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Zweiter Abschnitt.
Erste Eindrücke

»Er ist sehr gescheut, Gretchen!« sagte Lucie. Sie hatte ihre dunkle Cousine in den großen rothsammetnen Lehnstuhl gesetzt und kniete vor ihr auf einer Fußbank. »Er wird Dir gewiß gefallen; ich hoffe, er wird Dir gefallen.«

»Ich werde sehr schwer zu befriedigen sein«, erwiderte Gretchen lächelnd und hielt eine von Luciens langen Locken in die Höhe und ließ das Sonnenlicht darin spielen. »Da er zu glauben scheint, er sei für meine Lucie gut genug, so muß er sich auf eine scharfe Kritik gefaßt machen.«

»Ach, Gretchen, für mich ist er viel zu gut. Und bisweilen, wenn ich allein bin, kommt's mir ganz unmöglich vor, daß er mich wirklich liebt. Aber wenn er bei mir ist, dann zweifle ich wieder garnicht – das darf aber kein andrer wissen, als Du, Gretchen.«

»Nun, dann kannst Du ihn ja aufgeben, wenn er mir nicht gefällt; verlobt seid Ihr ja noch nicht«, sagte Gretchen mit komischer Würde.

»Von verloben will ich nichts wissen. Wenn man verlobt ist, dann geht's gleich an's Heirathen«, antwortete Lucie, die zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt war, um auf Gretchens Scherz zu achten, »und mir wär's am liebsten, wenn wir noch lange so weiter lebten. Bisweilen bin ich ordentlich bange, daß Stephan mal zu mir sagt, er habe mit Papa gesprochen, und aus einer Andeutung, die Papa neulich fallen ließ, weiß ich bestimmt, daß er und der alte Guest so was erwarten. Stephans Schwestern sind jetzt auch ganz freundlich gegen mich. Zu Anfang war's ihnen, glaub' ich, nicht recht, daß er mir den Hof machte, und das war auch ganz natürlich. Es scheint ganz außer der Ordnung, daß ich je in so'nem großen Hause wie Park-Haus wohnen soll – so'n unbedeutendes kleines Ding wie ich bin.«

»Aber man braucht doch nicht in sein Haus so zu passen wie eine Schnecke in ihres«, meinte Gretchen lachend. »Sind denn Stephans Schwestern Riesinnen?«

»O nein, und hübsch sind sie auch nicht – ich meine, nicht so sehr hübsch«, sagte Lucie, und die erste kleine Lieblosigkeit that ihr schon wieder leid. »Aber er ist hübsch – wenigstens gilt er allgemein für sehr hübsch.«

»Obschon Du diese Meinung nicht theilen kannst?«

»O, das weiß ich nicht«, sagte Lucie und wurde über und über roth. »Man soll nie Erwartungen erregen, man wird zu leicht getäuscht. Aber für ihn habe ich eine reizende Ueberraschung vor; ich will ihn gehörig auslachen. Aber Du darfst's noch nicht wissen.«

Lucie stand auf und trat ein wenig zurück, indem sie ihr hübsches Köpfchen auf die Seite neigte, als solle Gretchen für ihr Portrait sitzen und sie wolle nun den allgemeinen Eindruck beurtheilen.

»Steh mal auf, Gretchen.«

»Was ist nun Dein hohes Begehren?« sagte Gretchen mit mattem Lächeln, indem sie aufstand und auf ihre schlanke, luftige Cousine niederblickte, deren Gestalt sich ganz in der tadellosen Umhüllung von Seide und Krepp verlor.

Lucie blieb in ihrer betrachtenden Stellung einige Augenblicke stehen und sagte dann:

»Wenn ich doch nur wüßte, was für 'ne Zauberkraft Du an Dir hast, Gretchen, daß Du in schlechten Kleidern immer am besten aussiehst? Gestern Abend versuchte ich Dich mir in einem hübschen, modischen Kleide zu denken, aber ich mochte mich anstellen wie ich wollte, immer kam das alte dünne Merinokleid wieder und stand Dir am besten. Ich möcht' wohl wissen, ob Marie Antoinette nicht noch herrlicher ausgesehen hat, als ihr Kleid am Ellbogen geflickt war. Wenn ich mal ein schlechtes Kleid anzöge, ich sähe nach gar nichts aus, ich wär' ein reiner Lumpen.«

»O zuverlässig«, erwiderte Gretchen mit spöttischem Ernst. »Es könnte Dir dann passiren, daß man Dich mit Staub und Spinnweben aus der Stube kehrte und daß Du Dich plötzlich in einer Ecke wiederfändest wie Aschenbrödel. Darf ich mich jetzt wieder setzen?«

