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Dritter Abschnitt.
Eine Stimme aus der Vergangenheit

Eines Nachmittags, als die Kastanienbäume zu blühen anfingen, hatte Gretchen ihren Stuhl vor die Hausthür gestellt und saß da mit einem Buche auf dem Schooße. Ihre dunkeln Augen sahen nicht in das Buch, aber sie schienen auch nicht des Sonnenscheines sich zu freuen, welcher durch den Jasminbehang an der Veranda zu ihrer Rechten fiel und die Schatten der Blätter auf ihre blasse runde Wange warf; ihre Augen schienen vielmehr etwas zu suchen, was das Sonnenlicht nicht enthüllte. Es war heute ein schlimmerer Tag als gewöhnlich; ein Besuch von Wakem hatte ihren Vater in solche Wuth versetzt, daß er den Jungen, der in der Mühle diente, wegen eines unbedeutenden Versehens geschlagen hatte. Schon einmal nach seiner Krankheit hatte er in einem ähnlichen Anfalle sein Pferd geschlagen, und der Anblick hatte in Gretchens Seele einen bleibenden Schreck zurückgelassen. Der Gedanke war ihr aufgestiegen, vielleicht könne er auch mal die Mutter schlagen, wenn sie ihm im unrechten Augenblicke darein rede. Aber am meisten quälte sie die Angst, ihr Vater könne zu seinem jetzigen Unglück noch den Jammer hinzufügen, vor Wuth und Erbitterung etwas wirklich schlechtes zu thun. Gegen den Druck dieser Angst konnte das zerlesene Schulbuch von Tom, welches sie auf dem Schooße hielt, ihr keine Kraft verleihen, und immer wieder und wieder hatten sich ihre Augen mit Thränen gefüllt und in's Leere gestarrt und weder die Kastanienbäume in der Nähe noch den fernen Horizont gesehen, sondern nur künftige Scenen von häuslichem Unglück.

Plötzlich weckte sie aus ihrer Träumerei das Geräusch des knarrenden Thorweges. Es war nicht Tom, der herein kam, sondern ein Mensch mit einer Mütze von Seehundsfell und einer blauen Plüschweste, der einen Packen auf dem Rücken trug; ein Dachshund mit geflecktem zottigem Fell und trotzigem Aussehen ging hinter ihm her.

»O Bob, Ihr seid's!« rief Gretchen und sprang ihm mit einem Lächeln freudiger Wiedererkennung entgegen; sie hatte in der letzten Zeit nicht zu viel Freundlichkeit erfahren, welche die Erinnerung an Bob's Großmuth hätte verwischen können; »ich freue mich recht, Euch wiederzusehen.«

»Danke schön, Fräulein«, sagte Bob, nahm seine Mütze ab und lachte mit dem ganzen Gesichte; aber er schien doch etwas verlegen und wandte sich, um es zu verbergen, an seinen Hund, und sagte entrüstet: »pack Dich fort, Du vermaledeiter Schotte!«

»Mein Bruder ist noch nicht zu Hause«, sagte Gretchen; »den Tag über ist er immer in der Stadt.«

»Nun, Fräulein«, erwiderte Bob, »ich würde mich zwar recht freuen, Herrn Tom zu sehen, aber darum bin ich diesmal nicht gekommen; ich will Ihnen was zeigen.«

Damit legte Bob seinen Packen auf die Schwelle des Hauses und daneben eine Anzahl kleiner Bücher, die mit Bindfaden zusammengebunden waren. Indeß waren es offenbar nicht diese Sachen, die er Gretchen zeigen wollte, sondern etwas anderes, was er in einem rothen Taschentuch eingewickelt unterm Arm trug.

»Sehn Sie mal«, sagte er, indem er das rothe Päckchen auf die andern legte und loswickelte; »Sie werden hoffentlich nicht meinen, ich nehme mir zu viel heraus, Fräulein, aber diese Bücher kamen mir grade in den Wurf, un' da dacht' ich, sie könnten Ihnen vielleicht helfen, für die andern, die fort sind; Sie sprachen doch neulich von Bildern, und Bilder – na, sehn Sie mal hier!«

Das rothe Taschentuch enthielt, wie sich jetzt zeigte, ein vorjähriges Album für Damen und ein halb Dutzend Hefte einer Gallerie berühmter Männer in groß Oktav, und die letzte nachdrückliche Einladung Bob's bezog sich auf ein Porträt Georgs des Vierten in aller Majestät seines platten Schädels und seiner mächtigen Halsbinde.

