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Die Hochzeit

1

Der Sturm hatte den Schnee schon seit langer Zeit weggefegt und Wiesen und Moore waren aper; und immer noch hielt er an, es lag ein gleichmäßig klagender Laut über den Bergen und rings um die Häuser, und über Fjord und Meer jagte es dahin. Aber es war trotzdem Weihnachten, und nun sollte an dem Sonntag zwischen Weihnachten und Neujahr die Hochzeit stattfinden. Heute am Samstag war das Wetter soweit erträglich, daß der Pfarrer und alle, die eingeladen waren, über den Fjord herübergelangen konnten. Und es waren nicht wenige Boote, die im Lauf des Tages ankamen, aber keines von Juwika. Vierzehn Tage lang hatte beinahe in jedem zweiten Hof große Unruhe geherrscht, bis sie endlich wußten, wer eingeladen wurde und wer nicht. Man wußte nur so viel, daß nach Gjartrus Willen nicht viele eingeladen werden sollten, im Gegenteil, es sollten nur verflucht wenige sein, wie bei einer Hochzeit von vornehmen Leuten, und daß Aasel es auf die alte Weise haben wollte: alle, die zum Geschlecht gehörten, und alle, die Nachbarn und gute Bekannte waren. Darum hielten es alle einstimmig mit ihr und meinten, die Haabergleute wüßten doch, wie es in der Gemeinde der Brauch sei; und sie sagten das auch, beinahe ein jeder, soweit müsse doch einer seinen eigenen Kopf durchsetzen können.

Der Streit zwischen den Schwestern war still aber erbittert gewesen, und das Ende vom Lied war, daß sie beide die Leute einluden, die sie gerne haben wollten. Da wußte Aasel, daß sie gewonnen hatte; und sie hielt das auch für notwendig. Von Haaberg kam der Hochzeitbitter, wie es der alte Brauch erforderte, und es waren nicht viele Türen, an denen er vorüberging. Von Segelsund kam es schriftlich! Gjartru schrieb auf ein Papier, auf ein kleines feines viereckiges Stück Papier, und darauf stand die feine Sache. Aber es waren nicht viele, die es erhielten. Um so mehr merkte man es den wenigen an, zu denen es gekommen war. Dieser Brauch konnte ja auch ganz schön sein, selbst wenn er nicht von Haaberg ausging. Der Tierarzt mischte sich nicht hinein, er war immer noch so fremd in der Gemeinde wie bisher, und es war am schlauesten, ihn in Frieden zu lassen. – Diese ganze Hochzeit war eine Sache für sich. Die alten Leute murmelten vor sich hin, eigentlich müsse es doch schlecht auf Haaberg stehen, wenn man dort auf einen anderen Hof reise, um Hochzeit zu halten. Auch die Jungen kannten sich nicht recht aus, aber sie waren geladen, und damit gaben sie sich zufrieden; eine neue Melodie ist schließlich auch eine Melodie, und in dieser hier war ein guter Ton.

Heute abend sollten nur jene kommen, die den längsten Weg hatten, und außerdem noch die allernächsten Verwandten. Aber trotzdem wurden es ihrer viele, und Gjartru bekam einen roten Kopf. – »Ich glaube, du hast jedes Gesindel eingeladen, das dir über den Weg lief«, sagte sie zu Aasel. Aasel sieht sie an, sie steht gerade in der Speisekammer und packt einen Geschenkkorb aus. – »Jedes Gesindel? Sind das etwa keine Leute? Und noch dazu ordentliche Leute? Wenn sie auch nicht im größten Staat sind – – übrigens, was glaubst du wohl, wie du eigentlich aussiehst? Und noch etwas: Daß mir heute keiner zuviel trinkt!«

Gjartru stand im roten Kleid da mit den schwarzen Perlenbändern und einem hohen weißen gekräuselten Kragen rings um den Hals und ebensolchen Rüschen an den Handgelenken. Das Haar war großartig aufgestellt. An der Brust trug sie eine goldene Nadel, so groß, wie Aasel noch nie eine gesehen hatte, so groß, daß man es kaum für Gold halten konnte. Gjartru wurde jetzt noch röter als das Kleid. Aber sie brach in ein Gelächter aus, es war wie ein Tanz übermütiger Kinder:

»Du Aasel! Bist du wirklich von Haaberg? Oder bist du nicht recht bei Trost?«

Aasel schwieg eine Weile. Sie wollte sich erst fassen. Dann beugte sie sich wieder über den Korb und seufzte:

»Das geht niemals gut hinaus. Ich fühle es an mir. Und gerade jetzt, wo sich alles so merkwürdig gut anläßt!«

»Das hier, Aasel, ist der erste Tag mit schönem Wetter!« Gjartru lachte immer noch. »Aber jetzt mußt du hinaus und wieder Gäste empfangen, es sind die deinen und nicht die meinen, das höre ich am Schritt.«

»Erinnere dich einmal später daran, daß ich dich gewarnt habe, Gjartru!«

»Ja doch, ja doch! Schönen Dank, Aasel. Für alles miteinander!« Jetzt war sie so bleich, daß die Lippen bläulich wurden und zu beben schienen. Dann sieht sie Aasel mit zusammengekniffenen Augen an: »Sag mir, siehst du eigentlich gut? Du hast in letzter Zeit so ähnliche Augen wie der Vater?«

Da wurde es Aasel schwarz vor den Augen. Wenn ich es jetzt fertigbringe zu schweigen, dann ist es gut, dachte sie. Aber sie fand überhaupt keine Worte mehr. Sie blieb vor Ola stehen, als sie durch die Stube ging, aber nicht einmal mit ihm konnte sie über das hier sprechen.

Ob sie die eine Braut gesehen habe, fragte er. Er gehe überall umher und suche die Andrea. – Nein, die hatte Aasel nicht gesehen; wollte er irgend etwas Besonderes von ihr? Ola antwortete nicht, er war schon wieder auf dem Weg hinaus. Er wollte sie sehen, das war der Grund, warum er heute abend hierhergekommen war, und dann würde er vielleicht seine Mütze nehmen und seiner Wege gehen. Aber Andrea war nirgends zu finden. Sie steckte wohl irgendwo oben im Dachraum. Drüben in der anderen Stube fand er Peder, der mit ein paar jungen Leuten von Lines beisammensaß und sich unterhielt. Ist er noch so schüchtern! durchfuhr es Ola. Da hat sie ihn also schon beim Kragen. Er setzte sich zu ihnen hin. – »Nur immer geradeaus, sagte der König!« wandte er sich zu Peder. Er wiederholte es: »Und mach keine Dummheiten, Peder, was du auch sonst anstellen magst! Denn zu spät ist zu spät!«

Peder stand auf und ging, als hätten ihn die Worte verbrannt. – »Aus dir hab ich mir nie viel gemacht«, murmelte er. Dann aber wandte er sich heftig um und kam zurück. Die Stube ist von lautem Geschwätz erfüllt, denn die Leute waren hier bereits heimisch geworden, und Peder fühlt, wie es ihn heiß durchjagt. – »Du glaubst wohl, ich sei jetzt gezähmt, ich getraue mich nicht mehr. Ich will dir nur eines sagen: nämlich, daß ich meiner Wege gehe. Heiraten werde ich morgen noch, ja, darauf kannst du dich verlassen, dann aber geht's nach Amerika. Zusammen mit Oheim Jens. Ja! Du machst ein so langes Gesicht, Oheim Ola, kommt dir das unerwartet? Was hast du denn sonst gemeint – daß ich Verrücktes anstellen könnte? Ja, übrigens, es hat an einem Haar gehangen – und das tut es noch! Daß ich nicht vortrete und ein paar Worte sage. Und der ganzen Herrlichkeit ein Ende mache, he? Aber jetzt reise ich, nehme sie mit mir und reise, und so lange wirst du wohl noch den Mund halten, nicht wahr?« – »Da bekomm ich also Gesellschaft nach Amerika, wenn ich recht höre«, lächelte Ola. Aber nach und nach hatte sich sein Gesicht verändert, und er konnte den Blick nicht von Peder wenden.

»Das wirst du doch nicht tun?« sagte er; die Stimme kam wie aus einem zugeschnürten Hals. »Das tust du doch nicht, Peder?« Da aber hatte Peder sich auf dem Absatz herumgedreht, und Ola stand allein. – »Er ist doch nicht vollkommen verrückt?« Dann stieß er die Luft durch die Nase: »Steh ich wirklich da und bin in den Haaberghof vernarrt! Dann bin ich es wohl schon lange gewesen.« Ja, darüber gab es keinen Zweifel, und was war aus Andrea geworden? Er ging einen Sprung die Treppe hinauf und sah sich oben nach Andrea um. Unzählige Menschen kamen und gingen, Neuangekommene standen da und schmückten sich, sie aber war nicht darunter. Da ging er wieder zu Aasel. – »Findest du sie nicht?« fragte die. – Nein, und er suche sie auch gar nicht. Er gehe nur so herum und schaue sich die Gäste und die Hochzeitskleider an. – »Du siehst fast so aus, daß man meinen könnte, dir sei ganz leicht ums Herz«, sagte sie. – »So ist mir's auch. Ich bin froh! Denn hier herrscht Leben, hier wird etwas geschehen, nicht wahr?« – »Ach, meinst du?« – »Ja? Hier sind doch Leute, die etwas glauben und etwas wollen, das merkst du doch? Und hier ist gut sein. Und noch ist es doch mit Haaberg nicht zu Ende?« – »Haaberg?« – »Haaberg ja. Aber hör jetzt nicht auf mich. Doch, es ist wahr, Aasel. Das ist das einzige, woran ich noch glaube. Woran ich glaube – da hörst du, daß ich lebe. Nein, nein, ich bin noch nicht betrunken, es ist mein eigenes Ich, das redet. Bis auf den heutigen Tag habe ich immer gewünscht, daß einer von uns einmal ausbrechen und wild werden sollte, irgend etwas anstellen sollte, der Peder oder irgendeiner eben, und ich wünsche das heute noch. Aber nicht jetzt und nicht in dieser Art – –«

Da machten sich zwei Frauen Bahn und Aasel mußte die Treppe hinuntergehen; aber sie lächelte seltsam zu Ola hinauf, denn das meinte er im Ernst, aber was meinte er eigentlich?