»Jawohl, jetzt darfst Du's«, antwortete Lucie lachend. Dann machte sie mit einer Miene ernsthafter Ueberlegung ihre große Lava-Brosche los und sagte: »aber Deine Brosche mußt Du mir geben, Gretchen; der kleine Schmetterling steht Dir recht albern.«

»Aber Du störst doch nicht den reizenden Eindruck meines schlechten Aufzuges?« sagte Gretchen und nahm ganz gehorsamst Platz, während Lucie vor ihr hinkniete und den unglücklichen Schmetterling losmachte. »Ich wollte, Mutter dächte wie Du; gestern Abend jammerte sie, daß dies mein bestes Kleid ist. Ich habe all mein Geld gespart, um noch ein paar Stunden nehmen zu können; wenn ich mich nicht mehr ausbilde, bekomme ich keine bessere Stelle« – und dabei seufzte Gretchen leise.

»Nicht wieder den traurigen Blick, Gretchen!« sagte Lucie und steckte ihr die große Brosche unter dem schönen Halse an. »Du vergißt, daß Du nicht mehr in der traurigen Schule bist und keine Kleider für die kleinen Mädchen auszubessern hast.«

»Wohl wahr«, antwortete Gretchen; »aber es geht mir, wie ich's mir neulich bei dem armen, unruhigen Eisbären dachte, den ich in der Menagerie sah. Ich dachte, von dem ewigen Hinundherdrehen in dem engen Käfig müßte er so dumm geworden sein, daß er bei dem Drehen auch bliebe, wenn man ihn in Freiheit setzte. Wer mal unglücklich ist, dem wird es zur schlechten Gewohnheit.«

»Aber ich will Dich in eine solche Zucht von Vergnügen geben, daß Du mir die böse Gewohnheit schon ablegst!« erwiderte Lucie und steckte sich gedankenlos den schwarzen Schmetterling an, während ihre Blicke zärtlich auf Gretchen ruhten.

»Du liebes kleines Ding«, sagte Gretchen mit einem Ausdruck liebevoller Bewunderung; »Du freust Dich so über andrer Leute Glück, ich glaube, Du könntest eigenes entbehren. Ich wollte, ich wäre so wie Du.«

»Das Schicksal hat mich noch nicht auf die Probe gestellt«, antwortete Lucie; »ich bin immer so glücklich gewesen, daß ich garnicht weiß, ob ich viel Trübsal ertragen könnte; bis jetzt hab' ich keine gekannt als Mama's Tod. Du hast was durchgemacht, Gretchen, und Du fühlst gewiß eben so gut für andere wie ich.«

»Nein, Lucie«, sagte Gretchen und schüttelte langsam mit dem Kopf, »ich freue mich nicht über andrer Glück so wie Du, sonst wär' ich zufriedner. Wem es schlecht geht, mit dem hab' ich Mitleid, und unglücklich machen könnt' ich keinen, aber ich muß mich oft selbst hassen, weil ich mich ärgere, wenn ich andre glücklich sehe. Es ist mir bisweilen, als würde ich mit den Jahren schlechter, selbstsüchtiger. Der Gedanke ist mir ganz schrecklich.«

»Höre, Gretchen«, antwortete Lucie abweisend, »davon glaube ich kein Wort. Das ist nur eine düstere Einbildung, blos weil Dein trübes, langweiliges Leben Dich drückt.«

»Gut, Du sollst Recht haben«, sagte Gretchen und scheuchte die Wolken von ihrer Stirn entschlossen mit einem hellen Lächeln fort und lehnte sich behaglich im Stuhl zurück. »Vielleicht kommen solche Gedanken von dem schlechten Essen in der Schule, von dem wässrigen Reispudding ohne Zuthat, und hoffentlich gehen sie von Mutter ihren süßen Speisen und diesem reizenden Album wieder fort« – und dabei griff sie nach einem Skizzenbuch, welches vor ihr auf dem Tisch lag.

»Kann ich mich mit dieser kleinen Brosche sehen lassen?« sagte Lucie und trat vor den Spiegel.

»Nein, Kind, Signor Stephan wird wieder weg gehen müssen, wenn er Dich darin sieht. Steck Dir schnell 'ne andre vor.«