»Hier haben Sie alle Sorten von Herren«, fuhr Bob fort und schlug mit einer gewissen Aufregung die Blätter um, »mit allen Sorten von Nasen, un' welche sind Kahlköpfe, un' welche haben Perrücken – 's sind Parlementers, glaub' ich. Und hier«, fügte er hinzu, indem er das Album aufschlug, »hier haben Sie lauter Damen, welche mit Locken, un' welche mit glattem Haar, un' welche halten den Kopf schief un' lächeln, un' welche sehen aus, als ob sie weinen wollten. – Da sehn Sie mal, da sitzt eine vor dem Hause auf der Erde, die ist grade so angezogen wie die Damen, die aus dem Wagen steigen, wenn im Stadthause Ball ist. Herrje, ich möchte wohl wissen, was die Kerls anhaben, die so 'nen Damen den Hof machen! Vorige Nacht habe ich bis nach zwölfe aufgesessen und sie angeguckt, bis sie mich aus den Bildern wieder anguckten, als verständen sie, wenn ich ihnen was sagte. Aber soll mich dieser und jener! ich wüßte nicht, was ich ihnen sagen sollte. Für Sie passen sie besser, und der Büchermann sagte, es wäre ganz was ausgezeichnetes, alle andern Bilder wären nix dagegen.«

»Und Ihr habt sie für mich gekauft, Bob?« sagte Gretchen, tief gerührt von dieser einfachen Güte. »Wie sehr, sehr freundlich von Euch! Aber ich fürchte, Ihr habt ein hübsch Stück Geld dafür bezahlt.«

»Ich viel Geld – ne!« antwortete Bob. »Aber ich hätte dreimal soviel dafür gegeben, wenn sie Ihnen die andern etwas ersetzten, die Ihnen neulich verkauft sind. Ich hab's nicht vergessen, wie Sie aussahen, als Sie so erschracken, daß die Bücher weg waren; es hat sich mir so eingeprägt, als wär's 'n Bild an der Wand, un' als ich nun das Buch offen liegen sah, wo die Dame herausguckte mit solchen Augen, ungefähr wie Sie neulich, als Sie so erschracken – Sie entschuldigen doch, Fräulein, daß ich mir das herausnehme – da dacht' ich, ich wollt' mir die Freiheit nehmen, un's für Sie kaufen, un' denn kauft' ich auch die Bücher mit den Herren so als Gegenstück, un' denn« – hier nahm Bob das kleine zusammengebundene Päckchen Bücher auf – »un' denn dacht' ich, Sie nähmen wohl auch ein bischen Gedrucktes zu den Bildern, un' da hab' ich diese für'n Butterbrod gekauft; sie sind ganz eng vollgedruckt, und ich glaubte, 's könnte nichts schaden, wenn ich sie zu den andern wunderschönen Büchern mitbrächte. Un' ich hoffe, Sie sagen nicht nein, Sie wollten sie nicht haben, wie Herr Tom damals bei den Goldstücken.«

»Nein, gewiß nicht, Bob«, sagte Gretchen, »ich bin Euch recht dankbar, daß Ihr an mich gedacht habt und so freundlich seid gegen mich und Tom. So aufmerksam ist noch keiner gegen mich gewesen. Ich habe nicht viele Freunde, die sich um mich bekümmern.«

»Halten Sie sich 'n Hund, Fräulein! Das sind bessere Freunde als alle Christenmenschen«, sagte Bob, indem er seinen Packen wieder hinlegte, den er aufgenommen hatte, um rasch fortzukommen; er fühlte doch immer eine beträchtliche Verlegenheit bei der Unterhaltung mit einem jungen Fräulein wie Gretchen; nur ging, wie er gewöhnlich zu sich selbst sagte, seine Zunge mit ihm durch, wenn er mal zu sprechen anfing. »Meinen Mumps kann ich Ihnen nich' geben, 's bräche ihm's Herz, wenn er von mir müßte, – nicht wahr, Mumps, Du Zottelbär? (Mumps lehnte jede weitere Erklärung ab und wedelte blos einmal zustimmend mit dem Schwanze.) Aber ich will Ihnen 'nen jungen Hund schaffen, Fräulein, un' das recht gern.«

»Nein, Bob, ich danke Euch, wir haben einen Hofhund, und für mich allein kann ich nicht noch einen halten.«

»I, das ist recht schade; sonst wüßt' ich wohl 'nen jungen Hund, wenn's Ihnen nicht drauf ankommt, daß er nicht von ganz reiner Race ist; die Alte spielt mit in der Harlekin-Bude; ein unbändig kluges Thier, in ihrem Bellen ist mehr Verstand, als in den meisten Leuten ihrem Sprechen vom Frühstück bis zum Abendbrod. Da is 'n Kerl, der verkauft Töpfe – un' 'n recht armseliges gemeines Geschäft ist's mit den Töpfen – der sagt: »I, Toby ist blos 'n Bastard, was sieht man an der?« Aber ich hab'm gesagt: »I, was bist Du denn selbst anders als 'n Bastard? An Deinen Eltern muß auch was rechts gewesen sein, wenn man Dich ansieht.« Ich halte zwar auch auf Race, aber wenn ein Köter den andern schlecht macht, das kann ich nicht leiden. Wünsch' Ihnen guten Abend, Fräulein«, brach er plötzlich ab und nahm den Packen wieder auf, da er wohl merkte, er habe seine Zunge mal wieder nicht im Zaume.

»Wollt Ihr nicht mal des Abends kommen, Bob, wenn mein Bruder da ist?« fragte Gretchen.

»O, Sie sind sehr freundlich; recht gern, ein ander Mal. Einen schönen Gruß an Herrn Tom, wenn Sie so freundlich sein wollen. Er ist hübsch groß geworden, der junge Herr; er hat sich früh an's Wachsen gegeben, ich nicht.«

Der Packen lag wieder mal unten; der Haken des Stockes, an dem er ihn trug, hatte sich umgedreht.

