgeben und nur daran denken, das zu ertragen, was uns auferlegt wird, und zu thun was wir thun müssen.«

»Aber ich kann das Wünschen nicht aufgeben«, sagte Philipp ungeduldig. »Mir scheint, wir können das Verlangen und Wünschen nicht aufgeben, so lange wir noch Athem haben. Es giebt gewisse Dinge, bei denen wir fühlen, sie sind schön und gut, und uns muß nach ihnen verlangen. Wie könnten wir je ohne sie glücklich sein, so lange unsre Empfindungen nicht erstorben sind? Ich habe Freude an schönen Gemälden, und mich verlangt danach, ich möchte auch so malen können. Ich gebe mir Mühe und Mühe und kann doch nicht leisten was ich möchte. Das macht mir Schmerz und wird immer mein Schmerz bleiben, bis meine Fähigkeiten ihre Schärfe verlieren, wie die Augen im Alter. Und dann giebt es noch manches andere, wonach ich mich sehne«, hier stockte Philipp ein wenig und sagte dann – »manches, was andre Leute haben und was mir immer versagt bleiben wird. Mein Leben wird nichts Großes oder Schönes haben; ich wollte lieber, ich hätte garnicht gelebt.«

»O Philipp«, rief Gretchen, »so müssen Sie nicht fühlen«. Aber in ihrem Herzen begann sich etwas von Philipp's Unzufriedenheit zu regen.

»Nun denn«, erwiderte er, indem er sich rasch umwandte und mit seinen grauen Augen ihr flehend in's Gesicht sah, »ich würde gern leben, wenn ich Sie bisweilen sprechen könnte«. Dann hielt er inne aus Furcht über etwas, was er in ihrem Gesicht zu lesen glaubte, blickte wieder seitwärts und sagte ruhiger: »ich habe keinen Freund, gegen den ich mich so recht aussprechen könnte, keinen, der mich lieb genug hätte, und wenn ich Sie nur ab und zu sehen könnte und mit Ihnen sprechen dürfte, und Sie mir bewiesen, daß Sie sich etwas aus mir machen, und daß wir im Herzen immer Freunde bleiben können und einander helfen, dann würde ich mich vielleicht wieder des Lebens freuen.«

»Aber wie kann ich Sie sehen, Philipp?« stotterte Gretchen heraus. Der Gedanke ging ihr durch den Kopf, ob sie ihm denn wirklich gut thun könnte. Es wäre doch sehr hart, ihm heute Lebewohl zu sagen und ihn nachher nie wieder zu sehen. Ein neues Interesse trat an sie heran, welches Abwechselung in ihr Leben zu bringen versprach, und es schien ihr so viel leichter, es von vorn herein abzuweisen.

»Wenn ich Sie hier bisweilen treffen und mit Ihnen spazieren gehen könnte, dann wäre ich zufrieden, und wenn es nur ein- oder zweimal im Monat wäre. Das könnte doch niemanden kränken, und mir würde es das Leben versüßen. Ueberdies«, fuhr er mit der ganzen erfindungsreichen List einer jungen Liebe fort, »wenn zwischen unsern Angehörigen Feindschaft besteht, so sollten wir um so mehr versuchen, sie durch unsre Freundschaft zu überwinden – ich meine, durch unsern Einfluß auf beiden Seiten könnten wir vielleicht die Wunden der Vergangenheit heilen helfen, wenn ich nur erst genau wüßte, wie's damit steht. Ich glaube nicht, daß mein Vater feindselig gesinnt ist; ich dächte doch, er hätte das Gegentheil bewiesen.«

Gretchen schüttelte langsam den Kopf und schwieg vor dem Widerstreit ihrer Empfindungen. Philipp dann und wann zu sehen und die Freundschaft mit ihm zu erhalten, schien ihrer Neigung nicht blos etwas unschuldiges, sondern etwas gutes zu sein; vielleicht konnte sie ihm wirklich helfen, Frieden zu finden, wie sie ihn selbst gefunden hatte. Die Stimme in ihrem Innern, die das sagte, klang wie süße Musik, aber in diese hinein tönte eine dringende einförmige Warnung von einer andern Stimme, der sie zu gehorchen gelernt hatte, – die Warnung, daß solche Zusammenkünfte geheim sein müßten, daß sie dabei etwas thue, vor dessen Entdeckung sie sich fürchte und dessen Entdeckung Kummer und Schmerz bringe, und endlich, daß die Einwilligung in eine Handlungsweise, die so nahe an Zweideutigkeit grenze, ihr Seelenheil gefährde. Aber die süße Musik drang immer wieder vor, wie fernes Glockengeläute, wenn der Wind sich wieder erhebt, und redete ihr zu, das Unrecht liege blos in den Fehlern und Schwächen anderer, und man könne sich auch für den einen unnütz opfern und den andern dabei kränken. Es war doch sehr hart für Philipp, daß sie sich aus ungerechtfertigter Rachsucht gegen seinen Vater von ihm zurückziehen solle – für den armen Philipp, den die meisten Leute gewiß schon deshalb vermieden, weil er verwachsen war. Der Gedanke, daß er sich in sie verlieben und ihre Zusammenkünfte mit ihm aus dieser Rücksicht getadelt werden könnten, war ihr nicht in den Sinn gekommen, das sah ihr Philipp deutlich genug an, sah es mit einem gewissen Schmerz, obschon ihre Einwilligung in seine Bitte dadurch weniger unwahrscheinlich wurde. Es war ihm ein bittres Gefühl, daß Gretchen fast so offen und unbefangen gegen ihn war, wie früher als Kind.