Peder stand an der Hausecke und ließ sich vom Wind durchblasen. Er hatte wieder einen Anfall, wie schon so oft, bei dem es ihm auf einmal in der Stube so heiß wurde, daß ihm der Schweiß ausbrach. Als er sich umdreht, sieht er Mina in der Tür, und sie ihn, und dann tritt sie heraus und geht ihm entgegen, strahlend über das ganze Gesicht, obgleich es so bleich ist, daß man hätte hindurchschauen können. Sie hatte große Augen wie ein Kind, und es machte sich wie von selber, daß sie ihn bei der Hand nahm. Sie griff mit beiden Händen nach der seinen: »Stehst du da draußen? Allein?« – »Ja, ich darf doch wohl einmal Luft schöpfen? Ich bin ja kein Frauenzimmer, ich kann in dem Dunst da drin nicht schnaufen, das ist klar.« – »Du auch, Peder! Wie seltsam du bist – mir kommt es so vor, als wärst du – – als sollten lieber wir beide es sein!«

Eine Blutwelle schoß ihm in die Wangen. Sie aber lachte und schlug es in den Wind: »Du wirst doch wohl einen Spaß verstehen, ich stecke heute abend voll lauter Dummheiten, aber du sahst so merkwürdig aus, als wärst du im Begriff, deiner Wege zu gehen, wie einer aus dem Märchen.« – »Ja, gib nur acht, daß ich's nicht wahr mache, du!«

Sie sieht ihn mit großen Augen an und läßt dann seine Hand los, beißt sich auf die Lippe und geht von ihm fort. Sie suchte eigentlich Arthur. Bis zum Küchenhaus mußte sie gehen, ehe sie ihn fand – dort hatte er sich versteckt und bastelte an etwas herum, ein Lampenhaken sollte es werden – »drinnen fehlt einer«, sagte er. – »Du siehst aus, als hätten dir die Hühner das Brot weggefressen?« sagte sie. – »Was meinst du?« – »So zahm; man möchte fast glauben, es hätte dich einer klein gekriegt. Was würdest du sagen, wenn wir jetzt von der ganzen Herrlichkeit wegreisten? Nach Amerika?«

Er sieht sie ruhig an, ein wenig schwer – mit solchen Augen schaut einen manchmal ein Hund an, mußte sie denken; und so breit und gut konnte einzig und allein der Arthur lächeln. Sie hob den Finger zu seinen dicken schwarzen Brauen, zog den Bogen in der Luft nach: »Da bist du so schön. Wer unschuldig ist, der sieht so aus.« Arthur griff nach ihr, aber sie entwand sich ihm: »Gib Frieden jetzt! Denk daran, was für ein Abend heute ist. Aber hör einmal, Arthur: Kannst du nicht selber zum Peder hingehen und ihn fragen, ob er dir die Wiesen verkauft, von denen wir sprachen, da könnte man einen Hof draus machen. Denn ich will nicht mit ihm reden, ich bringe es nicht fertig, hörst du! Ich will, daß du es tust. Und ich glaube nicht, daß er sich sträuben wird, er kann so seltsam sein. Er kommt oft auf die merkwürdigsten Gedanken, wenn er will!« – »Es war ja nur ein Gedanke. Du weißt, daß er es nicht tut. Und es würde auch ein teurer Hof werden. Aber ich dachte, ich könnte ihn vielleicht dazu bewegen, für mich zu bürgen, wenn ich Lines oder irgendeinen anderen Hof kaufte.« – »Bürgen? Aus solchen schlauen Sachen mache ich mir nichts.«

Sie stand eine Weile da und sah vor sich hin, und dann ging sie. Arthur sah ihr nach und holte ratlos Atem. Denn das war ihre Art. Sie kam ganz dicht an einen heran, und danach stand man mit ebenso leeren Händen da wie ein Kind, das nach dem Sonnenschein greift.

Als sie in die Stube trat, sah sie sofort, daß der Vater betrunken war. Er war glühend rot und nicht allzu freundlich. Da mußte man sich in acht nehmen vor ihm, das war geraten. Und der Schwiegervater und der Jens, der heute den Kellermeister machte, waren in der gleichen Verfassung. Sie aber standen noch auf sicheren Beinen. Mina trat zu Jens, legte ihm die Hand auf die Schulter: »Du mußt achtgeben, Onkel, daß sich heute abend niemand unter den Tisch trinkt, davon will ich nichts wissen.« – »Soll geschehen, mein Herzblatt!« Er schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich wie eine Holzfigur. – »Onkel, du …« flüsterten alle, die das gehört hatten. Ja so, jetzt hieß es nicht mehr Oheim hier im Haus, jetzt wollten sie richtig hoch hinaus. – Aber es passe doch zu ihr, rege sich nur keiner auf. – »Mein Gott, hier geht es aber kalt von den Wänden weg«, sagte einer. »Gerade als wären hier zwei, die einander nicht anschauen mögen«, sagte der andere.

So war es wirklich zwischen Aasel und Gjartru. Beide sahen es klar und kalt vor sich, daß keine von ihnen nachgeben konnte; hier herrschte der Kampf in eigener Person, und der stand zwischen Gutem und Bösem. Aasel konnte mit Kjersti Rönningan sprechen, denn diese sollte der Bewirtung vorstehen. Gjartru hatte Jens. Und alle beide hatten sie Andrea im Hintergrund, sie mußte doch wohl verstehen, um was es sich handelte; sie aber konnte man heute abend nicht zu fassen bekommen.

Andrea kam nicht eher zum Vorschein, als bis sich alle zum Abendbrot setzen sollten. Da erschien sie wie ein guter Engel, denn wer hätte sonst gewußt, wie sie sitzen sollten und wie alles gemacht werden mußte. Sie machte das wie etwas Alltägliches; der hier, und jener dort, und hier sollte sie sitzen, zusammen mit dem Vater, und der Peder gerade gegenüber; anders konnte es gar nicht sein.

»Ist Anders nicht da?« wurde gefragt. – »Nein, nicht heute abend«, sagte Aasel; »er kommt morgen. Das alles hier ist wohl ein bißchen merkwürdig für ihn; er denkt sich wohl sein Teil dabei, glaube ich. Aber er sagt nichts. Im übrigen hat er noch nie Angst davor gehabt, daß die Leute große Augen machen könnten; wenn es nur nicht gerade auf die schiefe Bahn führte.«

Gjartru schnitt sich heftig ein Stück Butter ab und sah Andrea an. Andrea lächelte vor sich hin.

Ola konnte kaum ruhig sitzen. Er wollte noch mit Peder sprechen. Er hätte gerne gewußt, wieviel an der ganzen Sache Prahlerei und wieviel Drohung war. Er wollte das um Aasels willen tun – sie und der Hof, das kam auf eines heraus, fand er. Warum feierten sie eigentlich solch ein Fest? Was sollte man sich dabei denken? Er hörte den Wind über die Hügel heulen, hörte den langgezogenen Ton über den Haabergäckern und rings um die Häuser dort; gleichsam als wisse der Wind nicht, warum er singe. Wer weiß, vielleicht pfiff er nur für die Berge und für weiter nichts; und der Vater saß in der Kammer daheim und war blind.

Ola drängte sich mit den Ellbogen bis zu Peder vor, kurz ehe sie aufbrechen sollten. Er lächelte ihm zu wie ein Teufel durchs Guckloch: »Hast du wirklich den Hof noch nicht bekommen, Peder?« – »Was geht das dich an!« Peder stieß das nur kurz heraus und sah dabei über seinen Kopf hinweg. »Nein, mich geht's nichts an. Und vielleicht ist es der Andrea auch recht so.«

So, das würde jetzt schon seine Wirkung tun, dessen war er sicher.

Das tat es auch. Als sie heimgekommen waren, sagte Peder geradeheraus, daß er, wenn er heiraten sollte, den Hof dazu haben wolle. »Ich will ihn besitzen, noch am gleichen Tag, an dem ich heirate; später kann es dann gehen, wie es mag.«

Sie hatten sich's nicht anders gedacht, sowohl Kristen als auch Aasel, und damit war die Sache also gesagt und abgemacht. – »Nach der Hochzeit ziehen wir in die Austragstube hinüber«, sagte Aasel. »Und über die Bedingungen werden wir schon einig werden. Wir werden euch nicht das Fell über die Ohren ziehen«, fügte sie hinzu. – »Und den Preis setzt du fest, du selber«, sagte Kristen.