»Ihr nennt doch Mumps keinen Köter?« fragte Gretchen, die sich wohl denken konnte, daß jede Aufmerksamkeit für Mumps seinem Herrn angenehm wäre.

»I ne, Fräulein, das gewiß nicht«, antwortete Bob, mitleidig lächelnd; »Mumps is 'n so hübsches Thier, wie man nur eins sehen kann, den ganzen Fluß lang, un' ich bin doch hübsch herumgekommen. Die vornehmen Leute bleiben auch ordentlich stehn un' sehn 'n sich an, aber Mumps achtet nicht weiter drauf, der hütet sich wohl, er hat was besseres zu thun, so'n Hund wie der.«

Mumps machte dazu ein Gesicht, als wolle er dieses hohe Lob durchaus bestätigen.

»Er sieht schrecklich böse aus«, meinte Gretchen; »ob er sich wohl von mir streicheln läßt?!«

»I gewiß wird er das, und Ihnen noch dazu danken. Er kennt ja seine Leute, der Mumps. Er ist kein Hund, der sich mit Kuchen fangen läßt, er riecht den Dieb viel eh'r als den Kuchen, darauf können Sie sich verlassen. Ich unterhalte mich auch mit ihm manche liebe Stunde, wenn ich grade in einsamer Gegend bin, un' wenn ich mal was ausgefressen habe, dann sag ich's ihm jedesmal. Ich habe kein Geheimniß vor Mumps. Von meinem breiten Daumen, das weiß er auch.«

»Von Eurem breiten Daumen, – was ist das, Bob?« fragte Gretchen.

»Da haben Sie's, Fräulein«, antwortete Bob rasch und zeigte ein merkwürdig breites Exemplar dieses Körpertheils, wodurch sich der Mensch vom Affen unterscheidet. »Der Daumen macht was aus beim Flanell messen, sehn Sie. Ich führe Flanell, weil sich das leicht trägt, un' 's ist theure Waare, un' so'n breiter Daumen verschlägt was. Un' da halt' ich den Daumen an's Ende von der Elle und schneide davor ab, das merken die alten Weiber nicht.«

»Aber Bob«, sagte Gretchen und blickte ihn ernsthaft an, »das heißt ja betrügen; so was hör' ich nicht gern von Euch.«

»Wirklich nicht, Fräulein?« sagte Bob traurig; »denn thut's mir leid, daß ich's gesagt habe. Aber ich bin so dran gewöhnt, mit Mumps zu sprechen, un' der macht sich nichts aus so'n bischen betrügen bei den Geizhälsen von alten Weibern, die immer knickern und knickern und am liebsten ihren Flanell geschenkt nähmen, und garnicht darnach fragen, ob ich auch mein Essen dabei verdiene. Ich betrüge keinen, der mich nicht betrügen will, Fräulein; Herrjes, ich bin so'n ehrlicher Kerl, das glauben Sie nur, blos so'n bischen Spaß muß dabei sein, un' seit ich nichts mehr mit Frettchen zu thun habe, sind die knickrigen alten Weiber meine einzige Jagd. Ich wünsche Ihnen guten Abend, Fräulein.«

»Guten Abend, Bob. Nochmals vielen Dank für die Bücher. Und kommt doch ja wieder und besucht meinen Bruder.«

»Ja wohl, Fräulein«, antwortete Bob und trat einige Schritte zurück; dann drehte er sich halb um: »Die Geschichte mit dem breiten Daumen will ich dran geben, wenn Sie deshalb schlecht von mir denken, Fräulein, aber eigentlich ist's doch recht schade. Ich weiß nicht leicht wieder so'nen guten Streich, und wozu hätt' ich denn sonst den breiten Daumen? Denn könnt'r ja eben so gut schmal sein.«

So machte Bob Gretchen zu seiner Schutzpatronin, aber diese mußte wider Willen lachen, und nun zwinkerte ihr Verehrer auch mit seinen blauen Augen, und unter so freundlichen Auspizien trennten sie sich.

Der Wiederschein von Fröhlichkeit verschwand bald wieder aus Gretchens Gesichte, und ihre trübe Stimmung wurde ihr nur um so fühlbarer. Sie war so niedergeschlagen, daß sie etwaigen Fragen über die neuen Bücher lieber aus dem Wege ging; sie trug sie daher in ihr Schlafzimmer und setzte sich auf den einzigen Stuhl, ohne auch nur in die Bücher hineinzusehen. Sie lehnte ihre Wangen gegen das Fenster und dachte, der lustige Bob habe doch ein viel glücklicheres Loos als sie.

