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Dreizehnter Abschnitt.
Stromab

In nicht ganz einer Woche war Gretchen wieder in St. Ogg, äußerlich ziemlich in derselben Lage wie zu Anfang ihres Besuchs. In den Vormittagsstunden brachte sie es leicht fertig, Lucien fern zu bleiben, indem sie bald zu Tante Glegg zum Besuch ging, bald sich zu ihrer Mutter hielt, die sie in den letzten Wochen natürlich doppelt gern um sich hatte und auch bei den Vorbereitungen für Tom's neuen Haushalt ihrer Hülfe bedurfte. Aber Abends wollte Lucie sie unter keinem Vorwande entbehren; von Tante Glegg mußte sie immer schon vor Tisch zurückkommen; »was habe ich sonst von Dir?« schmollte Lucie so reizend, daß sie nicht widerstehen konnte. Und unbegreiflicher Weise blieb Herr Stephan Guest jetzt eben so gern bei Deane's zu Tisch, wie er es früher vermieden hatte. Zuerst faßte er Morgens den Entschluß, nicht bei Deane's zu essen – nicht mal des Abends hinzugehen, bis Gretchen weg sei; ja, er dachte sich einen Plan aus, bei dem schönen Juniwetter einen kleinen Ausflug zu machen; das Kopfweh, mit dem er fortwährend seine Schweigsamkeit und schlechte Stimmung entschuldigte, war ein hinlänglicher Vorwand dafür. Aber aus dem Ausfluge wurde nichts, und am vierten Tage hatte er über die Abende noch keinen festen Entschluß gefaßt; er sah darin nur Stunden, wo er Gretchen noch kurze Zeit sehen, einen Blick, einen Händedruck erhaschen könne. Und warum auch nicht? Jetzt war ja nichts mehr zu verbergen; sie hatten sich ihre Liebe gestanden, hatten einander entsagt, waren im Begriff Abschied zu nehmen. Ehre und Pflichtgefühl trennten sie; mit herzbrechendem Flehen hatte Gretchen das so gewollt, aber einen letzten Scheideblick durften sie einander noch über die trennende Kluft zuwerfen, den letzten bis zu jenem Wiedersehen, wenn die Liebesgluth in ihren Augen verloschen war.

Gretchen bewegte sich die ganze Zeit so gleichförmig still, daß es mit ihrer gewohnten Lebhaftigkeit und Frische auffallend kontrastirte; indeß Lucie fand in ihrer unglücklichen Stellung zwischen Philipp und Tom und der traurigen Aussicht auf die freiwillige Verbannung Grund genug zu der tiefsten Niedergeschlagenheit. Aber unter dieser äußeren Ruhe tobte im Innern ein so wilder Streit, wie ihn Gretchen in einem langen Leben des Kampfes nicht gekannt, nicht geahnt hatte; es war ihr zu Sinne, als habe der schlimmste Feind bisher im Hinterhalt gelegen und sei nun plötzlich in voller Rüstung mit fürchterlicher, überwältigender Macht hervorgebrochen! Sie erlebte Augenblicke, wo eine grausame Selbstsucht sich ihrer zu bemächtigen schien, wo ihr der Gedanke durch den Kopf ging: warum nicht Lucie, warum nicht Philipp leiden solle? sie selbst habe doch auch jahrelang gelitten und wer habe denn für sie ein Opfer gebracht? und da nun etwas von dem vollen ganzen Leben – da Liebe, Reichthum, Glück, Bildung – da alles wonach ihre Seele hungerte ihr nahe gebracht war – warum sollte sie darauf verzichten, damit es einer andern zufalle, die es vielleicht nicht so nöthig bedurfte? Aber durch all den leidenschaftlichen Tumult klangen die lieben altbekannten Stimmen mit neuer Kraft hindurch, bis von Zeit zu Zeit der Tumult sich gelegt zu haben schien. War denn das Leben, welches sie jetzt verlockte, jenes volle ganze Leben, wovon sie geträumt hatte? Wo blieben denn alle die Erinnerungen an die Kämpfe ihrer ersten Jugend? wo das tiefe Mitleid für fremdes Unglück, das in jahrelanger Hingebung und Entbehrung mit ihr erwachsen war? wo das himmlische Vorgefühl von etwas höherem als blos persönlichem Vergnügen, welches dem Leben erst seine Weihe gegeben hatte? Sie hätte ebensogut hoffen können, mit verstümmelten Füßen Freude am Gehen zu haben, als hoffen, sich eines Lebens zu erfreuen, an dessen Schwelle sie Treue und Mitgefühl, den besten Theil ihrer Seele, weggeworfen hätte! Und dann, wenn der Schmerz ihr so schwer fiel, was war er dann erst für andere? »O Gott, bewahre mich davor, andern ein Leid zu thun – gieb mir Kraft, es zu tragen!«