»Jawohl.« Peder stand eine Weile da. Gar nicht lange, nur einen Augenblick, bis er sich herumdrehen wollte, aber ihn dünkte, seine Gedanken streiften weit umher und reichten tief hinab. Er mußte gegen Andrea so handeln, wie er auch gegen eine andere hätte handeln sollen; er konnte sich ja hier in lauter Arbeit vergraben und andere in die Welt hinausfahren und es zu etwas bringen lassen, die andern das werden lassen, was er gerne geworden wäre. Das war durchaus keine Kleinigkeit für den, der wußte, was das bedeutete und der ihn kannte – und solch einen gab es so gut wie gar nicht! Schön, nun sollten sie also nicht kommen und behaupten, daß er ein Nichtsnutz und ein Faulenzer in seiner Sippe sei. Freilich, es gab keinen, dem er dies hätte sagen können, und das war auch nicht nötig. – »Ich gehöre nicht zu dieser Art von Leuten!« meinte er, und damit ging er und legte sich schlafen. – Im übrigen konnte sich ja noch gar manches ereignen!

Das gleiche sagte Aasel, als sie zu Bett gegangen war, wie ein Stich durchfuhr es sie: »Es kann sich noch vieles ereignen. Er kommt mir manchmal so seltsam vor.« – »Wer?« fragte Kristen. – »Der Peder. Aber, der Herrgott wird uns wohl helfen, er hat uns ja auch bisher geholfen.«

2

Andrea stand im schwarzen Seidenkleid vor dem Altar. Mina aber trug ein hellrotes Kleid, und solch einen Engel hatte man bisher noch nicht in dieser Kirche gesehen. Arnesen war in voller Uniform, und auch Gjartru konnte sich sehen lassen, das ganze Kleid bestand aus Rüschen und Bändern, und darüber trug sie einen Umhang, mit dem sie hätte fliegen können. Das alles machte so starken Eindruck auf die Leute, daß sie am liebsten Dankeschön gesagt hätten. Das ganze Kirchspiel sozusagen drängte sich vor und opferte. – Und von nun an mußten sie Gjartru wohl Madam nennen. So ist es in der Welt, sagten sie, wer vorwärts will, der kommt vorwärts, wir sind unser genug, die zu klein bleiben. Hatten sie Aasel heute gesehen, wie klein und unscheinbar sie dasaß?

Das Mittagessen wurde gleichzeitig in zwei Stuben aufgetragen, und sie saßen bis in die dunkle Nacht an den Tischen; die Leute waren früher eigentlich noch nie auf einer Hochzeit gewesen, das merkten sie jetzt. Immer und immer wieder fragte der alte Anders, ob man denn noch nicht bald satt wäre? Und »Laßt mich doch in Frieden!« bat er, wenn sie neue Schüsseln hereintrugen. Zuerst hatte er sich nicht mit an den Tisch setzen wollen, zusammen mit anderen Leuten, dann aber hatte er sich's anders überlegt: »Nun habe ich vierundzwanzig Jahre im Dunkeln gesessen, jetzt darf ich mich vielleicht auch wieder ein bißchen rühren.« Schließlich, als der Lärm die beiden Stuben bis an die Decke hinauf erfüllte, stand Arnesen auf und hielt eine Rede. Sie fühlten sich anfangs alle nicht wohl dabei, aber es war doch auch wieder lustig, und keiner steckte den Kopf unter den Tisch. So etwas konnte er, der Arnesen, damit hatte es keine Gefahr, er redete so schön, daß ihm die Tränen kamen. Da aber richtete sich Anders auf, ein wenig scharf:

»Setzt ihn doch wieder auf seinen Stuhl, er ist ja stockbesoffen.«

Arnesen setzte sich wieder, und das Gelächter schlug über ihm zusammen. Und jetzt ging es viel leichter mit dem Essen. Die älteren Leute hatten sich vorsichtig, aber mit sicherem Griff herausgenommen, kosteten alles, was angeboten wurde, betrugen sich wie immer, wenn sie irgendwo eingeladen waren, und hielten sich, trotzdem sie jetzt mutig geworden waren, streng an den Brauch. Die Jungen waren verlegener, denn hier sollte alles fein vor sich gehen, und keiner wollte sich unrichtig benehmen; sie wechselten die Gabel von einer Hand in die andere, sahen sich ratlos um, stocherten alles an und schielten zum Nachbarn hinüber. Eines aber wußten sie, nämlich daß das Trinken eine schöne Sache war, und nun fühlten sie sich auf einmal wieder daheim, und mehr als das, scherten sich den Teufel um fein oder unfein – »da geh her!« riefen sie, »und iß dir den Bauch voll, zur Hölle mit der Gabel, greif nur zu! Und gib mir die Schüssel mit dem Süßen noch einmal!«

Oben an dem einen Ende des Haupttisches in der Großstube, wo die Gastgeber selber saßen, fühlte man sich immer weniger und weniger wohl, jeder hatte mit sich selber zu tun. Kasten Landre von Valvaere war heute der vornehmste Gast, jetzt hielt er eine Rede; und ihm kam keine Träne, er sprudelte über von Spaßen und Witzen, sie mußten alle laut lachen. Und jetzt passierte noch vieles, ehe sie fertig waren, ein Ereignis löste das andere ab, Vernünftiges und Tolles durcheinander, und alles wurde mit Gelächter und Gejohle begrüßt, und nichts kam bis zum Ende. Die Frau des Bankmannes hatte zuerst wie festgenagelt dagesessen, hatte kaum gewagt aufzuschauen. Jetzt wurde sie so mutig, daß sie Gjartru einfach über den Tisch weg fragte, wie sie denn diese Speise hier nannten und ob sie gut sei? – Das sei Disär, sagte Gjartru, sie zog die eine Schulter hoch und wollte die Frau los sein.

»Disär, hm! Mja, aber das sind doch Sachen, von denen einem die Winde gehen?« fragte die andere.

Der Bankmann selber hieß Heggerud, und das war ein seltener Name hier in der Gemeinde; sie nannten ihn deshalb meistens Herregott. – »Schweig lieber und iß!« warnte er jetzt.

»Herregott, Heggerud!« lachte Anders; er lachte so, daß ihm die Tränen herunterkollerten. »Ich bin froh, daß ich blind bin!« Und jetzt stand er auf: »Jetzt geh ich fort; ich bin zu alt für dieses Treiben hier.«

Die ganze Gesellschaft stand auf, obwohl Gjartru rief, daß noch viele Dinge kämen. Aasel sah sie scharf und hart an. Gjartru richtet sich nur auf und geht dicht an ihr vorbei zum Mundschenk: »Daß du's nur weißt, Jens, hier soll es keine Sauferei geben.« Gleich darauf aber ist Aasel bei ihm und ihr Gesicht glüht: »Hochzeit ist Hochzeit, Jens, nicht wahr? So war es immer auf Haaberg; und hat einer sich erst einmal auf den Schlitten gesetzt, dann darf er nicht schreien, wenn's losgeht.« Sie sagte es zu Jens, und sie sagte es zum Vater und zu jedem, der es hören wollte, Jugend sei Jugend, und sie glaube wahrhaftig, daß sie jetzt alle wieder jünger würden. »Die Leute strecken sich noch einmal in die Höhe und mit ihnen die ganze Gemeinde, und das scheint mir keine kleine Sache zu sein, es tut ordentlich wohl, dies zu sehen. Und die Leute wissen, was der Brauch ist, dessen bin ich sicher. Die Zeit zum Nachdenken, die kommt schon später noch einmal.« Sie sagte das mit sicherer Stimme zu allen, die rings um sie standen:

»Denn wir sollten in unserer Sippe doch noch einen Tag erleben, das war mein Gedanke; einen siebzehnten Mai Siebzehnter Mai: Norwegischer Feiertag. möchte ich fast sagen. Wir brauchen so etwas.«

Ehe man sich's recht versah, war die Jugend unterwegs nach Haaberg und wollte tanzen. Sie liefen fort, da war gar nichts zu machen. Gjartru tat alles, was sie konnte, um es zu verhindern, sie befahl, daß man die eine Stube räume und bat die Spielleute, rasch aufzuspielen – es waren nicht weniger als sechs Blechbläser vom Bataillon hier, die hatte Arnesen kommen lassen; aber als die jungen Leute erst einmal angefangen hatten sich davonzumachen, gingen sie in ganzen Scharen und ein Paar nach dem anderen. – »Haaberg zieht«, murmelte Anders – »sie haben dort zu oft getanzt.« – »Ja, unsere Stube ist nicht zu fein«, sagte Aasel. – »Nein, das weiß ich«, erwiderte Gjartru, »aber sag mir eines: kommt denn von Juwika niemand zur Hochzeit?« Aasel lächelte, von dort käme niemand, nein. »Und ärgerlich ist es, für uns beide.« »Ja, du Mina, du rührst dich hier nicht von der Stelle!« Gjartru schrie so laut, als sei sie in einer Mühle. – »Siehst du denn nicht, daß der Peder mich fortzieht?« Und Peder zog sie wirklich zur Tür hinaus, sie hatte kaum Zeit, ihren Mantel zuzuknöpfen, und dann drehte er sich um und rief der Musik zu, sie solle zusammenpacken und mit ihnen kommen; »wir wollen Haaberg in Grund und Boden tanzen«, lachte er, »und das ganze Haus auf den Kopf stellen!«

Vor der Tür draußen machte Mina sich von Peder los und bekam ihren Bräutigam zu fassen: es sei doch schließlich keine Bauernhochzeit, sagte sie, und wo Peder seine Braut gelassen habe? Er kratzte sich hinterm Ohr: Eben war sie doch noch da? Sie wollte er nicht um vieles verlieren.