Das Gefühl der Einsamkeit und Freudlosigkeit war bei Gretchen mit der Pracht des immer weiter sich entwickelnden Frühlings immer tiefer geworden. Die Plätze aller ihrer stillen Freuden, die sie mit den Eltern um die Wette gehegt und gepflegt zu haben schien, hatten nun etwas von der Traurigkeit im Hause, und kein Sonnenschein entlockte ihnen ein Lächeln. Jede Liebe, jede Freude, die das arme Kind gehabt hatte, war ihr jetzt so zu sagen ein Nerv, welcher weh that. Nirgend hörte sie jetzt mehr Musik, kein Klavier ertönte mehr, kein harmonischer Menschengesang, keine köstlichen Saiteninstrumente, aus denen es ihr hervorklang wie leidenschaftliche Rufe gefesselter Geister, die mit wunderbarem Schwingen in ihrer Seele wiederhallten. Von ihrer ganzen Schulzeit war ihr nichts geblieben als die kleine Sammlung von Schulbüchern, und diese durchblätterte sie mit wahrem Widerwillen, weil sie alle fast auswendig kannte und nun keine Erheiterung mehr darin fand. Schon in der Schule hatte sie oft nach Büchern verlangt, wo mehr drin stände; alles, was sie da lernte, schien ihr wie die Enden von langen Fäden, die sogleich wieder aufhörten. Und jetzt, wo der Reiz des lernbegierigen Ehrgeizes aus der Schule fehlte, war der Telemach reine Spreu, und die harten trockenen Fragen der christlichen Glaubenslehre nichts besseres. Sie mundeten ihr nicht, sie stärkten sie nicht. Bisweilen meinte Gretchen, sie würde zufrieden sein, wenn sie sich in lauter Phantasieen verlieren könnte; sie hätte alle Romane von Walter Scott und alle Gedichte von Byron haben mögen! Dann hätte sie sich vielleicht glücklich genug gefühlt, um sich gegen ihr tägliches Leben abzustumpfen. Und doch, das war's nicht, was sie brauchte. Eine Traumwelt konnte sie sich selbst aufbauen, aber keine Traumwelt hätte sie jetzt befriedigt. Was sie bedurfte, war vielmehr, das harte wirkliche Leben zu verstehen – zu verstehen, was dieser unglückliche Vater bedeute, der an dem stummen Frühstückstische saß, – was die kindische, ganz aus dem Texte gebrachte Mutter, was die kleinliche schmutzige Arbeit, womit man die Zeit ausfüllte, oder die noch drückendere Leere der trägen freudlosen Muße, – was das Verlangen nach einer zärtlichen thatkräftigen Liebe, was das grausame Bewußtsein, daß Tom sich garnicht darum kümmerte, wie sie empfand und dachte, und daß sie nicht länger Spielkameraden waren, – was endlich die Entbehrung aller Lebensfreude, unter der sie vor allen andern litt – kurz, sie brauchte einen Schlüssel, um die schwere Last, die ihr auf das junge Herz gefallen war, begreifen und durch das Begreifen ertragen zu lernen. Wenn sie so viel wüßte und so klug wäre, wie die großen Männer, dann, meinte sie, würde sie die Geheimnisse des Lebens verstehen, und wenn sie doch nur Bücher hätte, um jetzt für sich zu lernen, was die großen Männer wußten! Für Heilige und Märtyrer hatte sich Gretchen nie so interessirt, wie für Philosophen und Dichter; sie wußte von ihnen überhaupt nicht viel und hatte höchstens die allgemeine Vorstellung, sie seien eine zeitweilige Abwehr gegen die Ausbreitung des Katholizismus und schließlich alle in Smithfield gestorben.

Mitten in diesen Grübeleien fiel ihr einmal ein, sie habe sich noch garnicht Tom's Schulbücher angesehen, die ihm von Stelling nachgeschickt waren. Aber wunderbarer Weise war der Vorrath nur sehr gering, und es waren meist die alten gründlich zerlesenen Bücher – ein lateinisches Wörterbuch und eine Grammatik, eine Anthologie, ein zerlederter Eutrop, der vielgebrauchte Virgil, die Anfangsgründe der Logik und der entsetzliche Euklid. Indeß, Lateinisch, Mathematik und Logik waren doch immer schon ein recht tüchtiger Schritt vorwärts zu der Weisheit der Männer, zu der Erkenntniß, welche die Männer zufrieden, ja glücklich machte. Und so fing das arme Kind, deren Seele hungerte und durstete, die dickhäutige Frucht vom Baum der Erkenntniß zu benagen an und füllte ihre leeren Stunden mit Latein, Mathematik und der Lehre von den Schlüssen und fühlte dann und wann einen kleinen Triumph, daß ihr Verstand diesen Studien der Männer durchaus gewachsen sei. Die ersten paar Wochen ging's tapfer genug vorwärts, obschon ihr bisweilen das Herz sank, als hätte sie sich ganz allein nach dem gelobten Lande aufgemacht und fände die Reise staubig, mühsam und unsicher. Im ersten Eifer nahm sie wohl die Anfangsgründe der Logik mit hinaus in's Freie und blickte da von dem Buche weg nach dem Himmel, wo hoch im Blauen die Lerche wirbelte, oder nach dem Röhricht und dem Gebüsch am Flusse, woraus das Wasserhuhn mit schwerem Fluge hervorrauschte, und dabei überkam sie das ängstliche Gefühl, ihre Logik und diese lebendige Welt ständen doch nur in einer ganz entfernten Beziehung zu einander. Die Entmuthigung nahm immer zu, und der Heißhunger ihres Herzens gewann es über die Geduld des Geistes. Oft, wenn sie mit ihrem Buche am Fenster saß, hefteten sich ihre Augen unbewußt auf den Sonnenschein draußen, dann füllten sie sich mit Thränen, und bisweilen, wenn sie ganz allein im Zimmer war, endete alles Studiren in Schluchzen. Sie empörte sich gegen ihr Schicksal, sie erlag unter der Einsamkeit, und selbst Ausbrüche von Aerger und Haß gegen Vater und Mutter, die so ganz anders waren, als sie gewünscht hätte, und gegen Tom, der sie immerfort einengte und all ihr Denken und Fühlen mit schneidender Gleichgültigkeit erwiderte, überschütteten bisweilen wie ein Lavastrom ihre natürlichen Neigungen und ihr Gewissen, so daß sie mit Schauder empfand, sie sei halb auf dem Wege, ein Dämon zu werden. Dann brütete sie eifrig über einer wildromantischen Flucht aus dem Vaterhause, um sich ein weniger schmutziges und trübes Leben zu suchen; zu irgend einem großen Manne wollte sie gehen, vielleicht zu Walter Scott, und ihm sagen, wie elend sie sei und wie gescheut, und dann thäte der gewiß etwas für sie. Aber mitten in dieser Vision trat dann wohl ihr Vater in's Zimmer, verwunderte sich, daß sie so still saß, ohne ihn zu beachten und sagte kläglich: »nun, Gretchen, soll ich mir meine Pantoffeln selbst holen?« Die Stimme drang Gretchen wie ein Schwert in's Herz; es gab also noch anderes Unglück, als ihr eigenes, und sie hatte daran denken können, ihm den Rücken zu kehren und es im Stich zu lassen!

