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Vierter Abschnitt.
Wieder eine Liebesscene

Früh im nächsten April, ungefähr ein Jahr nach dem zweifelhaften Abschied, dem wir eben beigewohnt haben, sehen wir Gretchen wieder ihren Weg nach dem rothen Grunde nehmen. Aber es ist früh am Nachmittage und nicht Abend, und bei der frischen Frühlingsluft hüllt sie sich fest in ihr großes Tuch und geht ein wenig rascher. Doch nimmt sie sich die Zeit, ihre geliebten Bäume sich ordentlich anzusehen. Ihre Augen blicken lebhafter, durchdringender, als im vorigen Juni, und ein Lächeln spielt um ihre Lippen, als ob ein heiteres Wort nur auf den rechten Zuhörer warte. Der Zuhörer ließ nicht lange auf sich warten.

»Die Corinna können Sie nur wiedernehmen«, sagte Gretchen, indem sie ein Buch unter dem Shawl hervorholte. »Sie hatten Recht, mir zu sagen, das Buch würde mir nicht gefallen, aber sehr Unrecht, zu glauben, ich möchte selbst Corinna sein.«

»Möchten Sie wirklich nicht die zehnte Muse sein, Gretchen?« sagte Philipp und sah ihr in's Gesicht mit einem Blick, wie man die Wolken zerreißen und zum ersten Male wieder den hellen Himmel sieht.

»Nicht im mindesten«, erwiderte Gretchen lachend. »Die Musen hatten es sehr unbequem als Göttinnen, sie mußten immer Rollen Pergament und Instrumente mit sich herumtragen. Und wenn ich in unserm Klima eine Harfe trüge, so müßte ich einen grünwollenen Ueberzug darüber haben, das würde sich hübsch machen, und ich ließe sie gewiß bei der ersten Gelegenheit irgendwo stehen.«

»Und das Buch selbst mögen Sie also nicht leiden?«

»Ich hab' es garnicht zu Ende gelesen«, sagte Gretchen. »Als ich dahin kam, wo die blonde junge Dame im Garten vorliest, machte ich das Buch zu und beschloß nicht weiter zu lesen. Dies hellblonde Ding, das sah ich schon kommen, macht alle Leute in sich verliebt und Corinna unglücklich. Ich will keine Bücher mehr lesen, wo die Blonden allein glücklich werden; ich bekäme sonst ein Vorurtheil gegen sie. Könnten Sie mir eine Geschichte geben, wo die Dunkle den Sieg behält, das brächte die Sache wieder in's Gleichgewicht. Ich will Rebekka und Flora Mac-Ivor und Minna und alle die andern unglücklichen Mädchen mit schwarzem Haar an den blonden rächen. Da Sie mein Lehrer sind, so müssen Sie mich gegen Vorurtheile schützen; Sie eifern ja immer gegen Vorurtheile.«

»Nun, vielleicht rächen Sie die Schwarzen in eigener Person und entziehen Ihrer Cousine Lucie alle Liebe. Gewiß hat sie jetzt einen hübschen jungen Mann aus der Stadt zu ihren Füßen, und Sie brauchen blos Ihr Licht leuchten zu lassen, und Ihre kleine blonde Cousine wird von Ihrem Glanze vollständig verdunkelt.«

»Philipp, das ist nicht hübsch von Ihnen, daß Sie meinem Unsinn solche Nutzanwendung geben«, sagte Gretchen gekränkt. »Als wenn ich mit meinen alten Kleidern und dem gänzlichen Mangel an gesellschaftlicher Bildung mich mit der lieben kleinen Lucie messen könnte, die so viel weiß und sich so reizend benimmt, und zehnmal so hübsch ist als ich, ganz zu geschweigen, ob ich schlecht genug wäre, ihre Nebenbuhlerin sein zu wollen. Uebrigens geh' ich auch nie zu Tante Deane, wenn Gesellschaft da ist; nur weil die liebe Lucie so gut ist und mich lieb hat, besucht sie mich und ladet mich bisweilen ein.«

»Gretchen«, sagte Philipp verwundert, »es ist doch sonst nicht Ihre Art, einen Scherz buchstäblich zu nehmen. Sie sind gewiß heut Vormittag in der Stadt gewesen und Ihr Scharfsinn hat in der langweiligen Luft gelitten.«