Lucie eilte hinaus, aber Gretchen benutzte die Gelegenheit nicht, das Buch zu öffnen; sie ließ es auf dem Schooße liegen, während ihre Blicke nach dem Fenster wanderten, wo sie den Sonnenschein auf die Fülle der Frühlingsblumen und die lange Lorbeerhecke fallen sah, und darüber hinaus die silberne Fläche des lieben alten Floß, der in der Ferne im Morgenschlummer zu schlafen schien. Vom Garten her kam ein süßer, frischer Duft durch das offene Fenster, und die Vögel hüpften und sprangen, sangen und zwitscherten. Und doch traten Gretchen die Thränen in die Augen. Der Anblick der alten Heimath hatte so schmerzliche Erinnerungen in ihr geweckt, daß sie am Tage vorher über das Wiedersehen mit ihrer Mutter und über Tom's brüderliche Freundlichkeit sich nicht gefreut hatte wie über ein Glück welches sie theilte, sondern nur wie man sich in der Ferne über gute Nachrichten von Hause freut. Erinnerungen und Einbildungskraft hatten ihr das Gefühl der Entbehrung so lebhaft aufgedrängt, daß sie keinen Sinn für das hatte, was ihr der flüchtige Augenblick bot; ihre Zukunft, fürchtete sie, würde noch schlimmer als die Vergangenheit, denn nach Jahren zufriedener Entsagung war sie wieder in Verlangen und Sehnsucht versunken; die freudlosen Tage einer unangenehmen Beschäftigung wurden ihr schwerer und schwerer, und das Bild des vollen, ganzen, reichen Lebens, welches sie herbeisehnte, aber je zu erlangen verzweifelte, drängte sich ihr immer mächtiger auf. Das Geräusch der sich öffnenden Thür erweckte sie aus ihrer Grübelei; schnell trocknete sie sich die Thränen und blätterte in dem Buche.

»Ein Vergnügen hab' ich für Dich, Gretchen, dem all Dein Trübsinn nicht widerstehen soll«, begann Lucie, als sie kaum im Zimmer war. »Ich meine die Musik, und damit will ich Dich fürchterlich traktiren. Du mußt Dein Klavierspielen wieder aufnehmen; als wir zusammen in der Pension waren, spieltest Du viel besser als ich.«

»Du hättest recht gelacht, wenn Du mich den kleinen Mädchen ihre Uebungen hättest vorspielen sehen, blos um die lieben alten Tasten mal wieder zu berühren. Aber ich fürchte, das schwerste was ich jetzt noch kann ist: »Als ich noch im Flügelkleide.«

»Ich erinnre mich noch, wie aufgeregt Du immer warst, wenn die herumziehenden Sänger kamen«, sagte Lucie und nahm ihre Stickerei zur Hand, »und all die alten Lieder, die Du so gern hattest, können wir jetzt wieder hören, wenn ich erst weiß, daß Du über gewisse Dinge etwas anders denkst als Tom.«

»Nun, das könnt'st Du doch auch so wissen, sollt' ich meinen«, antwortete Gretchen lächelnd.

»Ich hätte sagen sollen: über eine gewisse Sache. Denn wenn Du darüber gerade so denkst wie er, dann fehlt uns die dritte Stimme. Es ist hier in der Stadt jämmerlich bestellt mit den Herren, die singen können. Wirklich, die einzigen, die was von Musik verstehen und mitsingen können, sind Stephan und Philipp Wakem.«

Bei diesen letzten Worten blickte Lucie auf und sah, daß sich Gretchen's Gesicht verfärbte.

»Thut's Dir weh, daß ich den Namen nenne, Gretchen? Dann will ich nie wieder davon sprechen. Ich weiß, Tom geht ihm aus dem Wege, wo er nur kann.«

»Ich theile Tom's Ansichten über diesen Punkt durchaus nicht«, sagte Gretchen und ging an's Fenster, als wollte sie die Aussicht genießen. »Ich habe Philipp Wakem immer sehr gern gemocht, seit ich ihn zuerst in Lorton sah. Er war so gut gegen Tom, als er sich den Fuß verletzt hatte.«

»O, wie mich das freut!« rief Lucie; »dann hast Du gewiß nichts dagegen, daß er bisweilen kommt, und wir können recht viel Musik machen. Ich habe den armen Philipp so gern, nur müßt' er sich sein körperliches Leiden nicht so zu Herzen nehmen. Ich glaube, das macht ihn so traurig und bisweilen so bitter. Es ist zwar ein rechter Jammer, seine kleine, verkrüppelte Gestalt neben großen, kräftigen Männern zu sehen.«

»Aber, Lucie«, fiel Gretchen ein und suchte den leichten Redefluß zu unterbrechen.

»Ah, da klingelts draußen. Das ist gewiß Stephan«, fuhr Lucie fort, ohne Gretchens Unterbrechung zu beachten. »Was ich an Stephan mit am meisten bewundere, ist seine große Freundschaft für Philipp.«

Es war zu spät für Gretchen, jetzt noch etwas zu sagen; die Thür ging auf, und Minni stimmte schon ihr zartes Gebell an, als ein großer Herr eintrat, auf Lucie zuging und ihr mit einem halb höflichen, halb zärtlichen Blick die Hand reichte, ohne sich weiter umzusehen, ob sonst jemand im Zimmer sei.