Heute Nachmittag hatte der Anblick von Bob's lustigem Gesichte ihrem Mißvergnügen eine neue Richtung gegeben. Es schien ihr zu dem schweren Schicksal zu gehören, unter welchem sie litt, daß sie die Last größerer Bedürfnisse zu tragen habe als andre; daß sie dieses unbegrenzte hoffnungslose Sehnen nach jenem unbekannten Etwas fühlte, was das Größte und Beste auf der Erde sei. Sie hätte wie Bob sein mögen, mit seiner leicht befriedigten Unwissenheit, oder wie Tom, der etwas zu thun hatte, worauf er mit Vernachlässigung alles andern Sinn und Willen unverrückt gerichtet hielt. Das arme Kind! Wie sie den Kopf an den Fensterrahmen lehnte, ihre Hände immer fester in einander verschlang und mit dem Fuße auf den Boden stampfte, da war sie so verlassen in ihrem Elend, als wäre sie in der ganzen civilisirten Welt von damals das einzige Mädchen, das nicht schon in der Schule für unvermeidliche Kämpfe eingeschult war, das von seinem Erbtheil an den schwer errungenen Schätzen des Gedankens, welche das schmerzliche Ringen von Jahrhunderten für das Menschengeschlecht zu Tage gefördert hat, nichts weiter besaß, als ein paar dürftige Fetzen von armseliger Literatur und unwahrer Geschichte, – die einzige, die von Sachsenkönigen und andern Fürsten zweifelhaften Charakters allerlei unnütze Kenntniß hatte, aber von den ewigen Gesetzen in und außer ihr unglücklicherweise der Kenntniß ganz entbehrte, welche durch die Herrschaft über die Sitten der Menschen Moral wird, und durch die Entwickelung der Gefühle des Gehorsams und der Abhängigkeit Religion wird; – so verlassen in ihrem Elend, als wäre jedes andre Mädchen außer ihr liebevoll gehegt und gepflegt von vorgeschrittneren Geistern, die ihre eigne Jugend noch nicht vergessen hatten, wo das Herz noch von Sehnsucht brannte und von mächtigen Trieben schlug. Endlich fielen Gretchens Augen auf die Bücher, die auf dem Fensterbrett lagen, und sie schüttelte ihre Träumerei ein wenig ab, um theilnahmlos in der Gallerie berühmter Männer zu blättern. Aber bald legte sie diesen Band beiseite, um sich die kleinen Bücher anzusehen, welche Bob mit Bindfaden zusammengebunden hatte. »Ausgewählte Stellen aus dem Spectator«, »Rasselas«, »der Haushalt der Natur« und dergl. – das kannte sie so ziemlich; »das christliche Jahr« – wahrscheinlich ein Gesangbuch, und sie legte es wieder hin; aber Thomas a Kempis? – der Name war ihr früher schon beim Lesen aufgestoßen, und sie empfand die Freude, die jeder empfindet, wenn er einem Namen, der bisher in seinem Gedächtniß vereinzelt stand, einige Thatsachen oder Gedanken anhängen kann. Mit einer gewissen Neugierde nahm sie das alte dicke Büchlein in die Hand; an vielen Blättern waren die Ecken umgeschlagen, und gewisse Stellen hatte eine Hand, die nun für immer ruhte, stark mit Dinte angestrichen, welche mit der Zeit verblaßt war. Ein Blatt nach dem andern schlug Gretchen um und las, wohin die fremde Hand deutete Die folgenden Stellen aus Thomas a Kempis nach der Uebersetzung von Johannes Goßner. … »Glaub' es doch, daß nichts in der ganzen Welt Dir so sehr schadet als Deine Eigenliebe … Wenn Du aber bald dies bald jenes suchst, wenn Du bald da bald dort sein willst, wo Du mehr eigene Vortheile erwartest oder wo es Dir besser gefällt, so wirst Du nie zur wahren Ruhe gelangen, nie frei von Sorgen bleiben; denn an jeder Sache wirst Du einen Fehler, und an jedem Orte einen Widersacher finden … Wende Dich nach oben, wende Dich nach unten, kehre Dich nach innen oder drehe Dich nach außen, – nach allen Richtungen und Wendungen wirst Du ein Kreuz finden, und überall, wo Du immer bist, Geduld nöthig haben, wenn Du anders den innern Frieden bewahren und die ewige Krone erkämpfen willst … Wenn Du diese Höhe ersteigen willst, so mußt Du mit männlichem Muthe anfangen und die Axt an die Wurzel legen, um auszurotten und zu zerstören alle geheimen Neigungen zu Dir selbst und allen irdischen Gütern, daran Du besonders hängst. Aus diesem einen Laster, daß der Mensch sich selbst ungeordnet liebt, entspringt fast alles andere Böse, das mit der Wurzel ausgerottet werden muß. Wer also diese grundböse Neigung in sich besiegt und unterjocht hat, der wird sogleich großen Frieden und große Ruhe besitzen … Alles was Du leidest, ist sehr wenig im Vergleich mit denen, die so vieles gelitten haben, so heftig versucht, so schwer geplagt, so mannigfaltig geprüft und geübt worden sind. Du mußt Dir die größeren Leiden anderer zu Gemüthe führen, damit Du Deine geringeren Leiden desto leichter trägst. Und wenn Dir Deine Leiden nicht gering scheinen, so siehe zu, ob nicht auch nur Deine Ungeduld es ist, die sie größer macht, als sie sind … Selig sind die Ohren, die das leise Wehen des göttlichen Geistes vernehmen und auf das Geräusch dieser Welt nicht achten! Ja wahrhaftig, selig die Ohren, die nicht horchen auf die Stimme, die von außen erschallt, sondern auf die Wahrheit, die inwendig lehret!«