Aber da das süße Gefühl, vor dem es sie schauderte, sie nicht überwältigen, keinen dritten kränken, lediglich ihr eigener stiller Schmerz bleiben sollte, da war es doch erlaubt, vor dem Abschied für immer noch die flüchtigen Augenblicke des stummen verstohlenen Glückes zu genießen. Denn litt nicht Stephan auch? Sie sah es täglich – sah es an dem kranken matten Blick, an der Gleichgültigkeit, womit er sich, so oft die gesellschaftlichen Rücksichten es nur irgend gestatteten, gegen alles andere abstumpfte, nur nicht gegen die Möglichkeit, einen Blick von ihr zu erhaschen. Konnte sie es vermeiden, wenigstens bisweilen den flehenden Blick zu erwidern, der ihr zu folgen schien wie ein leises Gemurmel von Liebe und Leid? Immer seltener vermied sie's, bis zuletzt der ganze Abend für sie beide in einen raschen gegenseitigen Blick aufging, an den sie dachten, bis er kam, an den sie dachten, wenn er vorbei war. Nur eins schien Stephan sonst noch Freude zu machen, nämlich zu singen: es war eine Art, sich mit Gretchen zu unterhalten. Möglich daß er sich nicht ganz deutlich bewußt war, ein geheimes Sehnen treibe ihn dazu, das all seinen stillen Entschlüssen zuwiderlief – das Verlangen, sie noch stärker an sich zu fesseln. Das klingt wie ein Widerspruch, aber der Leser merke nur auf seine eigenen Worte und beachte, wie sehr sie von halb unbewußten Absichten beeinflußt werden, dann wird er den Widerspruch begreifen.

Philipp Wakem kam weniger oft, aber doch noch bisweilen des Abends, und einmal, wo sie grade um Sonnenuntergang draußen auf dem Rasen saßen, war er dabei, als Lucie sagte:

»Nun ist Gretchen mit ihren Besuchen bei Tante Glegg zu Ende und wir müssen jeden Tag, wo sie noch hier ist, Kahn fahren; diese langweiligen Besuche haben unser Vergnügen bös gestört und grade dies hat sie am allerliebsten – nicht wahr, Gretchen?«

»Am liebsten von allen Bewegungen, wollen Sie sagen«, bemerkte Philipp und lächelte Gretchen an, die sich in einem niedrigen Gartenstuhl hin und her wiegte; »sonst verkauft sie ihre Seele jenem gespenstischen Fährmann, der auf dem Floß spukt.«

»Möchten Sie ihr Fährmann sein?« erwiderte Lucie; »dann kommen Sie nur her und nehmen ein Ruder. Wäre der Floß kein Strom, sondern nur ein ruhiger See, dann würden wir schon ohne Herren fertig, denn Gretchen rudert vorzüglich. So aber müssen wir die Dienste von Kavalieren in Anspruch nehmen, die sich nicht zu sehr beeifern, sie von selbst anzubieten.«

Mit scherzhaftem Vorwurf sah sie dabei Stephan an, der auf und ab spazierte und eben im leisesten Falsett sang:

»Der Durst, der aus der Seele kommt,
Verlangt nach Himmelstrank.«

Er achtete nicht auf ihre Worte, sondern hielt sich fern, wie er in der letzten Zeit bei Philipp's Besuchen oft gethan.

»Sie scheinen sich aus dem Kahnfahren nicht viel zu machen«, sagte Lucie, als er sich neben sie auf die Bank setzte. »Macht Ihnen das Rudern keinen Spaß?«

»O, eine große Gesellschaft im Kahn kann ich nicht ausstehen«, antwortete er fast gereizt; »ich fahre mal mit, wenn Sie sonst keinen haben.«

Lucie wurde roth vor Furcht, Philipp sei beleidigt; es war ganz was neues an Stephan, so zu sprechen, aber in der letzten Zeit war er offenbar nicht wohl gewesen. Auch Philipp erröthete, aber weniger aus einem Gefühl persönlicher Kränkung als aus einem unbestimmten Verdacht, Stephan's schlechte Laune stehe in einer gewissen Beziehung zu Gretchen, die bei seiner gereizten Antwort aufgesprungen war und sich an die Lorbeerhecke gestellt hatte, um das Abendroth auf dem Flusse zu sehen.

