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Elfter Abschnitt.
Zwischen den Hecken

Vier Tage war Gretchen bei Tante Moß gewesen, hatte dem Lichte der Junisonne einen ganz neuen Glanz gegeben in den von Sorge trüben Augen der guten Frau, und bei ihren großen und kleinen Verwandten einen Eindruck für's Leben gemacht, die was sie sagte und that auswendig lernten, als sei sie eine Verkörperung vollendeter Weisheit und Schönheit.

In der ruhigen Stunde vor dem Nachmittagsmelken stand sie mit der Tante und einem Theil der kleinen Familie auf dem Dammwege im Hofe und fütterte die Hühner. Die großen Gebäude um den tief liegenden Hof sahen so trübselig und verfallen aus wie je, aber über die alte Gartenmauer hoben schon die Rosenbüsche ihr sommerliches Haupt, und das graue Holzwerk und die alten Ziegelsteine des Wohnhauses hatten etwas schläfriges, was zu der ruhigen Stunde gut paßte. Gretchen hatte ihren Hut am Arm hängen und lächelte herab auf die kleine Brut von Küken, da rief die Tante plötzlich:

»Ewige Güte! wer ist der vornehme Herr, der da auf den Hof geritten kommt?«

Der Herr ritt einen schönen Braunen, dem man's ansah, daß es auf dem Wege scharf hergegangen war. Gretchen schlug das Herz; es war ihr so fürchterlich zu Sinne, als sei ein wüthender Feind, der sich todtgestellt habe, plötzlich wieder zum Leben erwacht.

»Wer ist das, Kind?« fragte Frau Moß, als sie Gretchen am Gesicht ansah, sie kenne den Herrn.

»Es ist der junge Herr Guest«, antwortete Gretchen mit matter Stimme. »Cousine Luciens – ein naher Bekannter von Deane's.«

Mittlerweile war Stephan herangekommen und vom Pferde gesprungen; höflich zog er den Hut und trat auf sie zu.

»Halt das Pferd, Wilhelm«, sagte Frau Moß zu ihrem zwölfjährigen Sohne.

»Nein, ich danke«, erwiderte Stephan und riß das ungeduldige Pferd am Kopfe. »Ich muß gleich wieder fort. Ich habe etwas an Sie zu bestellen, Fräulein Tulliver – an Sie allein. Darf ich Sie bitten, ein paar Schritte mit mir zu kommen?«

Er sah halb verfallen, halb aufgeregt aus, wie ein Mann, den Sorge und Unruhe so quält, daß er nicht schlafen noch essen mag. Er sprach beinahe abgerissen, als wäre ihm sein Geschäft zu eilig, als daß er sich darum kümmern sollte, was sich Frau Moß wohl bei seinem Besuch und seiner Bitte denke. Die gute Frau wurde etwas nervös in der Nähe dieses offenbar hochmüthigen Herrn und überlegte sich im stillen, ob sie ihn wohl in's Haus nöthigen solle oder nicht; da machte Gretchen, selbst keines Wortes fähig, ihrer Verlegenheit ein Ende, indem sie sich den Hut aufsetzte und nach dem Hofthor ging.

Auch Stephan kehrte um und ging, sein Pferd am Zügel führend, neben ihr her.

Sie sprachen kein Wort, bis sie draußen zwischen den Hecken waren; nach ein paar weiteren Schritten wandte sich Gretchen, die immerfort vor sich hin gestarrt hatte, wieder um und sagte mit stolzem Hohne:

»Weiter gehe ich nicht mit. Ich weiß nicht, ob Sie es für anständig und zartfühlend halten, daß Sie mich so in die Verlegenheit setzen, mit Ihnen herauskommen zu müssen, oder ob Sie mich noch tiefer haben kränken wollen, indem Sie sich mir so aufdrängen!«

»Natürlich sind Sie mir böse, daß ich gekommen bin«, entgegnete Stephan bitter. »Natürlich hat es nichts zu bedeuten, was ein Mann zu leiden hat – Ihnen liegt nur Ihre Mädchenwürde am Herzen.«

Leise fuhr Gretchen zusammen wie von einem leichten elektrischen Schlage.