Ein wundersamer Schauer durchrieselte Gretchen, als sie diese Stellen las; es war ihr, als erwache sie mitten in der Nacht von den Klängen einer feierlichen Musik und höre da von Wesen erzählen, deren Seelen sich regten, während ihre eigene in starrem Schlafe lag. Von Zeichen zu Zeichen las sie weiter, wohin die fremde Hand deutete; kaum glaubte sie noch zu lesen, sie meinte eine leise Stimme sagen zu hören:

»Was schaust Du hier viel umher? Hier ist nicht das Land der Ruhe für Dich. Im Himmlischen suche Ruhe, dort wirst Du sie finden. Alle irdischen Dinge sollst Du nur im Vorbeigehen ansehen. Alle Dinge vergehen, und auch Du mit ihnen. Sieh' zu, daß Du Dich nicht daran hangest, damit Du nicht davon eingenommen und gefangen werdest und mit zu Grunde gehest … Wenn der Mensch alle seine Habe hingiebt, so ist es so viel als nichts, und wenn er die strengste Buße thut, so ist es auch noch sehr wenig. Wenn er in allen Wissenschaften bewandert wäre, so ist er doch noch fern, und wenn er eine große Tugend und brennende Andacht hätte, so fehlte ihm noch vieles; doch eigentlich nur Eines, aber das Eine, das vor allem andern höchst nothwendig ist. Was ist dieses? Daß er, nachdem er alles andere verlassen hat, auch sich selbst verläßt, ganz von sich selbst ausgeht, und aller Eigenliebe auf immer und ohne Vorbehalt den Abschied giebt … Ich habe es Dir oft gesagt und sage es Dir wieder. Verlaß Dich selbst, übergieb Dich mir, so wirst Du großen innern Frieden genießen … Dann verschwinden alle eitle Traumbilder der Einbildung, alle Beunruhigungen des Gemüths, alle überflüssigen Sorgen des Herzens. Dann wird die unmäßige Furcht von Dir fliehen und die ungeordnete Liebe sterben.«

Gretchen athmete tief auf und strich sich das schwere Haar zurück, wie wenn sie eine plötzliche Erscheinung noch deutlicher sehen wollte. Hier also war ein Lebensgeheimniß aufgeschlossen, für welches sie allen andern Geheimnissen entsagen konnte; hier war eine erhabene Höhe, zu der sie sich ohne jede Hülfe von außen aufzuschwingen vermochte; hier war Einsicht und Kraft und Sieg, und dies alles war lediglich aus ihrem Innern heraus zu gewinnen, wo ein höchster Lehrer nur darauf wartete, daß sie ihn höre.