»Da Fräulein Deane nicht bedacht hat, daß sie durch die Einladung an mich andere ausschlösse«, sagte Philipp, »so muß ich natürlich auf das Vergnügen verzichten.«

»Bitte sehr, auf keinen Fall«, entgegnete Lucie sehr ärgerlich; »besonders morgen früh bitte ich recht angelegentlich um Ihre Begleitung. Um halb eilf ist volle Ebbe; da haben wir ein paar herrliche Stunden, um nach Luckreth zu fahren und von da zurückzugehen, ehe die Sonne zu heiß wird. Und wie können Ihnen vier Menschen in einem Kahn zuviel sein?« fügte sie gegen Stephan hinzu.

»Ich habe nichts gegen die Menschen, nur gegen die Zahl«, erwiderte Stephan, der sich etwas gesammelt hatte und sich seiner Grobheit schämte. »Wenn ich überhaupt einen Vierten möchte, dann wären Sie's natürlich, Philipp. Aber ich denke, wir wollen das Vergnügen des Frauendienstes nicht theilen, wir wollen es abwechselnd genießen. Uebermorgen bin ich dann an der Reihe.«

Dieser Vorgang lenkte natürlich Philipp's Aufmerksamkeit mit vermehrter Sorge auf Stephan und Gretchen, aber als die Gesellschaft gleich darauf in's Haus ging, fing man an zu musiziren, und da sich Vater Deane und Mutter Tulliver in ihr Kartenspiel vertieft hatten, so setzte sich Gretchen allein an den Tisch, wo die Bücher und das Nähzeug lagen, und hörte in Gedanken verloren dem Singen zu. Es dauerte nicht lange, und Stephan schlug ein Duett vor, welches Lucie mit Philipp singen solle; schon oft hatte er das gethan, aber heute witterte Philipp hinter jedem seiner Blicke und Worte einen Hintergedanken und beobachtete ihn scharf, wobei er sich freilich über sich selbst ärgerte, daß er den Argwohn nicht loswerden könne. Denn Gretchen hatte ja jeden Grund zur Eifersucht geleugnet, und sie war die Wahrheit selbst; er mußte ihr glauben, was sie ihm neulich im Garten gesagt hatte; solche Blicke und Worte konnten nicht lügen. Wohl mochte Stephan von ihr bezaubert sein, das war nur zu natürlich, und Philipp fand es fast gemein, daß er das schmerzliche Geheimniß des Freundes so förmlich belaure. Und doch blieb er auf der Lauer. Langsam schlenderte Stephan vom Klavier nach dem Tische, wo Gretchen saß, und blätterte wie zerstreut in den Zeitungen. Dann setzte er sich mit dem Rücken gegen das Klavier, nahm ein Zeitungsblatt vor und fuhr sich mit der Hand durch's Haar, als habe er was interessantes gefunden. In Wirklichkeit aber sah er Gretchen an, die seine Annäherung nicht im mindesten zu beachten schien; denn in Philipp's Gegenwart hatte sie immer etwas mehr Widerstandsfähigkeit, grade wie man an geweihter Stätte von selbst leiser spricht. Aber endlich hörte sie das Wort »Geliebte« im sanftesten Tone schmerzlichen Flehens sprechen. Seit der Unterredung in Basset, wo es Stephan unwillkürlich wie ein inartikulirter Schrei immer wieder entfahren war, hatte sie das Wort nicht gehört. Philipp verstand keine Silbe, aber er war allmälich neben das Klavier getreten und konnte von da sehen, wie Gretchen zusammenfuhr und erröthete, einen raschen Blick zu Stephan aufwarf und dann sofort nach ihm selbst hinsah. Es war zwar nicht unzweifelhaft, daß Philipp sie beobachtet habe, aber über ihre Heimlichkeit überkam sie eine solche Scham, daß sie aufstand, sich neben ihre Mutter stellte und dem Kartenspiel zusah.