»Darf ich Sie meiner Cousine Fräulein Tulliver vorstellen?« sagte Lucie und wandte sich mit schelmischer Freude zu Gretchen, die jetzt vom Fenster heran kam. »Meine Cousine – Herr Stephan Guest.«

Im ersten Augenblick konnte Stephan sein Erstaunen über den Anblick dieser junonischen Gestalt mit den dunkeln Augen und dem vollen rabenschwarzen Haar nicht unterdrücken; im nächsten Augenblicke empfing Gretchen zum ersten Mal in ihrem Leben die Huldigung eines sehr tiefen Erröthens und einer sehr tiefen Verbeugung von einem Manne, vor dem sie selbst eine gewisse Schüchternheit empfand. Das war ihr so neu wie angenehm – so angenehm, daß es ihre vorherige Aufregung wegen Philipps fast unterdrückte. Ein neuer Glanz war in ihren Augen und eine leise Gluth, die ihr sehr gut stand, auf ihren Wangen, als sie sich setzte.

»Ich hoffe, Sie sehen jetzt selbst, wie ähnlich das Bild war, welches Sie vorgestern entwarfen«, sagte Lucie mit einem hübschen Lächeln des Triumphs. Sie freute sich über die Verlegenheit ihres Geliebten; sonst war der Vortheil gewöhnlich auf seiner Seite.

»Ihre schelmische Cousine hat mich ganz getäuscht, Fräulein Tulliver«, sagte Stephan, indem er sich zu Lucie setzte und sich bückte, um Minni zu streicheln, wobei er nur verstohlen auf Gretchen hinblickte. »Sie sagte mir, Sie hätten helles Haar und blaue Augen.«

»Nein, Sie haben das gesagt«, entgegnete Lucie. »Ich habe bloß nicht Ihr Vertrauen auf Ihre eigene Weisheit stören wollen.«

»Ich wünsche nur, ich möchte immer so irren«, sagte Stephan, »und die Wirklichkeit so viel schöner finden als meine Erwartung.«

»Das heißt sich gut herausziehen«, erwiderte Gretchen; »Sie haben gesprochen wie Sie unter den Umständen nicht anders konnten«. Dabei warf sie ihm einen etwas höhnischen Blick zu; es war klar, er hatte kein zu schmeichelhaftes Bild von ihr entworfen. Von Lucie wußte sie schon, er sei leicht ein bischen spöttisch, und sie hatte gleich damals für sich hinzugesetzt: »wohl auch etwas eingebildet.«

»Die hat den Teufel im Leibe«, war Stephan's erster Gedanke, und sein zweiter, als sie sich wieder über ihre Arbeit bückte: »ich wollte, sie sähe mich wieder an«. Dann antwortete er laut:

»Ich sollte meinen, höfliche Wendungen könnten auch mal wahr sein. Wer »Danke« sagt, ist bisweilen wirklich dankbar, und es kommt ihm hart an, daß er das in denselben Worten ausdrücken muß, womit man sonst eine unangenehme Einladung ablehnt, für die man nichts weniger als dankbar ist. – Ist das nicht auch Ihre Ansicht, Fräulein Tulliver?«

»Nein«, antwortete Gretchen und sah ihm grade in's Gesicht; »wenn man bei großen Gelegenheiten eine gewöhnliche Redensart gebraucht, dann macht sie um so mehr Eindruck, weil man sofort fühlt, daß sie etwas besonderes sagen will, grade wie alte Banner oder alltägliche Kleider, die an geweihter Stätte hängen.«

»Dann muß mein Kompliment beredt gewesen sein«, antwortete Stephan, der, während Gretchen ihn ansah, wirklich nicht recht wußte, was er sagte; »meine Worte blieben ja hinter der Sache so weit zurück.«

»Ein Kompliment ist nie beredt, außer als Ausdruck der Gleichgültigkeit«, sagte Gretchen und erröthete ein wenig.

Lucie erschrak; sie fürchtete, Stephan und Gretchen würden nicht gute Freunde. Sie war immer bange gewesen, Gretchen wäre für das strenge Urtheil dieses Herrn zu eigenthümlich und zu gescheut. »Aber, liebes Gretchen«, fiel sie ein, »Du hast ja immer behauptet, Du wärst so empfänglich für Bewunderung, und jetzt scheint mir, Du ärgerst Dich, weil einer Dich zu bewundern wagt.«

»Durchaus nicht«, erwiderte Gretchen; »ich lasse mich nur zu gern bewundern, aber bei Komplimenten habe ich diese Empfindung nie.«

»Dann werde ich Ihnen nie wieder ein Kompliment machen, Fräulein Tulliver«, sagte Stephan.