Wie die plötzliche Lösung eines Räthsels durchzuckte es sie, all das Elend ihres jungen Lebens sei nur davon hergekommen, daß sie ihr Herz auf die eigene Lust gesetzt habe, als sei dies die Nothwendigkeit, um welche das Weltall sich drehe, und zum ersten Male sah sie die Möglichkeit vor sich, die Stellung zu ändern, von der sie die Befriedigung ihrer eigenen Wünsche ansah, und aus sich selbst herauszutreten und ihre Einzelexistenz als einen unbedeutenden Theil eines unter göttlicher Leitung stehenden Ganzen aufzufassen. Immer weiter las sie in dem alten Buche und verschlang eifrig die Gespräche mit dem unsichtbaren Lehrer, der Quelle alles Guten; dann wurde sie abgerufen, kehrte aber sogleich zu dem Buche zurück und las, bis die Sonne hinter den Weiden unterging. Mit dem ganzen Ungestüm einer Einbildungskraft, die nie in der Gegenwart Ruhe fand, saß sie bei der zunehmenden Dämmerung und machte Pläne von Erniedrigung und völliger Hingebung, und in dem Eifer der ersten Entdeckung schien ihr Entsagung der Anfang jener Zufriedenheit, nach der sie so lange vergebens geschmachtet hatte. Die innerste Wahrheit in den Herzensergießungen des alten Mönchs, daß die Entsagung zwar ein freiwillig ertragenes Leiden ist, aber doch immer ein Leiden bleibt, die erkannte sie nicht; dazu war sie zu jung. Sie schmachtete nach Glück und war außer sich vor Entzücken, den Schlüssel dazu gefunden zu haben. Von Glaubenslehren und dogmatischen Systemen, von Mysticismus und Pietismus wußte sie nichts, aber diese Stimme aus dem fernen Mittelalter war der unmittelbare Erguß des Glaubens und der Erfahrung einer menschlichen Seele, und sprach an Gretchens Herz wie eine unerbetene Botschaft.

Darin liegt, wie ich vermuthe, der Grund, warum dies kleine altmodische Buch, das nur ein paar Groschen kostet, bis auf den heutigen Tag noch Wunder wirkt und bittre Wasser in Süßigkeit verwandelt, während kostspielige Predigten und Abhandlungen aus der neuesten Zeit wirkungslos verhallen. Jenes Buch hat eine Hand geschrieben, die auf das Gebot des Herzens wartete; es ist die Geschichte eines einsamen verborgenen Jammers, Kampfes, Vertrauens und Triumphes, und nicht geschrieben auf schwellenden Kissen, um diejenigen Geduld zu lehren, welche mit blutenden Füßen auf harten Steinen gehen. Und so bleibt es für alle Zeiten ein dauernder Bericht von menschlicher Noth und menschlichem Trost, – die Stimme eines Bruders, der vor Jahrhunderten fühlte und litt und entsagte, der vielleicht in einem Kloster in härenem Gewande und mit der Tonsur auf dem Kopfe ging, viel singen mußte und lange fasten, ganz anders sprach und sich ausdrückte als wir, aber denselben schweigenden Himmel über sich hatte und in sich dieselben leidenschaftlichen Wünsche, dasselbe Sehnen, dieselben Enttäuschungen, dieselbe Qual und Ermattung.

In die weit verbreiteten Schwingungen dieser Stimme aus der Vergangenheit gerieth nun Gretchen, das Kind, das halberwachsene Mädchen. Nach dem, was wir schon von ihr wissen, wird es uns nicht überraschen, daß sie selbst in ihre Entsagung etwas Uebertreibung und Eigensinn, etwas Stolz und Ungestüm legte; noch war ihr eigenes Leben für sie ein Drama, in welchem sie ihre Rolle, wie sie von sich selbst forderte, mit Kraft und Nachdruck spielen mußte. Und so kam es denn, daß sie oft gegen den Geist der Demuth sündigte, indem sie die äußere Schaustellung übertrieb; sie versuchte oft zu hohen Flug und patschte mit ihrem schwachen, halbflüggen Gefieder in den – Schmutz. So z. B. beschloß sie nicht nur gewöhnliche Näharbeit zu machen, um auch zu dem Vorrathe in der Blechbüchse beizutragen, sondern sie ging auch im ersten Eifer in eine Leinenhandlung der Stadt und bat um Arbeit, statt sie sich durch Vermittlung eines Dritten mehr unter der Hand zu verschaffen, und fand es nachher sehr unrecht und unfreundlich, als Tom sie wegen ihrer überflüssigen Bemühungen mit den Worten tadelte: »ich kann's nicht leiden, daß Du als meine Schwester so was thust; ich will schon dafür sorgen, daß die Schulden bezahlt werden, und Du brauchst Dich nicht so weit zu erniedrigen.« Ohne Zweifel lag in diesen weltlichen, selbstbewußten Worten zugleich viel Zärtlichkeit und tapferer Sinn, aber Gretchen übersah die Goldkörner, sah nur die Schlacke und nahm Tom's Zurechtweisung als einen Theil des Unglücks hin, unter welchem sie mal leiden mußte. Wenn sie die langen Nächte durchwachte, dachte sie immer, Tom sei doch recht hart gegen sie, und das sei nun der Dank für alle ihre Liebe, und dann suchte sie wieder sich mit dieser Härte auszusöhnen und vollkommen zu beruhigen. Das ist der Weg, den wir alle wandeln, wenn wir den Pfad der Selbstsucht verlassen; jener Weg des Märtyrerthums und der Hingebung, an dem zur Seite die Palmenzweige wachsen, den gehen wir lieber als die steile Straße der Duldung, der Nachsicht und der Selbstanklage, wo es keine Ehrenkränze giebt.