Andrea stand drüben und sprach mit Ola. Sie lächelte so frei und alltäglich – machte es so gut sie konnte, das sah er. – »Ola, d u sollst uns aufspielen, kannst du mir das nicht versprechen.« – »Ich habe meine Fiedel nicht hier.« – »Du kriegst eine Ziehharmonika, das mag ich am liebsten. Tu's doch, Ola.« – »Ja, ja, kann schon sein. Machen wir's also.« – »Und tu mir den Gefallen und betrinke dich nicht.« – »Nein, schon gut; ich will brav sein. Und dann mußt du dich nach dem Peder umschauen.« – »Nach ihm?« – »Ja, ich sage es eben, wie ich's meine, du weißt, wie es in Juwika steht, und wenn er betrunken ist, dann kocht er über.« Ola merkte, wie sie zuerst böse und dann wieder sanft wurde; sie sah ihn eine Weile an; und dann kam Peder und holte sie.

Ola stand in dem Ruf, daß er auf jedem Instrument gleich gut spiele, einerlei was man ihm gab; er spielte auf allem, was er zwischen die Finger bekam, hieß es von ihm, und an diesem Abend bekam er eine Ziehharmonika; das klang so f e i n. Zuerst tanzten Peder und Andrea und dann das andere Brautpaar; dann blieb der Tanzraum leer, und dann tanzte auf einmal alles, was Beine hatte.

Das Messing, wie sie es nannten, blieb auf dem Hochzeitshof und spielte dort. Arnesen rief und klatschte zu jeder Melodie in die Hände, er hatte diese Gewohnheit noch von seiner Militärdienstzeit her, glaubten die Leute, und Kasten Landre machte es ebenso; aber bald war er nicht mehr da. Er fuhr nach Haaberg, zu der Jugend. Jetzt fing Anders an und sagte, er wolle auch fort, er wolle heim! Zu den anderen jungen Leuten! fügte er hinzu. Der Schnee hatte alle Gräben zugeweht, und sie konnten geradeswegs hinübergehen, brauchten keinen langen Umweg zu machen. »Gehen?« sagte Aasel, »nein, warte nur ein bißchen, du sollst fahren, und einer muß anspannen und kutschieren.« Aasel war jung und glücklich, wie sie noch keiner gesehen hatte. – »Damals, als ich darauf einging, daß die Hochzeit hier abgehalten werde, geschah, dies, um die Leute im Zaum zu halten«, sagte sie zu Kjersti. »Denn hier war wenig Platz hier konnte der Tanz ja nicht so wild werden, dachte ich. Aber es geht alles so merkwürdig, wie durch höhere Fügung, meine ich fast: Jetzt zieht die Hochzeit nach Haaberg. Dort ist es nie bis an den äußersten Band gegangen. Und hast du nicht den Peder gesehen, wie froh er trotz allem ist? Er ist froh.« – »Ja, man sieht es ihm an. Und ich kann nicht anders sagen, als daß ich es dir gönne.« – »Es war«, sagte Aasel, und sie sprach plötzlich seltsam leise und dicht an Kjersti gedrängt – »es war, als käme einer und schenkte mir das plötzlich. Nun, glaube ich ja, ist es überstanden – er kann doch jetzt nicht mehr davonlaufen und – – nein, Herrgott, da hätte er es doch vorher getan.«

Einer nach dem anderen von den älteren Leuten stahl sich davon und ging den kürzesten Weg nach Haaberg hinüber.

Das Land lag kahlgeblasen und öde da. Die Hügel ragten schwarz gegen die Abendröte in die Luft. Aber der Wind ging nur wie eine leichte Brise oder ein Tanz über die Berge dahin, und jeder Stern war da und schimmerte.

Auch Oheim Petter mit seinem kranken Fuß dachte daran, sich auf den Weg zu machen. Da band Jens das Branntweinfaß auf die Rodel, setzte Petter rittlings darauf, spannte sich dann noch mit ein paar anderen Tollköpfen davor und trabte dahin.

Anders saß in der Tür zur Kammer und wiegte sich leise nach dem Takt des Tanzes. – »Früher habe ich Olas Spiel nie recht begriffen«, sagte er. »Aber jetzt bin ich wohl ebenso alt wie er, oder vielmehr er ist ebenso jung wie ich.«

Gjartru raffte sich auf und sagte, sie könnten gern alle miteinander hinübergehen, dann hätten sie dort doch eine richtige Musik. Als sie alle hinüberkamen, mußte die zweite Stube geräumt werden, und dann ging es auch dort los. – »Und jetzt meine ich, wird Aasel bald genug haben vom Tanz«, sagte Gjartru, »sie sieht schon ganz entsetzt drein.«

Aber das dauerte nur eine kurze Weile, dann war Aasel wieder ganz zufrieden. Es war so, wie Anders gesagt hatte, die ganze Sippe war wie losgelassen. Man mußte leben, solange man lebte, das war wohl auch der Sinn des Lebens.

Im Lauf der Nacht wurde es für viele schwierig; überall war es voll, in den Dachräumen und in allen Stuben. Vom Hochzeitshof kamen sie mit Essen herüber, aber kaum einer wollte etwas anrühren.

Peder war einer von den wildesten. – »Du mußt mich so nehmen, wie ich bin!« sagte er zu Andrea. – »Das tue ich doch wohl schon?« lachte sie. – »Sie muß mich so nehmen, wie ich bin«, sagte er auch zu Ola. Aber Ola paßte auf ihn auf, so daß er sich nicht ganz betrinken konnte. – »Ein Glück, daß du nicht wie ein Kalb bist, das nicht mehr aufhört, wenn es einmal zu trinken angefangen hat«, sagte er nur; »denn du hast die Verantwortung für sie alle miteinander.« Und Ola war es, der Peder zur Vernunft brachte, als es gegen vier Uhr morgens wurde; er ging herum und suchte Andrea für ihn, und dann gingen die beiden zum Hochzeitshof, denn dort sollten die zwei Brautpaare schlafen. Das andere Paar war schon gegangen und mit ihm die meisten der älteren Gäste.

»Die haben dir viel zu verdanken«, hörte Ola den Peder noch sagen.

»Mir?« hörte er Andreas Stimme.

»Jawohl, dir. Du hast die ganze Hochzeit gerettet. Aber sei jetzt still!«

Auf Haaberg jedoch tobte der Tanz immer noch weiter, wie vom Sturm gepeitscht ging er dahin, konnte man fast glauben; und gar manches Paar schlief oben im Dachraum, entweder im Bett oder auf dem Boden. Für den, der nicht tanzte, war es ein richtiges kleines Fest mitten im Fest, so mit dem Licht in der Hand von Stube zu Stube zu gehen und die Schlafenden zu betrachten; Oheim Petter hinkte durchs ganze Haus: Sie lagen auf so verschiedene Art da.

Ola legte die Ziehharmonika weg. Sie habe keinen richtigen Ton mehr, sagte er; »sie stottert nur noch, ich weiß nicht, was ihr in den Hals gekommen ist.« Aber in der Nähe stand ein kleines Mädchen und sah ihn an, mit einem schmalen und feinen Gesicht und stillen und allwissenden Augen; sie sah so aus, als wisse sie es. Jetzt lächelte sie, obgleich sie ihr Gesicht nicht im geringsten verzog; und er und sie waren auf einmal mutterseelenallein im Wald. Es war Anetta von Rönningan. – »Ja, ja, mein Gott, mir brauchst du nicht zu erzählen, daß die Ziehharmonika nicht kaputt ist, das weiß ich schon selber.«

Dann gingen sie. Er hielt nur ihre Hand. Im übrigen gingen die Paare vor und hinter ihnen Arm in Arm. Sie aber waren allein. Rings um sie war Wind und Jungwald und dann die kahlen Felder; es rauschte so sanft und einsam unter dem Morgenhimmel. – »Hast du ein Taschentuch Anetta?«

Sie blieb stehen und suchte es hervor, und während der ganzen Zeit sah sie ihn an und wunderte sich. Sie trocknete ihm den Schweiß von der Stirn.

»So«, sagte sie.

Als sie zum Hochzeitshof kamen, ließ er sie los. Er fühlte sich erleichtert, als sie in der Menge verschwand. Jetzt brannte in den beiden Stuben, wo die Brautpaare schliefen, Licht, und in der dort war Andrea. Er suchte die Flinte des Tierarztes und lud sie, dann ging er ins Vorratshaus hinüber und holte eine kleine Leiter. Man wollte ihm helfen, irgend jemand, der auch dort draußen herumging, er aber brauchte keine Hilfe. So, jetzt stand die Leiter gut, und hier war die Büchse, ja. Jetzt löschten sie dort das Licht. – »Schieß doch! So schieß doch!« flüsterte es hinter ihm. – »Steig hinauf und schieß, du dummer Kerl!« Er drehte sich um und legte das Gewehr auf die Sünder an, auf einen nach dem anderen, so daß die um die Hausecke flüchteten. Dann kletterte er hinauf, stand eine Weile da und fingerte am Abzug herum, und dann schoß er. Er hörte einen leisen erschreckten Ruf. – Jawohl, die im anderen Dachraum hätten auch einen Schuß bekommen sollen, so war es einmal der Brauch gewesen, aber Ola hatte so erfrorene Finger, er konnte nicht mehr laden. Und jetzt hörte er übrigens einen Krach an der Wand. Man hatte zu Ehren des Hochzeitspaares irgend etwas zerschlagen. – »Ja, ja, jetzt ist es geschehen, Ola, jetzt bist du wieder obenauf.« Er versuchte, ob er lächeln könnte, ohne die Zunge gegen sich selber herauszustrecken.

