Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierter Abschnitt.
Gretchen und Lucie

Gegen Ende der Woche hatte Kenn eingesehen, es gebe nur einen Weg, um Gretchen ein passendes Unterkommen in St. Ogg zu verschaffen. Selbst mit seiner zwanzigjährigen Erfahrung als Geistlicher stand er entsetzt über die Hartnäckigkeit, mit der trotz aller Gegenbeweise die Beschuldigungen gegen sie sich behaupteten. Bisher war er immer – mehr als ihm lieb war – verehrt worden und hatte als Orakel gegolten, aber jetzt wo er das Ohr der Frauen der Vernunft und ihr Herz der Gerechtigkeit zu erschließen versuchte, fand er sich plötzlich so machtlos, als hätte er die Mode der Hüte verändern wollen. Widersprechen konnte man ihm nicht; man hörte ihn schweigend an, aber sobald er fort war, stand die Sache genau so wie vorher. Bestenfalls – freilich allerbesten Falls – wenn auch an dem Gerede über Fräulein Tulliver nichts dran wäre – sie war doch mal in's Gerede gekommen und hatte sich in so bösen Ruf gebracht, daß sich jede Frau von ihr zurückziehen mußte, der ihr eigener Ruf und die Gesellschaft am Herzen lagen. Die Gesellschaft! Das war der beliebte allgemeine Begriff, hinter den man sich bequem stecken konnte, um mit ruhigem Gewissen seine Selbstsucht zu befriedigen – von Gretchen Tulliver das schlimmste zu denken und zu reden und ihr den Rücken zu kehren. Natürlich war es für Kenn nach der bisherigen übertriebenen Verehrung doppelt schmerzlich, daß seine weiblichen Pfarrkinder sich ihm plötzlich so hartnäckig widersetzten, aber mehr als das: sie setzten sich wider eine höhere Autorität, der sie schon länger Verehrung erwiesen. Diese Autorität hatte allen denen, die etwa fragten, wo die gesellschaftlichen Pflichten anfingen, und es mit dem Ausgangspunkte nicht eben genau nahmen, längst die deutlichste Antwort gegeben. Die Antwort dreht sich freilich nicht um das Beste der Gesellschaft, sondern um »einen Menschen«, der am Wege lag.

In jeder Richtung stieß Kenn mit seinen Bemühungen für Gretchen auf Widerstand und erlebte eine Enttäuschung nach der andern. Als Mann von Festigkeit beharrte er natürlich nur um so mehr auf seinem Willen, ja, er ging ein wenig über's Ziel hinaus. Er bedurfte eine Aufsicht für seine kleinen Kinder, und obgleich er zuerst geschwankt hatte, ob er diese Stelle Gretchen anbieten solle, jetzt war er entschlossen, die ganze Kraft seines persönlichen Charakters und seiner geistlichen Würde gegen die Verläumdung böser Zungen einzusetzen. Dankbar nahm Gretchen eine Beschäftigung an, die ihr sowohl Pflichten auferlegte als eine Stütze gab; bei Tage hatte sie nun zu thun, und ihre einsamen Abende boten willkommene Ruhe. Ihre Mutter brauchte sich nicht mehr für sie zu opfern und ließ sich leicht bereden, wieder nach der Mühle zu ziehen.

Mit Staunen entdeckte nun die Welt, Kenn sei doch auch nicht so ganz taktfest und habe seine Schwächen. Die Herren in der Stadt lächelten vergnügt; »es wunderte sie garnicht«, daß ein Pastor auch gern ein Paar schöne Augen sehe und über die Vergangenheit den Schleier christlicher Liebe werfe; die Frauen nahmen die Sache ernster. Wenn sich Pastor Kenn verleiten ließe, diese Tulliver zu heirathen –!! Man sei doch selbst bei dem besten Mann nie sicher; auch ein Jünger des Herrn sei gefallen und habe dann bitterlich geweint, und obschon die Verläugnung Petri hier nicht ganz zutreffe, seine Reue werde wahrscheinlich sehr zutreffen. Als es nach einigen Wochen gar soweit kam, daß man sich in der Stadt erzählte, der Pastor wohne täglich den Unterrichtsstunden seiner Kinder bei und habe Gretchen nach Haus begleitet, bringe sie fast täglich nach Haus und besuche sie sonst des Abends – da war vollends kein Halten mehr. Was für ein listiges Geschöpf diese Tulliver doch war! was für eine Mutter drohte sie zu werden! Die arme Frau Pastorin würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie blos wüßte, ihre Kinder seien so bald nach ihrem Tode der Obhut eines solchen Mädchens anvertraut – und nun gar dies!! Ob er wohl so weit gegen die Sitte verstieße und sie heirathete, ehe das Trauerjahr um sei?! Die Männer machten ein spöttisches Gesicht und meinten: nein.