»Ich kann weder ja noch nein dazu sagen«, erwiderte sie endlich, indem sie umkehrte und wieder die Richtung einschlug, in der sie gekommen war; »ich muß warten, sonst könnte ich Unrecht thun, ich muß auf Weisung von oben warten.«

»Darf ich denn wiederkommen – morgen oder übermorgen, oder die nächste Woche?«

»Am besten ist's wohl, ich schreibe«, stotterte Gretchen wieder. »Ich muß bisweilen nach der Stadt, und kann den Brief auf die Post geben.«

»O nein«, sagte Philipp eifrig, »das geht nicht gut; mein Vater könnte den Brief sehen, und wenn er auch keine Feindschaft hegt, sieht er die Dinge doch anders an als ich; er hält viel auf Rang und Reichthum. Bitte, lassen Sie uns hier noch einmal zusammen kommen. Sagen Sie mir wann, oder wenn Sie's nicht sagen können, dann will ich so oft wie möglich herkommen, bis ich Sie treffe.«

»So mag's denn sein«, erwiderte Gretchen, »denn ich kann nicht bestimmt vorhersagen, welchen Nachmittag ich herkomme.«

Durch diese Vertagung der Entscheidung fühlte sich Gretchen sehr erleichtert. Sie konnte nun die Minuten ihres jetzigen Zusammenseins frei genießen; es schien ihr beinahe, sie dürfe etwas länger bleiben; das nächste Mal mußte sie ja Philipp den Schmerz bereiten, ihm ihren Entschluß mitzutheilen. Nach kurzem Stillschweigen sah sie ihn lächelnd an und sagte:

»Ich kann garnicht darüber wegkommen, wie seltsam es ist, daß wir uns hier so treffen und mit einander sprechen, als hätten wir uns erst gestern bei Pastor Stelling getrennt, und doch müssen wir uns beide in diesen fünf Jahren sehr verändert haben – so lange ist's ja wohl schon her. Wie kam es denn, daß Sie so gewiß waren, denn das schienen Sie zu sein, ich sei noch dasselbe Gretchen? Ich war nicht so gewiß, daß Sie noch derselbe wären; Sie sind ja so klug und müssen so viel neues gesehen und zugelernt haben; ich war nicht ganz sicher, daß Sie sich noch was aus mir machten.«

»Ich habe nie daran gezweifelt, daß Sie dieselbe sein würden, wann ich Sie auch wiedersähe«, erwiderte Philipp, – »ich meine dieselbe in allen Dingen, weshalb ich Sie lieber leiden mag als alle andern. Ich will das nicht weiter erklären, ich glaube überhaupt nicht, daß manche von den stärksten Einflüssen, für welche die Menschennatur empfänglich ist, sich erklären lassen. Wir können weder entdecken, wie sie entstehen, noch uns die Art erklären, wie sie auf uns wirken. Der größte Maler hat nur einmal ein geheimnißvoll göttliches Kind gemalt; schwerlich hätte er sagen können, wie er das gemacht, und ebenso wenig können wir sagen, warum wir das Gefühl des Göttlichen dabei haben. Ich glaube, es liegt soviel in der menschlichen Natur verborgen, daß unser Begreifen es nicht zu zählen vermag. Es giebt Melodien, die so wunderbar auf mich wirken; ich höre sie nie, ohne daß sie meine ganze Stimmung für den Augenblick verändern, und wenn die Wirkung dauernd wäre, ich könnte zum Helden werden.«