Die alten Bücher, Virgil, Euklid und die Anfangsgründe der Logik – diese welke Frucht am Baume der Erkenntniß – hatte Gretchen ganz bei Seite gelegt, seit sie aller Eitelkeit dieser Welt den Rücken gekehrt und sich ganz der Gedankenwelt der Weisen zugewandt hatte. Im ersten Eifer warf sie die Bücher mit einem gewissen Triumphe fort, daß sie sich nun soweit erhoben habe, ihrer nicht mehr zu bedürfen, und wenn sie ihr Eigenthum gewesen wären, so hatte sie sie verbrannt und sich dabei eingeredet, sie würde es nie bereuen. Ihre drei Lieblingsbücher dagegen, die Bibel, den Thomas a Kempis und »das christliche Jahr« (welches sie nicht mehr als ein Gesangbuch verwarf) las sie so eifrig und unaufhörlich, daß sich ihr Geist mit einem ununterbrochenen Strome rhythmischer Klänge füllte, und sie brannte zu sehr darauf, Natur und Leben in dem Lichte ihres neuen Glaubens sehen zu lernen, als daß sie eine andere Beschäftigung für ihren Geist bedurft hätte, wenn sie fleißig bei der Arbeit saß und Hemden und andere schwere Näherei machte, die fälschlich einfach hieß; für Gretchen wenigstens war sie keineswegs einfach, weil Manschetten und Aermel die Eigenschaft hatten, daß in Augenblicken von Geistesabwesenheit der Hohlsaum leicht auf die verkehrte Seite kam.

Wenn sie so fleißig über der Arbeit hing, so bot Gretchen einen Anblick, den jeder mit Freuden gesehen hätte. Trotzdem die gebändigten Leidenschaften von Zeit zu Zeit wie von vulkanischer Kraft gehoben aufschwollen, strahlte doch das neue innere Leben auf ihrem Gesichte mit einem zarten und sanften Scheine wieder, der es nur lieblicher machte und sich so mit der zu immer größerer Vollkommenheit gediehenen Farbe und Form ihrer blühenden Jugend vermischte. Ihre Mutter schaute die Veränderung, die mit ihr vorging, mit wahrer Verwunderung an, daß Gretchen so merkwürdig hübsch heranwachse und daß dies einst so widerspänstige Kind so nachgiebig, so frei von jedem Eigenwillen werde. So oft Gretchen von ihrer Arbeit aufsah, fand sie die Augen der Mutter auf sich geheftet; sie lauerten förmlich auf den großen Blick der Jugend, als wenn sie in ihrem Alter von ihm die nöthige Wärme empfingen. Die Mutter gewann ihr großes braunes Mädchen immer lieber, da es das einzige im Hause war, was sie jetzt putzen und schmücken konnte, und trotz ihres eigenen asketischen Wunsches, keine persönliche Auszeichnung zu haben, mußte Gretchen in Bezug auf ihr Haar der Mutter nachgeben und sich die überflüssigen schwarzen Locken nach der jammervollen Sitte jener veralteten Zeiten zusammenflechten und in ein Nest oben auf den Kopf aufbinden lassen.

»Mach Deiner Mutter diese kleine Freude, Gretchen«, sagte Frau Tulliver; »ich habe früher Aerger genug mit Deinem Haar gehabt.«

Gretchen freute sich, ihrer Mutter einen Gefallen thun zu können und sich und ihr den langen Tag zu erheitern, und ließ sich daher den eitlen Schmuck gefallen. Königlich prangte ihr Kopf über den alten Kleidern, aber sie verweigerte hartnäckig, sich auch nur einmal im Spiegel zu besehen. Die Mutter lenkte dann gern die Aufmerksamkeit des Vaters auf dies köstliche Haar und andere überraschende Vorzüge Gretchens, aber er fertigte sie immer gut ab.

»Ich wußte recht gut, was mal aus ihr würde, schon vor langer lieber Zeit; jetzt liegt mir nichts dran; 's ist 'n wahrer Jammer, daß sie nicht von gewöhnlichem Stoffe ist; ich fürchte, sie wird doch nur weggeworfen; es heirathet sie keiner, der ihrer werth ist.«

Und wenn Gretchen an Leib und Seele immer schöner erblühte, so vermehrte das nur seine trübe Stimmung. Er saß geduldig dabei, wenn sie ihm Kapitel aus der Bibel vorlas oder eine schüchterne Bemerkung machte, daß Trübsal sich wohl in Segen verkehre. Er nahm das alles hin als einen Beweis von der Gutherzigkeit seiner Tochter, und empfand sein Unglück um so bittrer, als es ihre Aussichten im Leben verkümmerte. In einem Menschenherzen, welches von einem eifrigen Streben und einer unbefriedigten Rachsucht erfüllt ist, finden neue Gefühle keinen Platz; Vater Tulliver wollte keinen geistlichen Zuspruch, er wollte nur die Schande des Bankerotts abschütteln und seine Rache haben.


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