»Ich danke Ihnen; das ist ein Beweis von Achtung.«

Das arme Gretchen! sie war so wenig an den Ton der Gesellschaft gewöhnt, daß sie sich bei allem was dachte und nie im Leben über dem Herzen her gesprochen hatte; sie mußte daher erfahrneren Damen nothwendig etwas abgeschmackt erscheinen, weil sie auch das kleinste und unbedeutendste zu ernsthaft nahm. Im vorliegenden Falle kam sie sich sogar selbst etwas abgeschmackt vor. Allerdings hatte sie im allgemeinen einen Widerwillen gegen Komplimente, das war richtig, und einmal hatte sie zu Philipp ungeduldig gesagt, sie sähe nicht ein, warum sich Frauen mit süßlicher Stimme sagen lassen müßten, daß sie hübsch seien, eben so wenig wie sich alte Leute sagen ließen, daß sie ehrwürdig seien; indeß über eine so gewöhnliche Wendung eines fremden Herrn wie Stephan Guest sich zu ärgern und es so schwer zu nehmen, daß er leichtfertig von ihr gesprochen habe, ehe er sie gesehen hatte, das war doch sicher unverständig, und sobald sie schwieg, fing sie an, sich ihrer selbst zu schämen. Es kam ihr nicht in den Sinn, daß sie sich nur deshalb geärgert habe, weil sie sich vorher so angeregt gefühlt hatte – grade wie uns im Zustande behaglicher Wärme ein harmloser Tropfen kaltes Wasser, der uns plötzlich trifft, verletzt und weh thut.

Stephan war zu wohl erzogen, um sich merken zu lassen, die vorherige Unterhaltung könne den Damen peinlich gewesen sein, und er fing daher sogleich von andern Sachen zu sprechen an, indem er Lucie fragte, ob sie wisse, wann denn der Bazar endlich stattfände; dann dürfe man doch hoffen, sie werde ihre Blicke dankbareren Gegenständen zuwenden als den wollenen Blumen, die jetzt unter ihren Fingern wüchsen.

»Nächsten Monat, glaub' ich«, sagte Lucie. »Aber Ihre Schwestern thun mehr dafür als ich; ihr Laden wird gewiß der größte.«

»Das mag sein, aber sie machen ihre Arbeiten in ihrem eigenen Zimmer, wo ich sie nicht störe. Wie ich sehe, sind Sie der modischen Untugend des Stickens nicht ergeben, Fräulein Tulliver«, bemerkte Stephan und sah Gretchens einfache Näherei an.

»Nein«, antwortete Gretchen, »ich kann höchstens Hemden nähen.«

»Aber Du nähst so wunderhübsch, Gretchen«, sagte Lucie; »ich werde Dich noch um ein paar Arbeiten für meinen Laden bitten. Es ist mir förmlich ein Räthsel, daß Du so wunderhübsch nähst; früher hattest Du gar keine Lust dazu.«

»Das Räthsel löst sich leicht, liebes Kind«, sagte Gretchen und blickte ruhig von der Arbeit auf. »Nähen war das einzige, womit ich etwas Geld verdienen konnte; da hab' ich's wohl lernen müssen.«

So gutmüthig und natürlich Lucie war, erröthete sie doch ein wenig; das brauchte Stephan ja nicht zu wissen und Gretchen hätte es nicht zu sagen brauchen. Vielleicht lag in dem Geständniß etwas Stolz, der Stolz der Armuth, die sich ihrer selbst nicht schämt. Aber wenn Gretchen die erste Koquette der Welt gewesen wäre, sie hätte kaum etwas ersinnen können, was ihrer Schönheit in Stephan's Augen größeren Reiz gegeben hätte. Ich will zwar nicht behaupten, das ruhige Zugeständniß ihrer Armuth und ihrer Näherei würde allein genügt haben, aber mit der Schönheit zusammen gaben sie Gretchen etwas noch eigenthümlicheres, als es zu Anfang schien.

»Aber ich kann stricken, Lucie«, fuhr Gretchen fort, »wenn Du davon für Deinen Bazar Gebrauch machen kannst.«

»Gewiß, sehr gut kann ich das. Morgen im Tage sollst Du mir was in rother Wolle stricken. Aber« – damit wandte sich Lucie zu Stephan – »Ihre Schwester ist die beneidenswertheste von allen, daß sie modelliren kann. Sie macht eine Büste von Doktor Kenn, ganz aus dem Gedächtniß.«

»Nun, das ist nicht so schwer; wenn sie nur nicht vergißt, die Augen recht nahe an einander und die Mundwinkel recht weit von einander zu setzen, dann wird die Aehnlichkeit für die Leute in unsrer Stadt wohl schlagend genug sein.«