»O, mit der Musik, das verstehe ich, das fühle ich auch«, sagte Gretchen und schlug ganz in ihrer alten ungestümen Weise die Hände zusammen. »Wenigstens«, fügte sie traurig hinzu, »hab' ich es gefühlt, als ich noch Musik hörte; jetzt hör' ich blos noch die Orgel in der Kirche.«

»Und Sie sehnen sich nach Musik, Gretchen?« sagte Philipp und sah sie mit zärtlichem Mitleid an. »Ach, Sie haben gewiß nicht viel schönes auf der Welt. Haben Sie denn viel Bücher? Sie hatten sie so gern, als Sie noch klein waren.«

Sie waren nun wieder an der Vertiefung, um welche rings herum die wilden Rosen blühten, und sie standen beide still in dem Zauber der feenhaften Abendbeleuchtung, die auf den blaßrothen Blüthentrauben wiederglänzte.

»Nein, die Bücher hab' ich aufgegeben«, sagte Gretchen ruhig, »ausgenommen einige sehr wenige.«

Philipp hatte inzwischen aus seiner Tasche ein kleines Buch hervorgeholt und sagte, indem er den Titel ansah:

»Ah, es ist der zweite Band, wie ich sehe, sonst hätten Sie ihn gern mit nach Hause nehmen können. Ich steckte ihn in die Tasche, weil ich eine Scene studire, zu der ich ein Bild malen will.«

Auch Gretchen hatte sich den Titel angesehen; der Anblick weckte eine alte Erinnerung mit überwältigender Kraft in ihr auf.

»Der Pirat!« sagte sie, und nahm Philipp das Buch aus der Hand. »O, das hab' ich mal angefangen; ich habe bis dahin gelesen, wo Minna mit Cleveland spazieren geht, und ich konnte nie dazu kommen, es auszulesen. In Gedanken hab' ich die Geschichte zu Ende geführt, bald so, bald so, aber sie schloß immer unglücklich. Zu dem Anfang konnt' ich nie ein glückliches Ende finden. Die arme Minna! Ich möchte doch wohl wissen, wie das wirkliche Ende ist. Lange Zeit konnte ich in meinen Gedanken garnicht von den Shetland-Inseln weg, ich glaubte den Wind zu fühlen, der mich von der wilden See her anwehte«. Gretchen sprach rasch und ihre Augen glänzten.

»Nehmen Sie den Band mit nach Hause«, sagte Philipp, der sie mit Entzücken beobachtete. »Ich brauche ihn jetzt nicht. Ich will lieber ein Bild von Ihnen machen, mit dieser Umgebung hier, den hohen Föhren und den schräg einfallenden Lichtern.«

Gretchen hatte kein Wort gehört, was er sagte; sie war ganz versunken in die Stelle des Buches, die sie grade aufgeschlagen hatte. Aber plötzlich machte sie das Buch zu und gab es Philipp zurück, indem sie den Kopf schüttelte, als riefe sie einem Geiste zu: hebe Dich weg von mir.

»Nehmen Sie's doch mit, Gretchen«, bat Philipp; »es macht Ihnen gewiß Vergnügen.«

»Nein, ich danke«, erwiderte Gretchen, wehrte ihn mit der Hand ab und ging weiter. »Vielleicht gewänne ich dann die Welt wieder so lieb wie früher, und sehnte mich wieder, viel zu sehen und zu wissen – sehnte mich vielleicht wieder nach einem vollen ganzen Leben.«

»Aber Sie werden doch nicht immer so eingeengt sein in der Welt, wie jetzt; warum wollen Sie denn Ihren Geist so darben lassen? Es ist engherzige Selbstkasteiung, und ich sehe es nicht gern, Gretchen, daß Sie dabei beharren. Poesie und Kunst und Wissenschaft sind heilig und rein.«

»Aber nicht für mich, nicht für mich«, sagte Gretchen und beschleunigte ihre Schritte. »Ich würde zu viel verlangen; ich muß warten; dieses Leben wird ja nicht ewig dauern.«

»Eilen Sie doch nicht so von mir ohne ein freundliches Adieu, Gretchen«, sagte Philipp, als sie wieder in den Föhren waren und sie immer noch schweigend weiter ging. »Weiter darf ich doch nicht mitgehen, oder darf ich?«

»O nein, ich hatt' es ganz vergessen; adieu«, sagte Gretchen, indem sie stehen blieb und ihm die Hand reichte. Damit strömte die Freundschaft für Philipp wieder in ihr Herz zurück, und nachdem sie einige Augenblicke mit verschlungenen Händen einander schweigend angesehen hatten, sagte sie, indem sie die Hand zurückzog:

»Ich bin Ihnen recht dankbar, daß Sie all die Jahre an mich gedacht haben. Es ist so süß, wenn einen die Menschen lieben. Wie wunderbar und schön ist es doch, daß der liebe Gott Ihnen ein Herz gegeben hat, welches sich um ein komisches kleines Mädchen bekümmert, das Sie nur ein paar Wochen gekannt haben. Ich weiß noch recht gut, wie ich Ihnen sagte, ich glaubte, Sie machten sich mehr aus mir als Tom.«

»Ja, Gretchen«, sagte Philipp, beinahe verdrießlich, »Sie hätten mich gewiß nie so lieb, wie Ihren Bruder.«

»Das ist wohl möglich«, war Gretchens einfache Antwort, »aber Sie müssen wissen, die erste Erinnerung, die ich aus meiner Kindheit habe, ist, daß ich mit Tom am Ufer des Floß stand und er mich bei der Hand hielt; vorher ist mir alles dunkel. Aber ich werde Sie nie vergessen – wenn wir auch nicht mit einander verkehren dürfen.«

»Sagen Sie das nicht, Gretchen. Wenn ich das kleine Mädchen fünf Jahre im Gedächtniß hielt, giebt mir das keinen Theil an ihr? Sie dürfen sich nicht so ganz von mir wenden.«

»Nicht, wenn ich frei wäre«, erwiderte Gretchen; »aber das bin ich nicht, ich muß mich fügen«, und nach kurzem Schweigen fügte sie hinzu: »ich wollte Ihnen auch noch sagen, um meinen Bruder kümmern Sie sich weiter nicht, als daß Sie ihn eben grüßen. Er hat mir mal gesagt, ich sollte nicht wieder mit Ihnen sprechen, und er ändert seinen Sinn nicht … Aber die Sonne ist untergegangen, ich bin schon zu lange geblieben. Adieu«, und damit gab sie ihm noch einmal die Hand.

»Ich werde so oft wie möglich herkommen, bis ich Sie wiedersehe, Gretchen. Denken Sie auch ein wenig an mich, so gut wie an andre.«

»Ja, ja, das will ich«, erwiderte Gretchen und eilte fort, und verschwand rasch hinter dem letzten Föhrenbaum; Philipp sah ihr unbeweglich noch lange nach, als wenn er sie noch immer sähe.

Gretchen kam nach Haus, und in ihrem Innern hatte der Streit schon begonnen; Philipp kam nach Haus, ganz erfüllt von Erinnerung und Hoffnung. Wir können kaum umhin, ihn streng zu tadeln. Er war vier oder fünf Jahre älter als Gretchen und wußte klar genug, was er für sie fühlte, um voraussehen zu können, in welchem Lichte die gewünschten Zusammenkünfte jedem Dritten erscheinen müßten. Aber wir dürfen nicht annehmen, er sei einer groben Selbstsucht fähig gewesen oder hätte ruhig sein können, wenn er sich nicht eingeredet hätte, er suche in Gretchens trauriges Leben Freude zu bringen, suche das sogar mehr als seine persönlichen Zwecke. Er konnte ihr Theilnahme, konnte ihr Hülfe geben. Nicht das leiseste Zeichen von Liebe hatte er an ihr bemerkt; es war nur dieselbe süße mädchenhafte Zärtlichkeit gewesen, wie damals, als sie erst zwölf Jahr alt war; vielleicht liebte sie ihn niemals, vielleicht konnte ihn keine Frau jemals lieben; nun, das wollte er ertragen; er hatte dann doch wenigstens das Glück, sie zu sehen, ihr nahe zu sein. Und mit wahrer Leidenschaft hielt er sich an den Gedanken, es sei doch möglich, daß sie ihn noch lieb gewönne; vielleicht würde dieses Gefühl wachsen, wenn sie erst dahin käme, ihn mit der sorgenden Zärtlichkeit zu verbinden, die in ihrer Natur so tief begründet lag. Wenn ihn überhaupt eine Frau lieben könnte, so sei es gewiß Gretchen; sie hatte einen solchen Reichthum an Liebe, und es gab niemand, der auf diesen Reichthum ausschließlich Anspruch hatte. Und dann, wie jammerschade, wenn ein Geist wie der ihrige in der schönsten Jugend verkümmern sollte wie ein Baum des Waldes, weil er nicht soviel Raum und Licht fand, als er zu seinem Gedeihen bedurfte! Ob er das wohl verhindern könne, indem er ihr die freiwillige Entsagung ausrede? Er wollte ihr Schutzengel sein, wollte alles für sie thun, alles ertragen – nur nicht das eine, auf ihren Anblick zu verzichten.


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