»Nun«, erwiderte Gretchen lächelnd, »wenn's ein Scherz sein sollte, dann war er sehr mäßig; ich fürchtete, es sollte eine Abfertigung für mich sein, und ich glaubte, Sie wollten mich erinnern, daß ich eitel bin und mich gern von allen bewundern lasse. Aber ich bin nicht darum eifersüchtig auf die Blonden, weil ich selbst zu den Schwarzen gehöre. Nur weil ich immer am meisten nach denen frage, denen es schlecht geht; wenn die verlassene Geliebte blond wäre, so hätte ich die blonden am liebsten. Ich nehme immer für den Partei, der unglücklich liebt und den Korb kriegt.«

»Dann brächten Sie's gewiß nicht selbst über's Herz, einen Korb zu geben, nicht wahr, Gretchen?« fragte Philipp leise erröthend.

»Ich weiß nicht recht«, sagte Gretchen zögernd, aber sogleich fuhr sie mit hellem Lächeln fort: »ich glaube doch, wenn er sehr eingebildet wäre; aber wenn er sich dann hübsch demüthigte, ließ ich mich erweichen.«

»Ich habe oft darüber nachgedacht, Gretchen«, sagte Philipp mit einiger Anstrengung, »ob Sie nicht am Ende jemand lieb haben könnten, den andre Mädchen und Frauen nicht leicht lieb gewönnen.«

»Das hinge davon ab, weshalb die andern ihn nicht leiden möchten«, antwortete Gretchen lachend. »Wenn er nun sehr unangenehm wäre! Er könnte einen ja durch einen Kneifer ansehen, was immer ein häßliches Gesicht macht. Denken Sie nur an den jungen Torry. Das mögen andre Frauen gewiß nicht leiden, und doch hab' ich für den jungen Stutzer nie Mitleid empfunden. Ich habe überhaupt mit eingebildeten Leuten kein Mitleid, weil mir scheint, sie haben's nicht nöthig, sondern fühlen sich immer oben auf.«

»Aber, Gretchen, nehmen Sie mal an, es sei jemand, der nicht eingebildet wäre, der sich bewußt wäre, er habe nichts, worauf er sich was einbilden könne – der von Kindheit auf mit einem besondern Leiden behaftet wäre – und für den Sie wären wie das Gestirn des Tages – der Sie liebte, Sie anbetete, mit einer Gluth, daß er es schon für Seligkeit achtet, wenn er Sie nur bisweilen sehen darf …«

Philipp hielt inne, weil ihn die Furcht durchbebte, sein Geständniß könne ihn um diese Seligkeit bringen, – dieselbe Furcht, die seiner Liebe so lange Monate hindurch Schweigen auferlegt hatte. Sobald er ein wenig zu sich selbst kam, fühlte er, wie thöricht er gewesen, so zu sprechen. Gretchen war heute so unbefangen und gleichgültig gewesen wie je.

Aber jetzt sah sie nicht mehr gleichgültig aus. Von der ungewöhnlichen Bewegung ergriffen, mit der Philipp sprach, hatte sie sich rasch zu ihm gewandt und ihn angesehen, und als er zu sprechen fortfuhr, kam eine große Veränderung über ihr Gesicht; sie erröthete leise und ihre Züge zuckten zusammen, wie wenn jemand eine Nachricht erhält, die ihm seine Vergangenheit in einem ganz neuen Lichte zeigt. Sie blieb ganz stumm, ging auf einen Baumstumpf zu und setzte sich darauf, als versagten ihr die Glieder den Dienst. Sie zitterte über und über.

»Gretchen«, sagte Philipp, dem jeder neue Augenblick des Schweigens neue Schrecken einjagte, – »Gretchen, ich war ein Narr, so zu sprechen; vergessen Sie, was ich gesagt habe. Es soll mir genügen, wenn's zwischen uns so bleibt wie bisher.«

Der tiefe Jammer, mit dem er das sagte, preßte Gretchen eine Antwort ab. »Sie haben mich so überrascht, Philipp – ich hatte an so was nie gedacht« und die Anstrengung, mit der sie das sagte, brachte ihr Thränen in die Augen.