»Das ist nicht hübsch von Ihnen«, sagte Lucie etwas verletzt. »Ich habe nicht geglaubt, daß Sie so respektwidrig von Doktor Kenn sprechen würden.«

»Ich respektwidrig von Doktor Kenn? davor bewahre mich der Himmel! aber ich bin doch nicht verpflichtet, jede schändliche Büste von ihm zu respektiren. In meinen Augen ist Kenn ein ganz vortrefflicher Mensch. Zwar nach den großen Leuchtern frage ich nicht viel, die er auf den Kommunionstisch gesetzt hat, und mit dem früh aufstehen für die Morgenandacht verderbe ich mir nicht gern den Tag. Aber er ist der einzige Mensch von meiner persönlichen Bekanntschaft, der wirklich etwas von einem Apostel hat. Trotz seiner achthundert Pfund jährlich begnügt er sich mit tannenen Möbeln und gekochtem Rindfleisch, da er zwei Drittel seines Einkommens für Wohlthaten ausgiebt. Wie hübsch war das nicht von ihm, daß er neulich den armen Burschen in's Haus nahm, dem das Unglück passirt war, aus Versehen seine Mutter todt zu schießen. Er läßt es sich viel Zeit kosten, den armen Jungen vor Trübsinn und Verzweiflung zu bewahren; fortwährend hat er ihn bei sich, wo er geht und steht.«

»Das ist schön«, sagte Gretchen, die ihre Arbeit hatte fallen lassen und aufmerksam zuhörte. »Ich wüßte keinen andern, der so was thäte.«

»Und bei Kenn fällt so was um so mehr auf«, bemerkte Stephan, »als er gewöhnlich so kalt und streng ist. Er hat nichts zuckersüßes, weichliches an sich.«

»O, in meinen Augen ist er ganz vollkommen!« rief Lucie mit einer Begeisterung, die ihr so hübsch stand.

»Dem möcht' ich doch nicht ganz beistimmen«, sagte Stephan und schüttelte mit spöttischem Ernst den Kopf.

»Nun, und was finden Sie an ihm auszusetzen?«

»Er ist ein Anglikaner.«

»Das sind doch aber die rechten Ansichten«, bemerkte Lucie mit weisem Tone.

»Wenn das auch im allgemeinen richtig wäre«, antwortete Stephan, »so steht doch die Frage vom parlamentarischen Gesichtspunkte aus ganz anders. Er hat die Dissenters und die Leute von der Hochkirche gegen einander gehetzt, und einem angehenden Staatsmann, wie ich bin, dessen Dienste das Land so nöthig bedarf, wird das sehr unbequem sein, wenn er um die Ehre nachsucht, unsere gute Stadt im Parlament zu vertreten.«

»Haben Sie das wirklich vor?« fragte Lucie und ihre Augen glänzten vor stolzer Freude.

»Ganz entschieden, sobald unser jetziger Herr Vertreter vor lauter Gicht nicht mehr kann. Mein Vater hat seinen Kopf darauf gesetzt, und Gaben wie die meinigen« – dabei reckte Stephan sich in die Höhe und fuhr sich in komischer Selbstbewunderung mit der weißen Hand durch's Haar – »Gaben wie die meinigen dürfen nicht so verrosten. Finden Sie nicht auch, Fräulein Tulliver?«

»Gewiß«, sagte Gretchen lächelnd, aber ohne aufzusehen; »so viel Gewandtheit und Selbstbeherrschung darf nicht lediglich im Privatleben verbraucht werden.«

»Aha, ich sehe, Sie sind scharfsinnig«, sagte Stephan, »Sie haben schon heraus, daß ich geschwätzig und unverschämt bin. Oberflächliche Leute kommen nie dahinter, vermuthlich wegen meiner Art und Weise.«

»Sie sieht mich nicht an, wenn ich von mir selbst spreche«, dachte er, während seine Zuhörerinnen lachten. »Ich muß von was anderm sprechen.«

Seine nächste Frage war, ob Lucie in der kommenden Woche der Versammlung der Lesegesellschaft beiwohnen werde. Dann empfahl er ihr Cowper's Leben von Southey, wenn sie nicht etwa vorzöge, sich auf das naturwissenschaftliche Fach zu werfen und die Abhandlungen der geologischen Gesellschaft vorzuschlagen. Natürlich wollte Lucie gern wissen, was das für fürchterlich gelehrte Bücher seien, und da es immer angenehm ist, junge Damen dadurch zu bilden, daß man ihnen ganz munter von Dingen erzählt, wovon sie nichts wissen, so erging sich Stephan mit glänzender Beredsamkeit in einem Berichte über Buckland's Abhandlung, die er eben gelesen hatte. Er wurde für seine Geschicklichkeit reichlich belohnt: Gretchen ließ ihre Arbeit fallen und vertiefte sich allmälich in seinen wundervollen geologischen Bericht so sehr, daß sie ihn starr ansah, sich mit übergeschlagenen Armen vorbeugte und sich selbst ganz vergaß, als wär' er die gelehrteste alte Perücke und sie ein fleißiger Student mit dem ersten Flaum auf der Oberlippe. Er wurde von ihrem klaren großen Blick so bezaubert, daß er zuletzt ganz vergaß, bisweilen auch Lucie anzusehen, aber dies herzige Kind freute sich nur, daß Stephan Gretchen bewies, wie klug er sei, und daß sie schließlich sich doch ganz gut vertragen würden.