Als Philipp bald darauf nach Haus ging, war er in einem Zustande, wo schreckliche Zweifel sich mit fürchterlicher Gewißheit mischten. Unmöglich konnte er sich länger der Ueberzeugung verschließen, daß zwischen Stephan und Gretchen ein gegenseitiges Verständniß obwalte, und die halbe Nacht quälte diese schreckliche Thatsache seine reizbaren Nerven fast zum Wahnsinn; er fand keine Erklärung, die sie mit ihrem Reden und Thun in Einklang setzte. Endlich siegte wie gewöhnlich das Bedürfniß, an Gretchen zu glauben, und da traf er bald das Rechte: sie kämpfte, sie trieb sich selbst in die Verbannung – das war der Schlüssel zu allem, was er seit seiner Rückkehr gesehen. Aber dann wieder kreuzten diesen Glauben andere Möglichkeiten, die ihm nicht aus dem Sinn wollten. Seine Einbildungskraft malte ihm die ganze Geschichte aus: Stephan war wahnsinnig in sie verliebt, hatte es ihr gestanden; sie hatte ihn abgewiesen und eilte nun fortzukommen. Aber ob er sie darum aufgäbe, da er doch wisse – und dieses Gefühl preßte dem armen Philipp fast das Herz ab – daß sie ihrerseits durch die Neigung zu ihm halb hülflos sei?!

Am andern Morgen war Philipp zu unwohl, um der Verabredung wegen des Kahnfahrens nachkommen zu können. Vor lauter Aufregung konnte er nicht zum Entschluß kommen, sondern schwankte zwischen widersprechenden Wünschen hin und her. Erst schien es ihm, er müsse Gretchen sprechen und sie bitten, ihm ganz zu vertrauen; dann wieder bebte er davor zurück, sich in ihr Geheimniß zu drängen. Hatte er sich ihr nicht so schon zuviel aufgedrängt, auf eine Zusage hin, die sie in jugendlicher Unwissenheit gegeben?! und mußte sie ihn nicht hassen, daß er ihr diese bindende Verpflichtung immer gegenwärtig hielt?! – Er beschloß, sie erst wiederzusehen, wenn er sicher sei, nicht aus selbstsüchtigem Aerger zu handeln, sondern aus uneigennütziger Zärtlichkeit für sie, und schrieb an Stephan ein kurzes Billet, er möge ihn bei Deane's entschuldigen und bei der heutigen Partie vertreten, da er zu unwohl sei, selbst daran Theil zu nehmen.

Inzwischen hatte sich Lucie einen reizenden Plan ausgedacht, der sie ganz damit aussöhnte, daß Stephan die Kahnfahrt nicht mitmachen wollte. Ihr Vater fuhr gleich nach dem Frühstück in eine benachbarte Stadt; da mußte sie mit, um nöthige Einkäufe zu machen, und Tante Tulliver mußte auch mit, um Rath zu geben.

»Die Kahnfahrt bleibt Dir doch«, sagte sie zu Gretchen, als sie nach dem Frühstück zusammen hinauf gingen; »um halb eilf kommt Philipp und der Morgen ist herrlich. Still! daß Du mir nicht dawider redest, Du liebes Jammerbild! Was hilft's, daß ich Dich behandle wie die freundlichste Fee, wenn Du Dich gegen alle Wunder sträubst, die ich für Dich thue? Denk' nicht an den bösen Tom; darfst ihm wohl mal ungehorsam sein!«

Gretchen fügte sich, ja, sie freute sich fast über diesen Plan; vielleicht gab ihr das Alleinsein mit Philipp Ruhe und Stärke; es war ihr, als solle sie den Schauplatz eines ruhigeren Lebens wiedersehen, wo im Vergleich zu dem täglichen Aufruhr der Gegenwart die Kämpfe selbst Ruhe gewesen waren. Sie kleidete sich zur Kahnfahrt und saß um halb eilf wartend im Wohnzimmer.

Pünktlich klingelte es an der Hausthür, und mit halbwehmüthiger, zärtlicher Freude dachte sie schon, welche Ueberraschung es für Philipp sein werde, mit ihr allein zu sein – da hörte sie draußen einen raschen festen Schritt, der nicht Philipp's war; die Thür ging auf, und Stephan trat herein.

Im ersten Augenblick waren sie beide zu aufgeregt, um zu sprechen; Stephan hatte nämlich schon von dem Diener gehört, die andern seien ausgefahren. Gretchen war aufgesprungen und hatte sich wieder gesetzt; das Herz schlug ihr heftig; Stephan legte Mütze und Handschuh ab und setzte sich schweigend zu ihr. Sie glaubte, Philipp komme auch bald, und mit großer Anstrengung, sichtlich bebend, erhob sie sich, um weiter von ihm wegzurücken.