»Als wenn's nicht genug damit wäre, daß ich so umstrickt bin«, fuhr Stephan fort, – »daß ich wahnsinnig bin vor Liebe zu Ihnen, daß ich der stärksten Leidenschaft, die ein Mann fühlen kann, mich entgegenstemme, weil ich andern Verpflichtungen treu zu bleiben suche – nein, Sie müssen mich auch noch behandeln, als wäre ich ein rohes Thier, das Ihnen absichtlich wehe thun möchte. Und doch, wenn ich frei wäre, böte ich Ihnen Herz und Hand, mein Vermögen, mein ganzes Leben, und bäte Sie, damit zu schalten nach Herzenslust! Ich habe mir eine unerlaubte Freiheit genommen und ich hasse mich dafür. Aber ich habe sofort bereut – ich bereue es unaufhörlich. Sie sollten es nicht unverzeihlich finden: wer so mit ganzer Seele liebt, wie ich Sie liebe, läßt sich leicht von seinen Gefühlen für einen Augenblick hinreißen; und Sie wissen – Sie müssen es glauben – mein schlimmster Schmerz ist, daß ich Sie gekränkt habe, und ich gäbe die Welt darum, wenn ich das ungeschehen machen könnte.«

Gretchen wagte nicht zu sprechen – wagte nicht den Kopf zu wenden. Die Kraft, die der Zorn ihr gegeben, war ganz dahin und ihre Lippen bebten sichtlich. Sie traute sich selbst nicht heraus mit der vollen Verzeihung, die als Antwort auf dies Geständniß ihr auf die Zunge trat.

Inzwischen waren sie wieder nahe an's Hofthor zurückgekommen und zitternd blieb sie stehen.

»So was dürfen Sie nicht sagen – ich darf's nicht hören«, antwortete sie und sah jammervoll zur Erde, als Stephan sich vor sie stellte, damit sie nicht noch näher an den Hof heranginge. »Es schmerzt mich recht, daß Sie meinetwegen leiden, aber es hilft nichts, daß wir davon sprechen.«

»Ja freilich hilft es!« sagte Stephan ungestüm. »Wenigstens würde es was helfen, wenn Sie mich mit etwas Mitleid und Erbarmen behandelten, statt mir im Herzen so schnöde Unrecht zu thun. Ich könnte alles ruhiger ertragen, wenn ich wüßte, Sie haßten mich nicht als einen unverschämten Hansnarren. Sehen Sie mich an – sehen Sie wie ich gehetzt bin; die halben Tage bin ich zu Pferde gewesen und wie wild herumgeritten, um den Gedanken an Sie los zu werden.«

Gretchen sah ihn nicht an – wagte nicht ihn anzusehen. Sein gestörtes Aussehen hatte sie schon bemerkt. Aber sie sagte sanft:

»Ich denke nichts böses von Ihnen.«

»Dann, liebstes Gretchen, sehen Sie mich an«, sagte Stephan im tiefsten Tone zärtlichen Flehens. »Gehen Sie noch nicht von mir. Schenken Sie mir eines Augenblickes Glück; lassen Sie mich fühlen, daß Sie mir vergeben haben.«

»Ja, ich vergebe Ihnen«, sagte Gretchen, tief ergriffen von diesem Tone und um so banger vor sich selbst. »Aber, bitte, lassen Sie mich wieder hineingehen. Bitte, gehen Sie fort.«

Eine schwere Thräne stahl sich unter ihren gesenkten Lidern hervor.

»Ich kann nicht fort von Ihnen – ich kann Sie nicht verlassen«, sagte Stephan mit noch leidenschaftlicherem Flehen. »Ich komme wieder, wenn Sie mich so kalt entlassen – ich kann nicht für mich einstehen. Aber wenn Sie nur eine kurze Strecke mit mir kommen, das soll mir genug sein, davon will ich leben. Sie sehen doch klar, Ihr Zorn hat mich zehnmal unverständiger gemacht.«

Gretchen kehrte um. Aber das Pferd machte allmälich so lebhafte Vorstellungen gegen diese wiederholten Wendungen, daß Stephan froh war, den kleinen Wilhelm in der Nähe zu sehen, und ihm zurief: »Du da, komm her und halt mir fünf Minuten das Pferd!«

»Nein, nein«, rief Gretchen ängstlich, »das wird meiner Tante auffallen.«

»Einerlei«, erwiderte Stephan ungeduldig; »hier kennt man uns Leute aus der Stadt nicht. Führ' den Braunen nur auf und ab«, fügte er hinzu, und damit wandte er sich wieder zu Gretchen, und sie gingen weiter. Es war klar, jetzt mußte sie mitgehen.

»Nehmen Sie meinen Arm«, bat Stephan, und sie nahm den Arm, obschon ihr immer mehr zu Muthe wurde, als laste der Alp auf ihr.