Aber sich schlafen legen, das brachte er nicht fertig. Der Tag kam bald heran, und ihm war der Kopf voller Branntwein und Unruhe. Er suchte so lange, bis er Anetta oben im Schlafraum fand. Sie lag neben ihrer Mutter. Im gleichen Bett schlief ein Betrunkener und schnarchte. Der ganze Boden vor ihnen war in ein Bett umgewandelt. Ola setzte sich an das Kopfende der Bettstatt. – »Du schläfst nicht, du?« sagte er. – »Du, scheint's, auch nicht.« – »Nein, ich auch nicht.« Lange saß er so da. Er nickte ein und schlief bisweilen ein wenig. – »Aber es ist ja noch Platz da«, meinte sie; sie rückte sogar ein wenig zur Seite. Er streichelte ihr Gesicht. Die Wangen waren glühend heiß und die Stirne ganz kalt. – Aber wollte sie nicht lieber aufstehen? Und ihm beim Kaffeemachen helfen? – »Kaffee?« – »Ja, den Morgenkaffee. Es ist so langweilig, allein zu sein, wenn alles noch schläft.« – »Du solltest auch ein wenig schlafen.« – »Ja, vielleicht.«

So legte er sich neben sie hin und schlief beinahe sofort ein. Plötzlich erwacht er mit einem Ruck und sieht, daß es Morgen ist. – »Jetzt mußt du aber kommen«, sagt er, »Wir zwei, wir wollen Kaffee machen und ihn den Leuten ans Bett bringen.« Das Mädchen suchte ihr Kleid, das sie abgelegt hatte, und ihre Schuhe, und dann kam sie mit, Kjersti stöhnte nur im Schlaf.

Sie machten Feuer in der Küche und hängten den Kessel darüber. Aber das sei nicht der richtige, sagte Ola, meistens würde der andere genommen. Es war der, mit dem Andrea manchmal hier hereingekommen war. früher, als sie noch Mädchen war. Ola und Anetta setzten sich an die Feuerstätte und warteten, bis der Kaffee aufkochte. Das Mädchen fror und war übernächtig, aber Ola war munter für sie beide, und er suchte seinen Mantel und legte ihn ihr um.

Dann waren sie fertig, und die Uhr schlug gerade halb acht, es war hohe Zeit. – »So, Anetta, jetzt gehen wir, hm?« – »Ja, jetzt gehen wir.«

Sie standen draußen auf dem Gang vor der Türe zu Peder und Andrea. – »Aber glaubst du nicht, daß die Tür verschlossen ist?« sagte Anetta. Ola lächelte und schüttelte den Kopf, klopfte vielsagend auf seine Tasche. Anetta sah ihn noch einmal an, und sie sagte, und die Worte kamen gegen ihren Willen über die Lippen:

»Ja, aber – – ich verstehe nicht, daß du magst

Sein Gesicht erstarrte von den Mundwinkeln bis zu den Ohren, und er erbleichte wie nach einem Peitschenhieb.

Andrea wachte mit einem leisen Schrei auf und starrte das Licht und die beiden Eintretenden an.

»Guten Morgen!« grüßte Ola. »Wie habt ihr denn heute nacht geschlafen? So, bitte, hier kommen wir mit dem Kaffee, den sollt ihr trinken, solange er noch warm ist, so also, bitte!«

Er brachte das heraus wie eine richtige Hausfrau, und endlich setzte sich das Brautpaar im Bett auf und trank Kaffee. Anetta bot auch Brot an, wagte jedoch nicht aufzublicken.

Dann gingen sie weiter. Aber die Tür zu dem anderen Paar war verschlossen, und da machten die beiden sofort kehrt und gingen mit ihrem Kaffee wieder hinunter; sie mußten ihn selber trinken. Sie saßen gerade auf der Küchenbank und aßen und tranken, als eine der Mägde herunterkam und Feuer machen wollte. Ola fühlte die ganze Zeit, wie Anetta ihn ansah. Wenn er aber aufblickte, waren ihre Augen nicht zu finden.

3

Am Tag darauf zeigte es sich, daß Haaberg der eigentliche Hochzeitshof gewesen war. Kaum daß man die Gäste dazu überreden konnte, zum Mittagessen zum Tierarzt zu kommen, gleich danach gingen sie wieder schnurstracks über die Wiesen nach Haaberg zurück.

Anders kam nicht mehr von Haaberg weg, und die anderen Alten hielten es mit ihm. Er war wie umgewandelt, saß da und trank und erzählte, sah lauter Bilder aus früheren Zeiten vor sich und ließ sie auch den anderen deutlich werden. – »Ja!« sagte er immer wieder – »das war eine Zeit, und jetzt ist sie tot. Sagt mir doch, was ihr jetzt vorhabt!« Und ehe sie ihn aufhalten konnten, war er mitten in der Politik: Konnten sie denn nicht etwas aus den Zeitungen erzählen? Es ging doch allerhand vor sich – warum fuhren sie nicht einmal in die Stadt und sahen sich um, die, die das tun konnten. Verflucht noch einmal, das hätte zu seiner Zeit sein sollen! Aber lasen sie denn keine Zeitungen? Ja, so, sie lagen mit dem König selber in Streit? Schwedisch oder nichtschwedisch, da mischte er sich nicht hinein, aber sie sollten sich in acht nehmen. War der König denn ein so schlapper Kerl, daß er seine Kriegsmacht nicht zusammenrief? »Das hätte mir passieren sollen, mehr sag ich nicht!«

Sie waren alle einig mit ihm, Alte wie Ältere. Man hatte nun einmal den König und den Herrgott über sich, und das war gut so!

Die jungen Leute hörten nicht zu, bis auf Arthur. Er wagte sich endlich mit der Bemerkung heraus, wenn der König sich seinem Volk widersetzte, wenn er Dummheiten machte und den falschen Weg einschlüge, dann müßte das Volk seine Meinung sagen, auf wen sollte es sich denn sonst verlassen?

Sofort erhob sich ein lautes Murren gegen ihn, wie der Sturm über der Bucht: Es müsse doch wohl das Volk dem König gehorchen und nicht der König dem Volk? Und das Volk, von dem er sprach – seien sie etwa kein Volk? Bloß deswegen, weil sie kleine Leute seien und nicht das Land für Tageslohn regierten? Er sei eben doch noch ein ganz klein bißchen zu grün, da liege der Hund begraben! Sie sagten gar vieles, und es kam von Herzen. – »Wir sind doch auch noch Leute, selbst wenn wir dir unsere Höfe nicht verkaufen?« meinte einer und sah zur Decke hinauf.

Arthur ließ sich nicht kleinkriegen, er merkte die Stiche nicht einmal: Das sei es ja gerade, daß sie ein Volk seien, ja, und ein norwegisches Volk, das war es ja, was ihnen eigentlich zum Bewußtsein kommen sollte. Aber er konnte sich kein Gehör verschaffen, sie standen alle miteinander da und hörten nur, daß er dummes Zeug schwatzte, wo wollte er denn hinaus?

»Ja, wartet nur ein wenig!« sagte Anders. »Schauen wir uns das doch ein bißchen näher an.« Vorher aber griff er nach seinem Glas. – »Jung sein ist kein Fehler«, sagte er, »und wenn es wirklich so aussieht, als wollten der König und die vornehmen Leute sich mit den Schweden zusammentun und uns schurigeln, und als wollte es den falschen Weg gehen, dann – –!« Anders breitete sich ganz aus, wie er so dasaß; die Adern hoben sich blau von seinem Gesicht ab und schwollen an, der Brustkasten schöpfte Luft. »Nein, ich kann nicht mit euch halten. Wir wollen doch nicht wie die Schafe sein. Tretet vor, Burschen, haut auf den Tisch, nehmt den Namdalsdreschflegel und redet offen heraus – hört nie auf alte Leute, wir haben jetzt eine neue Zeit!«

Eine Zeitlang war es totenstill in der Stube. Dann fingen sie an zu murren: Alles fraßen sie denn doch nicht, und vor dem König, wie gesagt, müsse man sich in acht nehmen. Anders schüttelte den Kopf, wollte sich abwenden. – »Gebt mir lieber etwas zu trinken«, sagte er. »Aber hör, Jens, von deinem Gesüff will ich nichts mehr haben!« – »Gesüff ?« Sie schauten sich fragend an. Nannte er schwedischen Punsch ein Gesüff? Er war doch so süß und gut, das reinste Manna auf der Zunge. »Manna habe ich noch nie auf der Zunge gehabt, aber gebt mir lieber etwas, auf das ich mich verlassen kann. Dieses Gesüff ist für euch gerade recht, wie ihr da beieinandersteht.«

Ola stand da und hörte zu, aber er wollte nicht, daß der Vater es merkte. Im übrigen behielt er Peder im Auge. In dessen Gesicht zuckte es so seltsam, und nach und nach sah er ganz wild aus. Und Aasel, die hatte dafür gar keinen Sinn, sie war nur zufrieden, daß es so ging, wie es ging. »Die Leute sind doch noch gute Leute«, sagte sie. »Noch steht wenigstens die Gemeinde nicht auf dem Kopf.« Jetzt verhöhnte Peder die Politik, die sie da trieben. Die anderen jungen Leute hörten nicht ein Wort von dem, was hier gesagt wurde. Ja, sie redeten wohl, der eine über das, und der andere über jenes; aber an den Haaberghof dachte nicht ein einziger. Merken sie denn gar nichts? dachte Ola – haben sie nicht das Gefühl, als fehle die eine Wand? »Kommt es dir nicht auch so vor?« wandte er sich zu Anetta. – »Du solltest lieber einmal herumtanzen«, riet sie ihm. – »Ich bin wie ein Sieb, Anetta. Durch mich muß alles hindurch, und es bleibt nichts hängen.« »Tanz doch mit mir!« – Er legte den Arm um sie und wollte zum Tanzen vortreten, konnte aber durch die Menschenmenge nicht durchdringen. Er konnte auch nicht tanzen, wenigstens nichts Rechtes. Sie war so zart, wenn man den Arm um sie legte; er wäre am liebsten hinausgegangen und hätte sich versteckt.