»Er kommt nicht«, sagte Stephan mit leiser Stimme. »Ich fahre heute.«

»O, wir können nicht fahren«, erwiderte Gretchen und sank wieder auf ihren Stuhl. »Das hat Lucie nicht erwartet – es würde sie kränken. Warum kommt denn Philipp nicht?«

»Er ist nicht wohl, er schickt mich.«

»Lucie ist nach –«, sagte Gretchen und nahm eilig mit zitternder Hand ihren Hut ab. »Wir dürfen nicht fort.«

»Auch gut«, antwortete Stephan und sah sie an wie im Traum, »dann wollen wir hier bleiben.«

Er sah ihr in die tiefen, tiefen Augen – die so fern waren und geheimnißvoll wie der dunkle Sternenhimmel, und doch so nahe und voll schüchterner Liebe. Gretchen saß ganz still – Augenblicke lang, Minuten lang, sie wußte es selbst nicht, bis das Beben der Ohnmacht vorüber war und eine warme Gluth auf ihren Wangen brannte.

»Der Mann wartet; er hat die Sitzkissen geholt«, sagte sie; »er muß Bescheid haben.«

»Was für Bescheid?« entgegnete Stephan beinahe flüsternd und blickte ihr nach den Lippen.

Gretchen gab keine Antwort.

»Gehen wir«, murmelte Stephan flehend, indem er aufstand und sie auch an der Hand emporzog. »Wir bleiben nicht lange zusammen.«

Und sie gingen. Gretchen fühlte, jemand führe sie durch den Garten an den Rosen vorbei, helfe ihr mit sichrer sanfter Hand in's Boot, lege Kissen und Mantel für sie zurecht und öffne ihr den Sonnenschirm; sie ließ das alles geschehen ohne eigenen Willen, ohne Zuthun, ohne Gefühl für anderes; denken und erinnern war verbannt.

Schnell glitten sie dahin, die Ebbe trug sie stromab, Stephan ruderte – an schweigenden sonnigen Feldern und Wiesen entlang, die eine Freude zu athmen schienen, welche der in ihrem Innern keinen Vorwurf machte. Der Hauch des jungen frischen Tages, der köstliche Takt des Ruderschlags, die abgebrochenen Laute der Vögel, die dann und wann vorbeistrichen, die süße Einsamkeit eines doppelten Lebens, welches in dem tiefen unersättlichen Blick, den sie heute nicht von einander zu wenden brauchten, in eins verschmolz – das war alles, was in der ersten Stunde ihr Herz erfüllte; für anderes war nicht Platz. Von Zeit zu Zeit stieß Stephan lässig rudernd ein leises unterdrücktes, inniges Liebeswort aus; sonst sprachen sie kein Wort; die Rede wäre ein Zugang gewesen, durch den das Denken sich eingeschlichen hätte, und das Denken gehörte nicht zu dem verzauberten Lichtnebel, der sie einhüllte – gehörte zu der Vergangenheit und Zukunft draußen. Der Ufer, an denen sie entlang fuhren, war sich Gretchen nur dunkel bewußt und die Dörfer erkannte sie nicht; sie wußte, es gebe mehrere, ehe man nach Luckreth käme, wo sie immer an's Land zu steigen pflegten und das Boot zurückließen. Aber endlich hörte Stephan, der immer lässiger gerudert hatte, ganz damit auf, legte die Ruder hin, schlug die Arme über einander und sah auf das Wasser, als beobachte er, wie rasch das Boot ohne seine Hülfe vorwärts komme. Dieser plötzliche Wechsel weckte Gretchen aus ihrer Träumerei. Sie sah in die weit offenen Gefilde – auf die nahen Ufer – sie waren ihr ganz fremd. Ein fürchterlicher Schreck befiel sie.

»O, sind wir schon Luckreth vorbei – wo sollen wir anlegen?« rief sie aus und sah sich um, ob sie den Ort noch sähe. Aber kein Dorf war zu sehen. Sie wandte sich wieder und sah Stephan ängstlich forschend an.

Er blickte immerfort auf's Wasser und sagte in einem seltsamen, träumerischen Tone wie abwesend: »Jawohl, vorbei – weit, weit vorbei.«

»O, was soll ich machen?« rief Gretchen in furchtbarer Angst; »es dauert gewiß viele Stunden, ehe wir wieder nach Haus kommen – und Lucie – o Gott, steh mir bei!«

Sie schlang die Hände in einander und brach in Schluchzen aus, wie ein Kind das sich ängstigt; sie dachte nur an das Wiedersehen mit Lucie, an ihren schmerzlich überraschten, zweifelnden – vielleicht gar vorwurfsvollen, mit Recht vorwurfsvollen Blick.

Stephan trat zu ihr, setzte sich neben sie und zog sanft die verschlungenen Hände herunter.