Für die Fräulein Guest's hatte der Kummer, eine solche Unvernunft an ihrem Pastor zu erleben, seine gute Seite: sie gewährte Sicherheit für Stephan, und bei ihrer Kenntniß von seiner Hartnäckigkeit waren sie in steter Angst, er könne mal zurückkommen und Gretchen doch noch heirathen. Zwar zu denen, welche die Wahrheit seines Briefes bezweifelten, gehörten sie nicht, aber sie hatten kein Vertrauen zu Gretchens Beständigkeit in der Entsagung und glaubten im Stillen, ihr sei mehr die Entführung zuwider gewesen als die Heirath, und sie bleibe nur deshalb in St. Ogg, weil sie auf seine Rückkehr rechne. Unangenehm war sie ihnen immer gewesen; jetzt hielten sie sie für berechnet und stolz – mit ungefähr eben so gutem Grunde, wie wahrscheinlich Du, lieber Leser, und ich selbst in ähnlichen Fällen. Auch an der beabsichtigten Heirath ihres Bruders mit Lucie hatten sie früher keine reine Freude gehabt, aber jetzt kam die Furcht vor einer Verschwägerung mit Gretchen dem herzlichen Mitleid mit dem sanften verlassenen Mädchen zu gute und machte sie wünschen, er kehre wieder zu ihr zurück. Sobald Lucie reisen konnte, sollte sie mit den Fräulein Guest's an die See, und da, hofften sie, würde auch Stephan sich bewegen lassen, mit ihnen zusammenzutreffen. Das erste Geschwätz über Gretchen und Pastor Kenn fand seinen Weg zu Stephan in einem Briefe seiner Schwester.

Von Luciens allmälicher Genesung hatte Gretchen von verschiedenen Seiten gehört, und ihre Gedanken waren unaufhörlich nach Onkel Deane's Hause gerichtet; sie verlangte recht von Herzen nach einer Unterredung mit Lucie, und wenn's nur auf Minuten wäre – nur so lange, um ein Wort der Reue zu äußern, um von Luciens eigenen Augen und Lippen die Gewißheit zu erhalten, daß sie nicht an absichtlichen Verrath ihrer Treue und Liebe glaube. Aber selbst wenn ihr der Onkel nicht sein Haus verschlossen hätte, durfte sie an eine solche Unterredung nicht denken; sie wäre für Lucie zu aufregend gewesen. Ach, sie nur zu sehen, wäre Trost und Erquickung gewesen! Denn ein Gesicht verfolgte Gretchen, das grade in seiner Milde grausam war – ein Gesicht, das seit dem ersten Aufdämmern der Erinnerung mit glücklichem süßem Blick voll Vertrauen und Liebe ihr zugewandt gewesen und nun vom ersten Herzeleid trübe und matt war. Und immer deutlicher wurde das blasse Bildniß, wie die Tage vergingen – immer sprechendere Bestimmtheit gab ihm die Rächerhand des Gewissens – die sanften nußbraunen Augen waren mit ihrem schmerzlichen Blick immerfort auf Gretchen gerichtet und schauten sie um so durchdringender an, als sie keinen Groll darin sehen konnte. Aber Lucie durfte noch nicht zur Kirche gehen oder an einen andern Ort, wo Gretchen sie hätte sprechen können, und die letzte Hoffnung schwand, als Tante Glegg erzählte, in wenig Tagen gehe Lucie wirklich mit den Fräulein Guest's an die See, und wie diese geäußert, werde Stephan auch dort erwartet.

Nur wer erfahren hat, was der härteste innere Kampf ist, nur der kann verstehen, was Gretchen empfand, als sie am Abend darauf in ihrer Einsamkeit saß – nur wer erfahren hat, meine ich, was die Angst vor der eigenen Selbstsucht heißt.