Jetzt kam Andrea durch die Stube zu ihm und bat ihn, mit ihr zu tanzen. – »Du mußt, Ola«, bat sie. Sie hatte jetzt ihr Frauengewand an und die Haube auf; sie kam mit solch sicherem Lächeln zu ihm. Ja, ja; er mußte gehorchen. Er mußte sich drehen und wenden, so gut er konnte, es war ein Jammer, daß er es nicht richtig gelernt hatte, als noch Zeit dazu war. Er sah ihren Mund vor sich, wie saugend sanft oder gehässig er war. Die Freude sollte sie nun haben, daß er wie ein Klotz tanzte.

Dann stand er lange Zeit da und sah zu, wie sie tanzte, mit einem nach dem anderen. Sie wurde immer schöner, so oft sie an ihm vorüberkam. Jede Bewegung war eine kleine Melodie für sich; sie gehorchte Ola bei jedem Takt, wiegte sich so, wie er es sich wünschte, drehte sich herum, wie er es sich erträumte, dies kam so unerwartet, wie der Reichtum zu einem Armen. Trotzdem hatte er sein Lebtag lang darum gewußt.

Er vergaß Peder. Und Peder vergaß den ganzen Tanz. – »Das ist nichts, das hier!« sagte er zu einem der Kameraden. »Immer nur rundherum und rundherum. Schließlich ist man doch noch zu ein wenig mehr geschaffen? Ja, du nicht, aber ich.« Er wankte hinaus und in die andere Stube hinüber, ging von Stube zu Stube, mit hocherhobenem Kopf. Dort war Mina, ja, aber wo hatte sie Arthur gelassen? »Sag ihm, er soll sobald wie möglich kommen«, sagte er und blieb wartend im Gang stehen. Die Leute, die ihn anredeten, erhielten keine Antwort. Aber schließlich waren sie das von ihm gewöhnt. – »Kommt mit mir hinauf in den Dachraum!« Die Worte klangen trocken und kurz, und dann stieg er vor ihnen die Treppe hinauf. Drinnen im Dachraum zündete er ein Talglicht an und steckte es in den Hals einer leeren Flasche. Über sein Gesicht zuckte es bisweilen, so wie sie es auch schon bei Aasel und Anders gesehen hatten. Peder setzte sich auf ein Bett, Arthur auf einen Stuhl, mit der Braut auf dem Schoß.

»Ich wollte euch nur sagen, wenn ihr Haaberg hier kaufen wollt, dann könnt ihr es haben!«

Haaberg? War er denn verrückt? Das meinte er doch nicht im Ernst?

Doch, doch, er pflegte doch sonst das zu meinen, was er sagte.

»Aber es ist doch dein Erbhof, Junge!« sagte Mina. »Nein, du mußt deine fünf Sinne zusammennehmen, Peder.« Und Arthur meinte, wenn Peder die Hälfte sagte, so ließe sich darüber reden.

Peder schwieg, und als Mina begriff, was Arthur gesagt hatte, wandte sie sich um und sah ihn kalt an: »Die Hälfte? Nein, danke, entweder das ganze Haaberg oder gar nichts. Und im übrigen soll der Hof doch nicht zertrümmert werden?«

»Also, was ist nun?« Peder blickte auf einmal scharf auf. Er war jetzt bebend bleich, mit einem brennend roten Fleck auf jeder Wange. – »Wie es geht und steht, und samt dem Austrag für die Alten und für den Großvater, fünftausend Kronen nach der neuen Rechnung: das ist das, was ich selber dafür geben würde. Überlegt es euch einmal. Denn du, Mina, verstehst mich vielleicht.«

Er stand auf und ging hinunter, und die anderen folgten ihm nach. Sie konnten keinen richtigen Gedanken fassen. Im Gang traf er seine Mutter und sang es förmlich hinaus, in einem hohen und frohen Ton, so daß jeder es hören konnte, wenn er wollte:

»Jetzt habe ich den Hof verkauft, Mutter! An ordentliche Leute übrigens. Die dort sollen ihn haben!« Dann sagt er, und jetzt klingt es schneidend leise und ganz fern von ihr: »Dann habe ich das gesühnt. Abgemacht und fertig, ja. Dann habe ich für euch alle miteinander gesühnt, und mir scheint, es war hohe Zeit dazu. Und dann ist Platz auf Haaberg für ordentliche Leute – das ist dein Traum, Mutter.«

Aasel blinzelte nur mit den Augen und schloß die äußere Tür, damit der Wind die Lampe nicht auslöschte. Sie dreht sich nach der anderen Seite hin. Dort begegnet sie Ola, er steht in der Tür zur Stube, und er ist bleich wie eine gekalkte Wand. Sie sehen einander an, blicken dann zur Seite und heften die Blicke wieder ineinander. Ola konnte nichts sagen, bevor sie nicht gegangen war. – »Die Hälfte ist Prahlerei und unverbrauchte Kraft, und die andere Hälfte ist der nackte zitternde Leib, der es nicht einmal verträgt, daß ihn ein Windhauch trifft, ich kenne das auch. Aber du kennst das nicht«, wandte er sich an Mina. »Und wenn du einmal den Hof nimmst, Mina, so nimm ihn in Gottes Namen, es bleibt dir nichts anderes übrig.«

Aasel sagte zu Andrea, sie glaube, Peder sei betrunken. Andrea wurde rot, und Aasel bereute, was sie gesagt hatte. – »Du solltest dir nichts aus ihm machen«, sagte sie. »Er ist so seltsam, er ist so ganz anders als alle anderen.« – »Ja? Das ist er wohl!« Andrea verschwand im Gewühl, wollte sich nach ihm umsehen.

Aasel sah Gjartru tanzen, sie war beständig im Kreis, die jungen Burschen waren ganz verrückt darauf, mit ihr zu tanzen. – »Mir kann es ja gleich sein, was sie tut!« murmelte sie vor sich hin. Dann hob sie den Blick, denn jetzt stand Ola wieder da – sie wußten alle beide, daß sie bleich waren. – »Das Schlimmste ist eben doch, daß er so etwas sagen mag!« meinte sie. »Wenn er nicht mehr taugt – – dann kann es schon gleich sein.«

Sie ging unter den vielen Leuten hin und her. Es überfiel sie eine brennende Tanzlust, sie wollte einmal recht ausgelassen sein, wollte eine ganz andere sein. Sie tanzte mit einem nach dem anderen, bis die Stube vor ihren Augen schwankte, warum sollte sie auch nicht! Denn alles renkte sich wohl ein, sowohl die Stube als auch das andere, und es stand nie am schlimmsten, wenn es am schlimmsten aussah. Und gerade als die Wände am tollsten um sie herum schwankten, sagte sie zu sich selber, zu Ola oder zu irgendeinem anderen, der Peder wachse ihnen über den Kopf, er müsse jetzt seinen eigenen Stand im Stall bekommen.

Trotzdem hatte sie ein wenig Angst vor dem Augenblick, da die Wände rings um sie stillstehen würden. Was war aus Andrea geworden? Ola schien für Aasel gar nicht mehr da zu sein.

Gerade um diese Zeit saßen Arnesen, der Tierarzt und noch ein paar andere drüben auf dem anderen Hof und spielten Karten. Da kam einer mit einem Zettel von Segelsund. – »Ein Telegramm«, sagte Arnesen, er legte Karten und Zigarre weg. »Schauen wir einmal, was sie zu sagen haben. Nicht einmal am Festtag haben wir Frieden, wir Kaufleute«, lächelte er zu Kasten Landre hinüber.

Er überlas das Telegramm mehrere Male und griff nicht wieder zu den Karten.

»So, so, die Heringspreise sind im Süden unten gefallen?« Kasten Landre bekam kleine sanfte Augen.

Arnesen hörte nicht. Dann erhob er sich, stand eine Weile da und schwankte; er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, daß die Gläser tanzten, und blickte wild von einem zum anderen.

»Zehntausend Kronen Verlust, netto kontant!« Er sagte es dreimal; dann nahm er sein Glas und trank. »So, jetzt aber Schluß mit der Hochzeit, sag ich – verflucht noch einmal!«

»He! Jetzt fangen wir erst richtig an – Kopf hoch, Junge!«

Arnesen sieht ihn steif und geistesabwesend an, rafft sich jedoch nach einiger Zeit wieder auf, die Starrheit weicht langsam von ihm.

»Ja, wenn du mir jetzt helfen kannst, Landre, dann bist du ein großer Mann – nur eine winzige Handreichung, meine ich, nur für einen oder zwei Monate, damit ich ein wenig Bewegungsfreiheit habe.«

»Darüber wollen wir morgen sprechen, aber hier sind die Karten, und du bist am Ausspielen!«

Sie versuchten das Spiel wieder in Gang zu bringen, sie mischten die Karten von neuem und füllten sich die Gläser wieder, Arnesen aber war ins Stocken geraten, er war nicht mehr zu gebrauchen. Sie gingen nach Haaberg hinüber. Arnesen hatte von ihnen allen am schwersten geladen gehabt, jetzt aber war er nüchtern wie der Landwind; er sprach kein Wort während des ganzen Weges.