»Ich will Ihnen das Buch herbringen, Fräulein Tulliver, darf ich?« sagte Stephan, als er merkte, daß sein Gedächtniß zu versiegen drohte. »Es sind viele Abbildungen dabei, die Sie gewiß gern sehen.«

Bei dieser direkten Anrede kam Gretchen wieder zu sich, wurde roth und nahm ihre Arbeit wieder auf, aber auf sein Anerbieten ging sie mit Freuden ein.

»Nein, nein«, sagte Lucie dazwischen, »Sie dürfen Gretchen nicht so in die Bücher stürzen, dann ist sie nicht davon wegzubringen; wir wollen hübsch faullenzen, nichts thun als im Kahn fahren und plaudern und reiten und fahren; solche Ferien hat sie nöthig.«

»Apropos«, sagte Stephan und sah nach der Uhr. »Wie wär's, wenn wir jetzt ein bischen Kahn führen? Die Ebbe nimmt uns stromabwärts mit bis zur Fähre, und zurück können wir gehen.«

Für Gretchen war das ein köstlicher Vorschlag; seit Jahren war sie nicht auf dem Flusse gefahren. Als sie hinaus ging, um sich den Hut aufzusetzen, blieb Lucie noch zurück, um dem Bedienten etwas aufzutragen, und benutzte die Gelegenheit, Stephan zu sagen, Gretchen sei garnicht abgeneigt, Philipp zu sehen, und es sei recht schade, daß sie ihm vorgestern das Billet geschrieben habe. Aber morgen wollte sie wieder an ihn schreiben und ihn einladen. Stephan versprach, ihn den nächsten Abend mit zu bringen.

»Ja, bitte, thun Sie das«, sagte Lucie. »Und nicht wahr, Sie haben Gretchen gern?« fügte sie in flehendem Tone hinzu. »Ist sie nicht ein liebes, stolzes Geschöpf?«

»Zu groß«, sagte Stephan und lächelte auf sie herab, »und auch ein bischen zu viel Feuer hat sie. Es ist nicht mein Genre, das wissen Sie ja.«

Wie den Lesern bekannt sein wird, theilen Herren gewissen Damen leicht solche unvorsichtige Geständnisse über ihre ungünstige Meinung von andern Schönen mit. Darum haben denn auch viele Frauen den Vortheil, genau zu wissen, daß sie Männern, die ihnen mit großer Aufopferung den Hof machen, im Stillen zuwider sind. Und kaum konnte es etwas bezeichnenderes für Luciens Wesen geben, als daß sie nicht nur unbedingt glaubte, was Stephan sagte, sondern auch sofort beschloß, Gretchen nichts davon zu sagen. Wer aber etwas tiefer blickt, der wird aus jener ungünstigen Meinung Stephan's unmittelbar den Schluß gezogen haben, daß er auf dem Wege nach dem Flusse sich ganz klar berechnete, Gretchen müsse ihm bei dieser Partie mindestens zweimal die Hand geben, und ein Herr, der gern einen Blick von einer Dame haben wolle, habe beim Rudern einen sehr vortheilhaften Platz. Aber wie? hatte er sich denn in diese schöne Tulliver gleich beim ersten Anblick verliebt? Gewiß nicht; im wirklichen Leben kommen solche Leidenschaften nicht vor. Zudem, er war ja schon verliebt und halb verlobt mit dem süßesten kleinen Geschöpf von der Welt, und er war nicht der Mann dazu, sich zum Narren zu machen. Aber mit fünfundzwanzig Jahren sind unsere Fingerspitzen keine Kieselsteine und die Berührung eines hübschen Mädchens durchaus nicht gleichgültig. Es war ganz natürlich und ohne Gefahr, an einer solchen Schönheit seine Freude und Bewunderung zu haben – wenigstens unter den gegenwärtigen Umständen. Dies Mädchen hatte so was interessantes, mit ihrer Armuth und ihrem ganzen Schicksal, und es war so erbaulich, die Freundschaft zwischen den beiden Cousinen zu sehen. Im allgemeinen liebte Stephan die Frauen nicht, welche was apartes hatten, aber hier schien das aparte zugleich etwas wirklich bedeutendes, und wenn man ein solches Mädchen nicht zu heirathen braucht, – nun, sie ist doch sicher eine Abwechselung in der Gesellschaft.