»Der Jammer ist hoffnungslos – ohne Ende«, fing sie an, um sich im Sprechen Luft zu machen. »Es ist schlecht – gemein – jedes Wort, jeder Blick, wovon Lucie – wovon andre nichts wissen dürfen. Denken Sie an Lucie.«

»Ich denke an sie – ich segne sie. Thäte ich's nicht –«; Stephan hatte seine Hand auf Gretchens gelegt, die ihm im Arm ruhte, und beide fanden es schwer zu sprechen.

»Und mich fesseln andere Bande«, fuhr Gretchen endlich mit verzweifelter Anstrengung fort, »selbst wenn Lucie garnicht in der Welt wäre.«

»Sie sind mit Philipp Wakem verlobt?« fragte Stephan eifrig; »ja? wirklich verlobt?«

»Ich sehe mich für seine Verlobte an – ich werde keinen andern heirathen als ihn.«

Wieder schwieg Stephan, bis sie aus der Sonne auf einen Nebenweg gekommen waren, der ganz mit Gras bewachsen und zwischen hohen Hecken verdeckt war. Dann brach er stürmisch heraus:

»Es ist unnatürlich – es ist schrecklich. Gretchen, wenn Du mich liebtest, wie ich Dich liebe, wir schleuderten alles andere in die Winde, um einander anzugehören – wir zerrissen alle diese falschen Bande, in die wir aus Blindheit hineingerathen sind, und entschlössen uns zur Heirath.«

»Eher sterben als dieser Versuchung erliegen«, sagte Gretchen mit tiefer langsamer Bestimmtheit, indem alle Kraft, die sich in den Jahren des Unglücks bei ihr angesammelt hatte, ihr in dieser äußersten Noth zu Hülfe kam. Und bei diesen Worten ließ sie seinen Arm los.

»Dann gestehe, daß Du nichts nach mir fragst«, rief er fast heftig. »Gestehe, daß Du einen andern mehr liebst.«

Es schoß Gretchen durch den Kopf, sie habe einen Ausweg, um sich aus dem äußern Kampfe zu retten: sie brauchte nur Stephan zu sagen, Philipp habe ihr ganzes Herz. Aber dazu versagten ihr die Lippen den Dienst und sie schwieg.

»Wenn Du mich liebst, Herzensgretchen«, sagte Stephan sanft und faßte wieder ihre Hand und legte sie sich in den Arm, »dann ist's besser – dann ist's recht, daß wir uns heirathen. Wir können nicht dafür, daß es andern Schmerz macht. Ohne daß wir es suchten, ist es über uns gekommen; ganz von selbst hat es mich ergriffen, soviel Mühe ich mir auch gegeben habe zu widerstehen. Gott ist mein Zeuge, ich habe versucht, stillschweigenden Verpflichtungen treu zu bleiben, und nur schlimmer habe ich's damit gemacht, – lieber hätt' ich mich gleich ergeben sollen.«

Gretchen schwieg noch immer. Wenn es nicht Unrecht wäre – wenn sie sich nur davon überzeugen könnte und nicht länger gegen diese Strömung zu kämpfen brauchte, die so sanft war wie der Floß zur Sommerzeit und auch – so stark!

»Sag' ja, Liebste«, sagte Stephan und beugte sich zu ihr mit liebendem Blick. »Was fragten wir nach der Welt, wenn wir einander angehörten?!«

Ihr Athem traf sein Gesicht – seine Lippen waren den ihrigen nahe – aber ein großes Schreckniß lag in seiner Liebe zu ihr.

Ihre Lippen und Augenlider bebten; einen Moment blickte sie ihm voll in die Augen, wie ein liebliches Thier des Waldes, welches unter Liebkosungen schüchtern sich sträubt; dann wandte sie sich scharf um, nach dem Hofe zu.

»Und zudem«, fuhr er ungeduldig fort, um sich selbst so gut wie ihr die Bedenken auszureden, – »zudem breche ich keine bestimmten Verpflichtungen; wenn Lucie mir ihre Neigung entzogen und einem andern zugewendet hätte, so wäre ich zu keinem Anspruch berechtigt. Wenn Du nicht unbedingt an Philipp gebunden bist, dann sind wir beide frei.«

»Das glauben Sie selbst nicht, das ist nicht Ihre wahre Empfindung«, sagte Gretchen ernst. »Sie fühlen so gut wie ich, daß das wirkliche Band in den Gefühlen und Erwartungen liegt, die wir bei andern erregt haben. Sonst könnte ja jede Verpflichtung gebrochen werden, wo es keine äußere Strafe giebt, – sonst gäbe es ja keine Treue mehr.«

Stephan schwieg; er konnte diesen Gedanken nicht weiter verfolgen; die entgegengesetzte Ueberzeugung hatte sich in dem früheren Kampfe zu stark bei ihm geltend gemacht. Aber gleich darauf kehrte der Gedanke doch in einer anderen Form wieder.