Auf Haaberg herrschte volles Leben. Die Messinghörner könnten einen Toten im Sarg zum Tanzen bringen, sagte einer, und das fanden gewiß alle. Aasel stand da und sah sich die Leute an, sah ihre Gesichter an: sie waren alle so herzensvergnügt, Aasel war es, als habe sie diese Menschen noch nie gesehen; ein jeglicher sah aus als habe er seinen großen Tag. Auf Arnesen gab niemand acht, jetzt aber brach der Hund draußen in ein Gebell aus, es klang, als habe er sich in die Dunkelheit selber verbissen, und dann rannte er wie ein heulender Strich ums Hauseck. Fremde Leute kamen in den Hausgang, und es entstand großes Aufsehen. Anders fragte unruhig, wollte wissen, wer es sei.

Es war Kal Jensa, der Juwiklöwe. Betrunken war er und hatte einen häßlichen Ausdruck im Gesicht; er sah sich in der Schar um, und alle wichen zurück.

»Wer von euch bellt denn so?« fragte er.

»Der Hund, der Hund, das dumme Vieh!« riefen sie.

»Ist der Hund dümmer als ihr anderen Hunde?« er stieß die ringsum Stehenden zur Seite und trat in die Stube.

Der Tanz hörte nach und nach auf, und alles drängte sich an die Wand.

»Ja, so, hier ist wohl die Hochzeit?« sagte er und blinzelte ins Licht. »Wo habt ihr denn den Bräutigam versteckt?«

Totenstille. Die Leute hatten Andeutungen von der Geschichte mit Peder und Kjerstina gehört, und sie wußten wie Kal sein konnte, wenn er voll Branntwein war.

»Wo ist der Bräutigam?« fragte er wiederum.

»Hier!« antwortete Peder und trat vor.

Kal drehte sich um und sah ihn an; von oben bis unten und von unten bis oben:

»Aha, so siehst du also aus!« Hm.«

Peder stand da und sah ihn an. Er war ruhig, aber klein und verzagt gegen den anderen.

»Ich kann dich von Kjerstina grüßen. Wir mußten sie heute festbinden. Sie wollte sich umbringen. He? Was sagst du dazu? Hast du keine Antwort darauf?«

Andrea trat einen Schritt zu Peder vor, weiter aber kam sie nicht. Sie blieb stehen und starrte ihn an, vergaß zu blinzeln. Eine Zeitlang standen sie alle miteinander so da.

Kal fuchtelte ein wenig mit den Armen herum. Sie waren stark und angespannt, er konnte wohl ein Pferd erschlagen.

»Ich bin hergekommen, um mit dir abzurechnen, Peder.«

»Schlag zu!«

»Du nimmst also an?«

»Nein. Aber schlag nur zu. Ich habe es verdient.« Dann wendet er sich zu den anderen: »Ich wollte es übrigens gerade verkünden, der ganzen Gemeinde.«

Kals Gesichtsausdruck wechselte, nicht nur in der Farbe, sondern auch in der Form, nie hatten sie einen Menschen sich so verändern sehen; jetzt sah man keine Rauflust mehr in seinem Gesicht, nicht einen Funken Zorn, es war nur noch Haß, was da unter der Haut brannte; er stand da, als wolle er sich über den Peder erbrechen, so schien es ihnen – wenn es doch nur ein Ende genommen hätte! Jetzt trat Kal zu Peder bin, versetzte ihm einen Stoß unters Kinn und lachte mit dem einen Mundwinkel.

»Du Darm von einem Menschen!«

Anders hatte sich erhoben. Es dauerte eine Weile, ehe er ein Wort hervorbrachte.

»Gibt es hier niemand – ist denn kein einziger da, der losschlägt? Steht es so schlecht um uns!«

Dann setzte er sich; und Kal drehte sich um und ging hinaus.

Man achtete mehr auf Peder als auf Kal, fand Aasel, und sie wußte nicht wie ihr geschah, es durchlief sie ein angenehmer Schauder, so daß sie sich dem Nächstbesten zuwandte, und die Worte kamen ihr wie von selber über die Lippen:

»Der Peder war ihm eben doch zu stark!«

Im Gang draußen aber entstand wieder Aufruhr. Kasten hatte sich Kal in den Weg gestellt und hatte einen Stoß bekommen, daß er gegen die Treppe getaumelt war, daraufhin fuhr er auf und drang auf Kal ein, jetzt ging's zur Tür hinaus und in die Dunkelheit, und die Leute folgten ihnen alle nach; sie hatten ihren Mut wiedergefunden. Einige Zeit später kamen sie herein und konnten erzählen, daß der Juwiklöwe sein Teil abbekommen habe! So ginge Kasten mit den Fischern um, wenn sie zu ihm in den Laden kämen und im Rausch um sich schlügen, und schließlich waren ihrer ja noch mehrere, wenn es Kal gelüsten sollte wiederzukommen.

Damit beruhigten sie sich in der Stube, und bald war der Tanz wieder in vollem Gang. Andrea zog Peder mit sich in eine Kammer hinaus, schenkte ihm dort einen Schnaps ein und überredete ihn, sich hinzusetzen; sie selber saß dicht bei ihm und hielt ihn bei der Hand. – »Ich hatte es verdient«, murmelte er. »Ich hatte es verdient.« – »Ja, ja, aber denk jetzt nicht mehr daran, sei gut.« – »Ich wollte es gerade der ganzen Gemeinde verkünden, aber ich war zu spät daran.« – »Ja, ja, ja, Peder!«

Nicht lange darauf gingen sie in den Dachraum hinauf und legten sich schlafen.

Gjartru brauchte einige Zeit, ehe sie begriff, was Arnesen ihr erzählte. Ruin? Und er war grau wie Asche. Sie tanzte noch einmal herum, dann aber begann die Unruhe in ihr zu arbeiten, und sie mußte Arnesen suchen und sich die ganze Geschichte noch einmal erzählen lassen. – »Ja, aber, wenn du jetzt Geld bekommst und dich wieder rühren kannst?« sagte sie. – »Nein«, erwiderte er. Und weiter gab es gleichsam nichts mehr. Sie ließ ihn stehen und mischte sich unter die Menge. Dort aber fühlte sie sich auch nicht wohl, die anderen stießen und drängten, als sei sie gleichsam nicht da, der eine wollte dahin, zwei andere wollten dorthin, und alle waren so fröhlich, daß sie förmlich leuchteten. – »Hast du es gehört?« sagte sie zu Ola. – »Nicht nur gehört, sondern auch gesehen, ja.« – »Ach, das da!« meinte sie verächtlich, und sie war schon im Begriff, wieder weiterzugehen. Jetzt aber hatten die Kräfte sie verlassen, sie kam nicht vom Fleck. Sie erzählte, wie die Sachen standen, mit einem trockenen leisen Kichern; dann blickte sie um sich; immer mehr und mehr verwundert. – »Merkwürdig, Ola, mir ist, als sehe ich jetzt. Die Stube und die Leute und alle Gesichter, das alles ist wie in einem Nebel für mich, aber ich sehe es doch so brennend deutlich. Und dahinter sehe ich die ganze Wirtschaft, sie steht da und grinst mich an – der Arnesen ist ein Dummkopf, hast du das nicht bemerkt, Ola? Warum sagtest du mir das nicht? Ich stehe nicht hier und schaue zu, hörst du, ich tanze, jawohl, bis ich umfalle. Was ist denn aus euch geworden, ihr wolltet doch mit mir tanzen?«

Es dauerte nicht lange, bis sie alle herkamen, denn es schmeckte so seltsam gut, sie umfaßt zu halten, so fein war sie, so wie sie war kein Mädchen. Ola aber sah, daß sie dem Burschen, der gerade jetzt mit ihr herumtrabte, schwer im Arm lag – jetzt gab der es übrigens auf, und daraufhin sagte sie laut und trocken zu ihm:

»Die ganze Herrlichkeit war ja nur ein Märchen. Alles nur Schall und Rauch – ein Fleck auf dem anderen, und ein Lappen auf dem anderen, so sieht es aus. Das ist merkwürdig, Junge!«

Die jungen Leute stampften und johlten, und ein Betrunkener kam hereingetaumelt und stellte sich allen mitten in den Weg. In jeder Stube spielten sie Karten, Aasel hatte schon längst nachgegeben – »ich habe in der neuen Zeit nichts mehr zu sagen«, seufzte sie, aber sie mußte doch fast lachen: je toller, desto besser, jetzt war es schon alles eins.

Da kommen zwei herein, kreidebleich, bleiben in der Tür stehen und stammeln etwas. Was war ihnen denn geschehen? Hatten sie etwas gesehen? Einer von ihnen ging seiner Wege, er wollte nicht mit der Sprache herausrücken. – »Jetzt aber Schluß mit diesem Sündenleben, das rate ich euch!« warnte er. Der andere brachte es endlich hervor. Sie hatten drüben am Stalltor eine schneeweiße Gestalt gesehen, einen Ausreißer vom Friedhof.

Da verging ihnen das Lachen, einem jeden. War das wirklich wahr?

»Im Totenhemd!« murmelte er nur, ihm schlotterten die Kinnladen.

Auch die Lampe flackert und will erlöschen, und die Weiber sperren den Mund auf, als wollten sie schreien.