Sie saß im Zwiedunkel, die Fenster nach dem Fluß weit offen, von der äußeren Schwüle und der inneren Noth gleichmäßig bedrückt. Auf einem Stuhl am Fenster sitzend, den Arm auf die Fensterbank gestützt, starrte sie mit leerem Blick auf den fließenden Strom – im Geiste immer das süße Gesicht mit seiner vorwurfslosen Wehmuth vor Augen, welches dann wieder im raschen Wechsel zu verschwinden und von einer dazwischentretenden Gestalt verdeckt und verdunkelt schien. Sie hörte die Thür gehen und meinte, es sei die kleine Frau Bob mit dem Abendessen; in der Abneigung gegen alltägliches Geschwätz, welche Ermattung und Abspannung zu begleiten pflegt, mochte sie sich nicht umwenden und mit der guten Frau sprechen, die immer einige wohlmeinende Bemerkungen machte. Aber im nächsten Augenblicke, ohne daß sie schon einen Fußtritt gehört hatte, fühlte sie eine leichte Hand auf ihrer Schulter und hörte dicht neben sich eine Stimme sagen: »Gretchen!«

Da war das Gesicht – verändert, aber nur um so süßer; da waren die nußbraunen Augen mit ihrer herzzerreißenden Güte.

»Gretchen!« sagte die sanfte Stimme; »Lucie!« antwortete eine Stimme, die vor Jammer scharf klang, und Lucie fiel Gretchen um den Hals und lehnte ihre blasse Wange an die brennende Stirn.

»Ich bin heimlich hier«, sagte Lucie fast flüsternd, indem sie sich neben Gretchen setzte und ihre Hand gefaßt hielt; »Papa und die andern sind ausgegangen. Else ist mitgekommen; sie wartet draußen; aber lange darf ich nicht bleiben, es ist schon so spät.«

Für den schweren Anfang eines solchen Gesprächs war dies am leichtesten gewesen; sie saßen und sahen einander an; das Sprechen war so schwer; es schien, als solle das Wiedersehen ohne weiteres Reden enden. Beide fühlten, jedes Wort werde tief schmerzen, welches an das unwiderrufliche Unrecht erinnere. Aber bald fühlte Gretchen jeden ihrer Gedanken von liebender Reue überströmt und schluchzend brach sie aus:

»Gott segne Dich, daß Du zu mir kommst, Lucie« – und in tiefem Geschluchze erstickte ihre Stimme.

»Gretchen, liebstes Gretchen, fasse Dich«, sagte Lucie und lehnte wieder ihre Wange an die der Freundin. »Jammere nicht so« – und in der Hoffnung, durch ihre sanfte Liebkosung sie zu beruhigen, blieb sie still sitzen.

»Ich wollte Dich nicht betrügen, Lucie«, fuhr Gretchen fort, sobald sie wieder sprechen konnte. »Immer hat's mich elend gemacht, daß ich fühlte, was ich Dir nicht sagen mochte … Ich glaubte, es ließe sich alles überwinden und Du erführest nie was Dich verletzen könnte.«

»Ich weiß das. Liebste«, sagte Lucie. »Ich weiß, Du hast mich nicht unglücklich machen wollen … Es ist eine Heimsuchung, die über uns gekommen ist – Du hast schwerer zu tragen als ich – und Du gabst ihn auf, als … o, Du hast gethan, was so schwer gewesen sein muß.«

Wieder saßen sie eine Zeit lang schweigend, die Hände verschlungen, Wange an Wange gelehnt.

»Lucie«, begann Gretchen wieder, »er hat auch gekämpft. Er wollte Dir treu bleiben. Er kommt auch wieder zu Dir. Vergieb ihm … dann wird er glücklich.«

Diese Worte entrangen sich ihrer tiefsten Seele mit einer Gewalt, wie der krampfhafte Griff eines Ertrinkenden. Lucie bebte und schwieg. Ein leises Klopfen an der Thür ließ sich hören. Es war Else, Luciens Mädchen, die hereintrat und sagte:

»Fräulein, länger mag ich nicht bleiben; sie merken's zu Hause und dann giebt's Verdruß.«

Lucie stand auf und sagte: »Gut, Else – noch einen Augenblick.«

»Am Freitag verreise ich, Gretchen«, fügte sie hinzu, sobald das Mädchen hinaus war. »Wenn ich wieder komme und mich erholt habe, dann darf ich thun was ich will, und ich komme dann recht oft.«

»Lucie«, sagte Gretchen, abermals mit großer Anstrengung, »ich flehe unablässig zu Gott, daß ich Dir nie mehr Kummer bereiten möge.«

Sie drückte die kleine Hand, die sie in ihrer hielt, und blickte zu dem Gesicht auf, welches sich über sie beugte. Lucie vergaß den Blick nie.

»Gretchen«, antwortete sie leise und feierlich, als wenn sie beichte, »Du bist besser als ich. Ich kann nicht …«

Da brach sie ab und verstummte. Aber sie umfaßten sich noch einmal, – in einer letzten Umarmung.


 << zurück weiter >>