»Sie hassen mich doch nicht, Gretchen?!« rief Philipp leidenschaftlich. »Sie halten mich doch nicht für einen anmaßenden Thoren?«

»O Philipp«, antwortete Gretchen, »wie können Sie das von mir denken! Als wenn ich nicht für jede Liebe dankbar wäre. Aber … aber, ich habe nie dran gedacht, daß Sie mich liebten. Es schien mir so fern – wie ein Traum – wie so eine Geschichte, die man sich ausdenkt – daß ich je einen Geliebten haben könnte.«

»Sie könnten also den Gedanken ertragen, daß ich Ihr Geliebter wäre, Gretchen?« sagte Philipp, indem er sich zu ihr setzte und mit plötzlich belebter Hoffnung ihre Hand ergriff. »Liebst Du mich, Gretchen?«

Gretchen erblaßte; die Frage so gradezu gestellt, schien ihr die Antwort nicht leicht. Aber sie sah Philipp in die Augen, die vor inbrünstiger Liebe wie verklärt glänzten. Sie antwortete zögernd, aber mit süßer, einfacher mädchenhafter Zärtlichkeit:

»Ich glaube, ich könnte kaum jemand mehr lieben; ich wüßte nichts an Dir, was ich nicht liebte.«

Sie schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Aber es ist wohl besser, wenn wir nichts mehr davon sagen, nicht wahr, lieber Philipp? Wir könnten ja nicht einmal Freunde sein, wenn man unsre Freundschaft entdeckte. Ich habe nie das Gefühl los werden können, daß ich Unrecht hätte bei unsern heimlichen Zusammenkünften, so köstlich sie in mancher Beziehung gewesen sind, und jetzt überfällt mich wieder die schlimme Befürchtung vor einem bösen Ausgang.«

»Aber noch hat es zu nichts bösem geführt, Gretchen, und wenn Du Dich früher von der Furcht hättest leiten lassen, dann hättest Du nur ein Jahr mehr in trauriger Verdumpfung hingebracht, statt wieder zu Deinem früheren Selbst aufzuleben.«

Gretchen schüttelte den Kopf. »Ja, es ist so süß gewesen, das weiß ich – alle unsre Gespräche und die Bücher und die Empfindungen, mit denen ich mich im voraus auf den Spaziergang freute, wo ich alles aussprechen konnte, was mir in der Einsamkeit in den Sinn gekommen war. Aber unruhig hat's mich gemacht, hat meine Gedanken wieder in die Welt zurückgelenkt, und ich bin wieder ungeduldig geworden – ich bin unsres häuslichen Lebens so müde – und dann schneidet's mir wieder in's Herz, daß ich je meines Vaters und meiner Mutter müde sein kann. Was Du Verdumpfung nennst, war doch besser, besser für mich, denn damals schliefen meine selbstsüchtigen Wünsche.«

Philipp war wieder aufgestanden und ging ungeduldig wieder auf und ab.

»Nein, Gretchen, Deine Begriffe von Selbstüberwindung sind falsch, das hab' ich Dir schon oft gesagt. Was Du Selbstüberwindung nennst – blind und todt zu werden gegen alles andre, außer gegen einen einzigen Zug Deines Innern – das ist für eine Natur wie die Deinige nichts andres als die Ausbildung einer fixen Idee.« Er hatte das etwas gereizt gesagt, aber jetzt setzte er sich freundlich zu ihr nieder und nahm sie bei der Hand.

»Gretchen, mein geliebtes Gretchen, denke jetzt nicht an die Vergangenheit, denke nur an unsre Liebe. Wenn Du wirklich von ganzem Herzen an mir hängst, so werden wir mit der Zeit jedes Hinderniß überwinden, wir brauchen nur zu warten. Ich kann von Hoffnung leben. Sieh mich an, Gretchen; sag' mir noch einmal, ob Du mich lieben kannst. Blicke nicht weg von mir auf den hohlen Baum; das ist ein böses Omen.«

Sie blickte ihn mit ihren großen dunklen Augen an und lächelte wehmüthig.