»Gretchen«, sagte er mit tiefer Stimme und mit dem Ausdruck ruhigen Entschlusses – »Gretchen, wir wollen nicht wieder nach Haus – bis uns niemand mehr trennen kann – bis wir verheirathet sind.«

Der ungewöhnliche Ton, die überraschenden Worte brachten Gretchens Schluchzen zum Schweigen, und sie saß ganz still – weniger erschrocken als verwundert, was für einen neuen Ausweg Stephan wohl gefunden habe.

»Sieh doch, Gretchen, wie sich alles ohne unser Zuthun gemacht hat – ja, gegen unsern Willen. Wir haben nicht mehr darauf gerechnet, allein zusammen zu sein; es kommt alles von andern. Sieh, wie die Strömung uns fortträgt – fort von all den unnatürlichen Banden, die wir noch fester zu schmieden uns vergebens bemüht haben. In wenig Stunden führt uns die Ebbe nach Torby, da können wir an's Land gehen, und dann so schnell es geht nach Schottland, ohne einen Augenblick Rast, bis wir fest vereinigt sind und nur der Tod uns scheiden kann. Es ist das einzig Rechte, Liebste – der einzige Weg aus dieser elenden Verstrickung. Alles kommt zusammen, uns auf diesen Weg hinzuweisen; wir haben uns nichts ausgedacht, nichts vorbereitet.«

Stephan sprach mit tief ernstem Flehen. Gretchen horchte auf; die Ueberraschung und das Erstaunen war vorbei; jetzt hätte sie von Grund des Herzens gern geglaubt, die Ebbe allein sei Schuld und ruhig könne sie mit der schweigenden Strömung dahingleiten und brauche nicht mehr zu kämpfen. Aber auf die süße Täuschung legte sich der finstre Schatten vergangener Gedanken, und die plötzliche Angst, jetzt endlich sei der Augenblick des verhängnißvollen Rausches nahe, regte sie zu zornigem Widerstande gegen Stephan auf.

»Lassen Sie mich los!« rief sie heftig, indem sie ihm einen Blick der Entrüstung zuwarf und die Hände frei zu machen versuchte. »Sie haben mich dahin bringen wollen, daß ich keine Wahl mehr hätte. Sie wußten, wir kämen zu weit; Sie haben es gewagt, meine Unbedachtsamkeit zu mißbrauchen. Das ist unmännlich, mich in solche Lage zu bringen.«

Bei diesem Vorwurf ließ er ihre Hände los, setzte sich wieder auf seinen alten Platz und schlug die Arme über einander in einer gewissen Verzweiflung über die Schwierigkeit, die ihm Gretchens Worte vergegenwärtigt hatten. Wenn sie nicht einwilligte, mit ihm in die Welt zu gehen, so mußte er sich verwünschen, daß er sie in eine solche Lage gebracht hatte. Aber der Vorwurf war nicht zu ertragen; daß sie glaubte, er habe unwürdig an ihr gehandelt, war schlimmer als sich von ihr zu trennen. Endlich sagte er in einem Tone unterdrückter Wuth:

»Zuerst merkte ich nicht, daß wir bei Luckreth vorbei wären; erst beim nächsten Dorfe, und da kam mir der Gedanke: weiter, immer weiter. Ich kann das nicht rechtfertigen, ich hätt's Dir sagen müssen. Nun wirst Du mich hassen – so lieb hast Du mich ja doch nicht, wie ich Dich, daß Du alles andere in die Winde schlügest. Soll ich das Boot wenden und hier anzulegen versuchen? Ich will Lucie sagen, ich sei toll gewesen – Du verabscheutest mich – und Du bist mich für immer los. Dich kann niemand tadeln, weil ich mich unverzeihlich gegen Dich vergangen habe.«

Gretchen war entwaffnet; es wurde ihr leichter, Stephan's Bitten zu widerstehen, als dem Gedanken, daß er leiden solle, während sie frei ausginge – leichter selbst, von seinem zärtlichen Blick sich abzuwenden als von diesem Blicke voll Zorn und Jammer, der sie mit ihrer Selbstsucht ganz von ihm zu trennen schien. Nach seiner Darstellung erschien, was sie aus Gewissenhaftigkeit gesprochen zu haben glaubte, lediglich von persönlichen Rücksichten eingegeben. Das Feuer der Entrüstung in ihren Augen war gedämpft und mit schüchternem Jammer sah sie zu ihm auf. Ihm hatte sie Vorwürfe gemacht, daß er sie in einen unwiderruflichen Fehler gestürzt habe, und war doch selbst so schwach gewesen!