»Die Verpflichtung läßt sich nicht erfüllen«, sagte er mit leidenschaftlichem Nachdruck. »Sie ist gegen die Natur; wir könnten nur heucheln, wir gäben uns andern hin. Und das ist auch Unrecht; es bringt Elend über sie so gut wie über uns. Gretchen, das mußt Du einsehen – das siehst Du ein.«

Eifrig las er in ihrem Gesichte nach einem Zeichen der Zustimmung; stark, fest und sanft hielt er ihre Hand umfaßt. Sie schwieg einige Augenblicke und sah unverwandt zur Erde; dann holte sie tief Athem und sagte, indem sie ernst und wehmüthig zu ihm aufblickte:

»O, es ist so schwer – das Leben ist recht schwer. Bisweilen scheint's mir recht, daß wir unsern stärksten Gefühlen nachgehen, aber andrerseits wieder – solche Gefühle durchkreuzen die Beziehungen unseres ganzen früheren Lebens, verstoßen gegen die Bande, die andere an uns knüpfen, und drohen sie zu zerreißen. Wäre das Leben ganz leicht und einfach, wie es im Paradiese gewesen sein mag, und wir könnten immer das Wesen zuerst sehen, für das … ich meine, hätte das Leben nicht seine Pflichten, ehe die Liebe kommt – dann wäre die Liebe ein Zeichen, daß zwei Menschen für einander bestimmt sind. Aber nun ist's nicht so, das sehe, das fühle ich; es giebt Dinge im Leben, auf die wir verzichten müssen, und viele von uns müssen auf Liebe verzichten. Manches ist mir schwer und dunkel, eins aber sehe ich klar: ich darf und kann mein eigenes Glück nicht auf Kosten andrer suchen. Liebe ist was natürliches, aber Mitleid und Treue und Erinnerung sind auch was natürliches, und diese Empfindungen würden in mir fortleben und sich an mir rächen, wenn ich ihnen ungehorsam würde. Das Leiden, welches ich andern bereitet hätte, würde mich verfolgen wie ein Gespenst. Unsere Liebe wäre vergiftet. Drängen Sie mich nicht; o helfen Sie mir – Stephan, hilf mir, weil ich Dich liebe.«

Immer ernster war Gretchen geworden, als sie sprach; ihr Gesicht glühte und die Augen waren voll flehender Liebe. In Stephan lebte der edle Sinn, an den diese Berufung sich nicht vergebens wandte; aber zugleich – wie konnte es anders sein? – gewann die flehende Schönheit neue Gewalt über ihn.

»Liebste«, sagte er im leisesten Flüstertone, während sein Arm sie sanft umschlang, »ich will alles thun, alles tragen was Du wünschest. Aber – einen Kuß – einen – den letzten – zum Abschied.«

Ein Kuß, ein langer Kuß, und dann ein langer Blick, bis Gretchen zitternd sagte: »Laß mich – laß uns schnell zurück.«

Sie eilte fort, und kein Wort wurde weiter gesprochen. Als sie wieder an die Stelle kamen, wo der Junge das Pferd führte, winkte Stephan ihn heran, und Gretchen ging auf den Hof. Ihre Tante stand allein vor der Hausthür; mit freundlicher Vorsicht hatte sie die Kinder hineingeschickt; es konnte eine vergnügte Geschichte sein, daß Gretchen einen reichen und hübschen Anbeter hatte, aber natürlich war sie dann bei der Rückkehr gewiß etwas verlegen – und es konnte auch keine vergnügte Geschichte sein; in jedem Falle wollte Frau Moß ihr Gretchen lieber allein empfangen. Das sprechende Gesicht sagte deutlich genug, das etwaige Vergnügen sei jedesfalls sehr aufregend und zweifelhaft.

»Setz Dich ein bischen her, liebes Kind« – mit diesen Worten zog sie Gretchen zu sich auf die Bank vor der Hausthür.

»O Tante Margret, ich bin recht elend. Ich wollte, ich wäre mit fünfzehn Jahren gestorben. Damals schien es so leicht zu entsagen – jetzt wird es so schwer.«

Das arme Kind warf sich ihrer Tante um den Hals und fiel in ein langes, tiefes Schluchzen.


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