»Nun, Gretchen, sag' ein freundliches Wort; bei Pastor Stelling warst Du besser gegen mich. Du fragtest mich, ob ich einen Kuß von Dir haben möchte – weißt Du noch wohl? – Und Du versprachst mir einen Kuß, wenn wir uns widersähen. Das Versprechen hast Du nie gehalten.«

Die Erinnerung an diese Zeit der Kindheit kam für Gretchen wie ein süßer Trost. Der gegenwärtige Augenblick war ihr nicht mehr so befremdend. Beinahe so unbefangen und ruhig, wie damals, als sie erst zwölf Jahre alt war, küßte sie Philipp. Seine Augen flammten vor Entzücken, aber aus seinen Worten sprach Unzufriedenheit.

»Du scheinst nicht glücklich, Gretchen. Du zwingst Dich zu sagen, daß Du mich liebst – zwingst Dich aus Mitleid.«

»Nein, Philipp«, antwortete Gretchen und schüttelte den Kopf ganz in ihrer alten kindischen Weise; »ich sage Dir die Wahrheit. Es ist mir alles so neu und fremd, aber ich glaube nicht, daß ich einen mehr lieben könnte als Dich. Ich möchte immer bei Dir sein, möchte Dich glücklich machen. Immer bin ich glücklich gewesen, wenn ich bei Dir war. Nur eins kann ich nicht für Dich thun: ich kann nichts thun, was meinen Vater kränken würde. Das mußt Du nie von mir verlangen.«

»Nein, Gretchen, ich will nichts verlangen – ich will alles ertragen – will wieder ein ganzes Jahr auf einen Kuß warten, wenn Du mir nur den ersten Platz in Deinem Herzen geben willst.«

»Nein«, erwiderte Gretchen lächelnd, »so lange will ich Dich nicht warten lassen.« Dann aber blickte sie wieder ernsthaft und fügte hinzu, indem sie sich erhob:

»Aber was würde Dein eigener Vater sagen, Philipp? O, es ist ja ganz unmöglich, daß wir uns je etwas anderes als Freunde sein können, als Bruder und Schwester im stillen wie bisher. Jeden andern Gedanken müssen wir aufgeben, Philipp!«

»Nein, Gretchen, ich kann Dich nicht aufgeben – wenn Du mich nicht täuschst – wenn Du mich wirklich mehr liebst als einen Bruder. O, bitte, sag mir die Wahrheit.«

»Das hab' ich schon gethan, Philipp. Bin ich je so glücklich gewesen, als wenn ich bei Dir war? jemals seit den Tagen meiner Kindheit, als Tom noch gut gegen mich war? Und Dein Geist ist für mich eine Welt; Du kannst mir alles sagen, was ich wissen möchte. Ich glaube, ich würde es nie müde, mit Dir zusammen zu sein.«

Sie gingen Hand in Hand und sahen einander an; Gretchen eilte etwas, weil ihre Zeit um war. Aber in dem Gefühl des nahen Abschieds quälte sie sich um so mehr, ob sie nicht unabsichtlich doch einen peinlichen Eindruck auf Philipp zurücklasse. Es war einer von den gefährlichen Augenblicken, wo das gesprochene Wort zugleich aufrichtig und falsch ist, wo das Gefühl sich hoch erhebt über seine mittlere Höhe und Wahrzeichen läßt an Stellen, die es nie wieder erreicht.

Unter den Föhren standen sie still, um Abschied zu nehmen.

»Dann darf mein Leben voll Hoffnung sein, Gretchen, und ich werde glücklicher als alle andern? Und wir gehören einander – für immer – ob wir getrennt sind, oder bei einander?«

»Ja, Philipp, am liebsten möcht' ich mich garnicht von Dir trennen; ich möchte Dein Leben ganz glücklich machen.«

»Ich warte noch auf was anderes; – ob ich's wohl bekomme?« – Gretchen lächelte mit thränenfeuchten Augen, dann beugte sie ihr hohes Haupt und küßte das blasse Gesicht, das so voll war von flehender schüchterner Liebe – wie ein Mädchenangesicht.

Es war für sie ein Augenblick wirklicher Glückseligkeit – ein Augenblick, wo sie empfand, wenn sie ein Opfer brächte bei dieser Liebe, so sei sie um so reicher und beglückender.

Eilig wandte sie sich auf den Heimweg; sie fühlte, in dieser Stunde habe ein neues Leben für sie begonnen. Das Gewebe unbestimmter Träumereien mußte nun schmaler und schmaler werden und alle die Fäden ihrer Gedanken und Empfindungen allmälich zum Einschlag werden für ihr gewöhnliches Alltagsleben.


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