»Als wenn ich nicht auch so mitfühlen würde, was Dich trifft«, entgegnete sie mit einem Vorwurf andrer Art, dem Vorwurf gekränkter Liebe, und indem ihr Rechtsgefühl für andere so die Form des Mitleids für Stephan annahm, gab sie die moralische Basis ihres Widerstandes halb auf.

Er fühlte an Blick und Ton, wie sie weicher wurde – er sah wieder den Himmel offen. Er setzte sich zu ihr, nahm ihre Hand, stützte den Arm auf den Rand des Boots und sagte kein Wort. Er wagte nicht zu sprechen, wagte nicht sich zu bewegen, um sie nicht zu einem neuen Vorwurf, einer neuen Weigerung zu veranlassen. An ihrer Einwilligung hing das Leben, sonst war alles hoffnungsloses, wirres, erbärmliches Elend. So glitten sie hinab, beide in tiefem Schweigen verharrend wie in einem schützenden Hafen, beide besorgt, daß ihre Empfindungen sich wieder gegen einander stellten, bis sie endlich bemerkten, daß der Himmel sich mit Wolken bezogen hatte, daß die frische Brise immer stärker anschwoll und der ganze Charakter des Tages ein andrer geworden war.

»Du wirst ganz kalt, Gretchen, in dem dünnen Kleide. Laß mich Dir den Mantel über die Schultern ziehen. Steh auf, Liebste.«

Gretchen gehorchte; es war unaussprechlich reizend, sich sagen zu lassen, was man thun solle – alles durch einen andern entscheiden zu lassen. In den Mantel gehüllt setzte sie sich wieder, und Stephan fing wieder mächtig an zu rudern; er wollte so rasch wie möglich nach Torby. Gretchen war sich kaum bewußt, irgend was entscheidendes gesagt oder gethan zu haben. Das Nachgeben ist immer von einem weniger lebhaften Bewußtsein begleitet als der Widerstand; es ist ein theilweiser Gedankenschlaf, ist das Aufgehen unserer eigenen Persönlichkeit in eine andre. Alles kam zusammen, sie in stille Ergebung einzuwiegen: das träumerische Hinabgleiten des Boots, das nun schon stundenlang dauerte und sie ermüdet hatte, – die Abneigung, in diesem erschöpften Zustande weit von Hause an unbekannter Stelle zu landen und den langen Weg zurückzugehen – alles vereinigte sich, sie vollständig dem mächtigen geheimnißvollen Zauber zu unterwerfen, der ihr ein letztes Scheiden von Stephan zum Ende alles Glückes machte, ihr die Möglichkeit, ihn zu verwunden, wie die erste Berührung mit dem Foltereisen erscheinen ließ, vor der ihr Entschluß zurückbebte. Und dann das Glück des Augenblicks, bei ihm zu sein – das war genug, um ihre ganze sinkende Kraft zu verzehren.

Bald sah Stephan ein Schiff hinter ihnen her kommen. Schon an mehreren Schiffen waren sie vorbeigefahren, aber die letzte Stunde hatten sie keine bemerkt. Eifrig sah er jetzt nach diesem Schiffe aus, als ginge ihm dabei ein neuer Gedanke durch den Kopf, und zögernd blickte er dann Gretchen an.

»Gretchen, Geliebte«, sagte er endlich, »wenn dies Schiff nach Mudport oder sonst einem gelegenen Hafen nordwärts führe, dann wär's das beste, wir stiegen an Bord. Du bist müde – vielleicht giebt's bald Regen – und es ist eine elende Geschichte, in diesem Boote bis Torby zu kommen. Es ist nur ein Kauffahrer, aber die nöthige Bequemlichkeit fändest Du doch. Die Kissen aus dem Boot wollen wir mitnehmen. Wirklich, es ist das beste. Die Leute nehmen uns gewiß gern auf; Geld genug habe ich bei mir, um sie gut zu bezahlen.«

Bei diesem neuen Vorschlage schlug Gretchen das Herz mit neuer Angst, aber sie schwieg – ein Ausweg erschien so schwierig als der andere.

Stephan rief das Schiff an; es war ein Holländer auf der Fahrt nach Mudport; wenn der Wind sich hielt, hofften die Leute in nicht ganz zwei Tagen dort zu sein.