In der ersten Viertelstunde ging Stephan's Hoffnung nicht in Erfüllung; Gretchen sah ihn garnicht an; ihre Augen hatten mit den alten wohlbekannten Ufern zu viel zu thun. Sie fühlte sich einsam, getrennt von Philipp, dem einzigen Menschen, der sie je mit solcher Hingebung geliebt hatte, wie sie sich immer gesehnt hatte, geliebt zu werden. Aber bald zog sie der Takt des Ruderschlages an, und es fiel ihr ein, sie möchte auch gern rudern lernen. Das weckte sie aus ihrer Träumerei und sie fragte, ob sie nicht auch ein Ruder nehmen könne. Es fand sich indeß, daß sie noch viel zu lernen hatte, und nun wurde sie ehrgeizig. Von der Arbeit des Ruderns stieg ihr das warme Blut in die Wangen und sie nahm ihren Unterricht lustig.

»Ich werde nicht eher ruhen, als bis ich beide Ruder führen und Sie und Lucie fahren kann«, sagte sie vergnügt, als sie aus dem Boot trat. Wie wir wissen, bedachte Gretchen oft nicht was sie that und hatte für ihre Bemerkung einen ungünstigen Augenblick gewählt; sie glitt aus, aber glücklicherweise war Stephan bei der Hand und hielt sie mit festem Griff.

»Sie haben sich doch nicht verletzt?« fragte er und beugte sich mit ängstlichem Blick zu ihr nieder. Es war doch recht hübsch, daß ein großer, starker Mann sich so freundlich und zierlich ihrer annahm. Gretchen hatte das noch nie so gefühlt.

Als sie wieder nach Haus kamen, fanden sie Onkel und Tante Pullet mit Frau Tulliver im Gesellschaftszimmer, und Stephan eilte fort, nachdem er um Erlaubniß gebeten hatte, auf den Abend noch einmal zu kommen.

»Und, bitte, bringen Sie die Noten wieder, die Sie neulich mitgenommen haben«, sagte Lucie; »Gretchen muß Ihre schönsten Lieder hören.«

Da Tante Pullet vorhersah, Gretchen würde mit Lucie ausgebeten werden und wahrscheinlich eine Einladung zu Guest's erhalten, so entsetzte sie sich sehr über ihre dürftige Toilette; die vornehmen Leute in der Stadt durften das nicht sehen, das wäre eine Schande für die Familie, und darum mußte gründlich und rasch abgeholfen werden. An der Berathung, was von Tante Pullet's Kleidern zu gebrauchen sei, nahmen sowohl Lucie wie Frau Tulliver eifrig Theil. Die Größe paßte so ungefähr, »aber«, bemerkte Tante Pullet, »sie ist so sehr viel breiter in den Schultern als ich, das ist recht fatal, sonst könnte sie mein schönes schwarzes Brokatkleid tragen wie es da ist, und ihre Arme – das geht erst recht nicht«, fügte sie betrübt hinzu und hob Gretchens vollen runden Arm auf; »meine Aermel kriegt sie nie an.«

»O, das thut nichts, Tante; schick uns nur das Kleid«, sagte Lucie. »Gretchen soll keine langen Aermel tragen, und ich habe eine Menge schwarzer Spitzen zum Besatz. Ihre Arme werden sehr schön aussehen.«

»Gretchens Arme haben eine hübsche Form«, bemerkte Frau Tulliver. »Sie sind wie meine früher waren, blos meine waren nicht so braun; ich wollte, sie hätte so 'ne Haut wie unsre Familie.«

»Unsinn, Tantchen!« rief Lucie und klopfte ihre Tante Tulliver auf die Schulter, »das verstehst Du nicht; für einen Maler hat Gretchen eine wunderschöne Hautfarbe.«

»Mag sein, liebes Kind«, erwiderte die Tante kleinlaut. »Du mußt das besser wissen. Aber als ich noch jung war, da hielten anständige Leute nicht viel von einer braunen Haut.«

»Nein«, bemerkte Onkel Pullet, der dem Gespräch der Damen mit hohem Interesse zuhörte, während er seine Pastillen lutschte. »Sie hatten damals freilich so'n Lied von dem nußbraunen Mädel; ich glaube, sie war toll – das tolle Käthchen hieß sie – aber ich kann mich auch irren, ich weiß es nicht recht mehr.«

»O Du lieber Himmel!« sagte Gretchen lachend, aber ungeduldig, »das wird von meiner braunen Haut auch noch kommen, wenn man immer so viel davon spricht.«


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