»Die Ebbe hat uns zu weit geführt«, sagte Stephan. »Ich wollte versuchen, Torby zu erreichen. Aber ich traue dem Wetter nicht, und diese Dame – meine Frau – würde mir unterwegs krank vor Hunger. Nehmt uns an Bord und zieht unser Boot herauf. Ich will Euch gut bezahlen.«

Ganz erschöpft und zitternd vor Furcht kam Gretchen auf's Deck, von dem bewundernden Schiffsvolk höchlich angestaunt. An der nöthigen Bequemlichkeit fehlte es freilich für so ungewohnte Passagiere; die einzige Privatkajüte war nicht größer als ein altmodischer Kirchenstuhl, aber eine holländische Reinlichkeit herrschte an Bord, und Speise und Trank brachten Gretchen bald wieder zu Kräften. Die Kissen aus dem Boot wurden auf's Deck gelegt; da ruhte Gretchen mit dem verhältnißmäßig behaglichen Gefühl, heute könne doch kein Entschluß gefaßt werden; damit müßten sie bis morgen warten. Stephan saß bei ihr und hielt ihre Hand in der seinigen; nur leise konnten sie mit einander sprechen, nur dann und wann sich ansehen; denn es dauerte lange, ehe die erste Neugierde der Schiffsleute befriedigt war, und die Liebenden sich selbst überlassen blieben. Aber Stephan war glücklich wie ein Sieger. Jede andere Empfindung und Sorge verschwand vor der Gewißheit, jetzt sei Gretchen sein. Der entscheidende Sprung war geschehen; er hatte sich verzehrt in Zweifeln, hatte wild gekämpft gegen seine übermächtige Leidenschaft, hatte geschwankt und gezögert, aber nun war's geschehen und Reue war unmöglich. In abgerissenen Sätzen murmelte er leise, wie glücklich er sei – wie er sie verehre – sie liebe – wie er überzeugt sei, ihr Zusammenleben wäre der Himmel – ihre Nähe werde ihm jeden Tag seines Lebens zur Seligkeit machen – ihre leisesten Wünsche zu erfüllen sei ihm theurer als jedes Glück der Welt – für sie werde ihm alles leicht, nur nicht sich von ihr zu trennen, und jetzt würden sie sich auch nie mehr trennen – er gehöre ihr für ewig – alles was er habe, gehöre ihr – und habe nur darum Werth für ihn, weil es ihr gehöre. Solche Dinge, leise und in gebrochenen Lauten von jener einen Stimme geäußert, welche zuerst die junge Leidenschaft im Herzen wach gerufen, haben nur eine schwache Wirkung – auf erfahrene Gemüther in der Ferne. Dem armen Gretchen waren sie recht nahe, waren ihr was Nektar für durstige Lippen ist. Es gab also, es mußte für die Sterblichen hienieden ein Leben geben, welches nicht hart und kalt war, worin die Liebe nicht mehr Entsagung war. Stephan's leidenschaftliche Worte vergegenwärtigten ihr die Vision eines solchen Lebens voller und klarer als je, und für den Augenblick schloß diese Vision alle Wirklichkeit aus – alle, nur nicht den Wiederschein der untergehenden Sonne auf den Wellen, der sich mit dem übersinnlichen Sonnenlicht künftigen Glückes vermischte – alle, nur nicht die Hand, welche die ihrige drückte, und die Stimme die zu ihr sprach, und die Augen, die sie mit unsäglicher Liebe ansahen.

Es regnete nicht den Abend; die Wolken wälzten sich zum Horizont hinab und bildeten da den großen Purpurwall und die langen purpurnen Inseln jenes Wunderlandes, das sich uns beim Sonnenuntergange erschließt, – des Landes, worüber der Abendstern wacht. Das Nachtlager für Gretchen wurde auf dem Verdeck gemacht; es war da besser als in der Kajüte, und sie bekam die wärmsten Decken, die auf dem Schiff zu haben waren. Es war noch früh, als die Anstrengung des Tages sie schläfrig machte, und sie legte sich zur Ruhe, die Augen auf den matten verlöschenden Glanz im Westen geheftet, wo der eine goldene Stern heller und heller zu leuchten begann. Dann blickte sie zu Stephan auf, der noch immer neben ihr saß und sich über sie neigte. Hinter all den köstlichen Visionen der letzten Stunden, die wie ein sanftes Rauschen sie überströmt und in ruhiges Vergessen eingewiegt hatten, stand das unbestimmte Bewußtsein, daß dieser Zustand nur ein vorübergehender sei, daß der kommende Tag den alten Kampf wieder erneuern werde, daß es Gedanken gebe, die sich für diese Vergessenheit bald rächen würden. Aber jetzt stand das alles nur unbestimmt vor ihrer Seele; der Schlaf wiegte sie ein, und jenes sanfte Rauschen überströmte sie noch immer, und jene köstlichen Visionen verschwammen und schwanden dahin wie das Wunderland der Himmelsluft im Westen.


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