Jens rennt hinaus und will den Spuk beim Kragen packen – beim Kal war er nicht rasch genug gewesen; verschiedene andere folgten ihm. Sie fanden nichts. So nahe lag der Friedhof nicht. Und noch einmal gingen die Leute hinein und tanzten. Aber sie waren jetzt zu müde, hatten keinen Schwung mehr, und so legten sie sich denn zu Bett, so gut es anging, paarweise oder zu mehreren, wie es sich gerade fügte.

Draußen herrschte vollkommen stille Nacht. Häuser und Berge standen schwarz gegen die Luft und die Dunkelheit da, und die Milchstraße leuchtete quer über dem ganzen Himmel. Der Atemzug des Meeres war nicht zu vernehmen, außer man lauschte aufmerksam darauf.

Ola und Anetta gingen auch heute zum Hof des Tierarztes hinüber, ebenso wie gestern nacht. Aber heute waren sie allein unterwegs. Sie tasteten sich zu einem Dachraum hinauf und legten sich schlafen.

4

Am dritten Hochzeitstag bekamen die Leute allmählich müde Augen. Die Eßlust war ihnen vergangen und auch sonst verschiedenes; es dauerte einige Zeit, ehe sie wieder in Schwung kamen. Die Älteren, die schon mehreres mitgemacht hatten, zogen sich nur an und gingen wartend herum, denn das gehörte mit zum Schönsten bei einem Gastgelage; sie gingen umher und dachten sich allerlei Zeitvertreib aus. Viele von den Jungen froren durch und durch. Es hatte gewiß zu lange gedauert, und wie sollte es jetzt werden, wenn die Festtage vorüber waren und der graue Werktag wieder anfing? Würden solche Tage sich nicht rächen? So lange waren sie noch nie von daheim fortgewesen.

Da erzählte einer, daß ein Prediger in die Gemeinde gekommen sei. Er las aus dem Gotteswort vor und predigte darüber beinahe wie der Priester selber, und wer ihn gehört hatte, sagte, daß er merkwürdige Dinge verkünde. Heute nun um elf Uhr sollte er wieder sprechen, auf einem der Nachbarhöfe.

In ganzen Scharen zogen sie vom Hochzeitsfest weg, das war ja gleich ein Wechsel in der Kost.

Der Prediger war ein großer und breitgewachsener Mann mit einem so starken Ausdruck im Gesicht, daß alle sofort schwiegen und kleinlaut wurden, die er ansah. Die Stube war voll von Menschen und jene, die nicht zur Hochzeit gehörten, hatten ihr Gesangbuch mit und sangen, daß es durch Haus und Menschen wogte. Dann stand er auf und redete, und es lag die gleiche Kraft darin wie im Gesang, die gleiche seltsame Schärfe wie in seinem Blick. Der Pfarrer in der Kirche sagte sicherlich dasselbe wie er, aber er war so fern von einem, meistens, man konnte dabei trotzdem an alles denken, was man wollte. Hier war das etwas ganz anderes. Die Frauen schluchzten und weinten auf ihren Bänken, eine Reihe hinter der anderen. Und die erwachsenen Männer konnte man erbleichen sehen; es wurde immer schwerer, zu atmen.

Einer der jungen Leute von der Hochzeit stieß ein lautes Häh aus und noch eines, denn das hier war das Merkwürdigste, was er je erlebt hatte, er mußte laut lachen. Andere versuchten es ihm nachzumachen; sie wollten diesen Druck los werden; einer von ihnen verfiel sogar auf den Gedanken, mit seiner Bank zu scharren, so daß ein Lärm in der Stube entstand. Aber sie blieben allein in ihrem Vergnügen, und ehe sie sich's versahen, saß auch ihnen der Prediger wieder im Nacken. Es führte zur Hölle, dieses Leben hier, ganz unzweifelhaft, sie sahen es, und es war unheimlich zu sehen.

Auch Gjartru war hingekommen. Sie hatte die ganze Nacht keinen Schlaf gefunden, und jetzt war es eine stärkere Gewalt, die sie dorthin zog. Gjartru wandte die Augen von dem Prediger nicht ab, er hielt sie fest und trug sie überallhin, wohin er nur wollte. – »Das Leben«, sagte er, »das Leben ist der Weg zum Tode. Wie der Fluß zum Meer, so eilt das Leben dem Tod entgegen, liebe Seele; alles ist eitel.« – »Ja, ja!« seufzte sie laut. Das bohrte sich in die Brust ein, Wort für Wort; aber es schmeckte doch so unendlich süß. Den Tränen widerstand sie, solange sie nur konnte. Tränen zeigen war für sie dasselbe, wie sich vor allen Leuten nackt hinstellen, dieses Gefühl steckte noch von früher in ihr. Als sich aber rings um sie alle nachgaben, hing es auch bei ihr nur noch an einem Haar. Der Redner sah sie unverwandt an, redete nur zu ihr; er war so groß, und seine Augen waren so gütig, es strahlten Dinge darin, von denen die Welt nichts wußte – Herr, du mein Gott, wie klein, wie armselig klein war alles andere! Die verschiedensten Gedanken durchzuckten sie, alles mögliche tauchte aus der Dunkelheit in ihr auf und verschwand wieder. Aber das Leben war ein Weg zum Tode!

Mina! flüsterte sie ein paarmal, sie hätte ihr nachlaufen und sie hierher holen sollen, denn wie sollte es ihr ergehen, jetzt, da alles rings um sie zusammenstürzte? Aber der Mann dort oben redete, und es war unmöglich, wegzugehen.

– – – Mina hatte andere Dinge vor. Sie hatte bereits am Abend vorher gewußt, wie es stand. Sie hatte nicht die ganze Nacht wach gelegen, sondern nur so lange überlegt, bis sie eingeschlafen war, und als sie erwachte, fing sie wieder damit an. Sie war sich klar darüber, daß hier ein Bat gefunden werden mußte. Dann ging sie hinunter und traf als ersten Ola. Ruhig wartete sie ab, bis er und die anderen miteinander ausgeredet hatten. Der Tierarzt war da, und den fürchtete sie; er sah so allwissend aus, und dem Großvater gegenüber fühlte sie sich auch nicht ganz sicher. – »Früher«, sagte der Tierarzt, »waren ganz andere Zeiten; da lebte das Volk so, wie es sich gehörte, nicht wahr, Anders?« – »Nun, ich weiß nicht recht; das war eben damals. Wollen wir nicht lieber die Karten mischen und ein neues Spiel anfangen. Es kann schlimmer werden, o ja, aber nicht wieder genau so!« Der Tierarzt lächelte den anderen rings um sich zu: Das gerade sollten sie hören. Hörten sie, oder hörten sie nicht? Er wandte sich Ola zu: »Was stehst du denn da und verziehst das Gesicht, Junge? Weil die Zeit dich nicht nimmt und auf den Händen trägt? Ja. Aber sie mag nicht. Es ist alles ganz einfach hier auf der Welt, eins kommt aus dem andern, verstehst du.« – »Ist das so einfach? Dann dreht sich mir alles vor den Augen. Wo fängt es an? Und wo hört es auf, kannst du mir das sagen?«

Ola ging von ihnen fort und trat dicht an Mina heran. So ernsthaft hatte sie ihn noch nie gesehen. Sie ging mit ihm hinaus, und die ganze Zeit war ihr, als wisse er, was sie wollte. Draußen vor der Haustreppe blieb er stehen. – »Wenn er doch nur reden könnte«, sagte er. – »Wer denn?« – »Dein Arthur.« – »Kann er nicht reden?« – »Nein. Er sagt alles nur so, wie es ist. Er sieht nichts anderes als das, was da ist. Er ist nicht derjenige, der kommen soll, wir müssen auf einen anderen warten. Du weißt: der Kuckuck? Der Kuckuck, der zu zeitig ruft. Später kommt der richtige.«

»Du mußt uns helfen, Oheim, du weißt, wie die Sachen stehen!«

»Ja, ja, ja!« er seufzte vor sich hin: »Ich hätte allen miteinander helfen sollen. Die Welt dreht sich, und die Menschen kommen nicht mit. Es gibt nichts Schlimmeres als dazustehen und zu wissen, daß etwas Neues kommen muß, und nicht zu ahnen, woher es kommen wird!«

Dann wandte er sich ihr zu und sah sie so scharf an, daß sie zusammenschrak:

»Weißt du, warum ich dich so gern habe, Mina, wenngleich du doch eigentlich ein dummes Ding bist? Weil du glaubst, daß es hier unter allen miteinander einen gibt, der tüchtig ist.«

Sie sah ihn mit großen Augen an. Und er murmelte vor sich hin: »Ich werde es auch noch glauben müssen, ich auch. Da hilft nichts. Es muß doch in den andern Menschen etwas Gutes wohnen, denn in mir wohnt es nicht.«

»Wir sollten den Feder nicht beim Wort nehmen, meinst du wohl?« Mina hatte sich jetzt gefaßt.

»Ach so, an das denkst du? Ja, das weiß ich nicht. Aber ist es wirklich wahr, ist es schief gegangen mit deinem Vater? Dann mußt du Segelsund nehmen, mußt dir den Hof verbriefen lassen, und zwar gleich. Für deinen Vater wird sich immer noch ein Rat finden.«

Nicht lange darauf hatte Mina den Vater gefunden. Sie bat ihn, die Sache nicht so schwer zu nehmen, der Arthur und sie wollten Segelsund kaufen, so groß sei die Schuld denn doch nicht, daß dies nicht noch möglich wäre. – »Und die Haut können sie dir doch nicht abziehen«, tröstete sie. »Denn so ist es in der Welt, weißt du, eins kommt aus dem anderen.«

Arnesen wurde feuerrot. Womit wollten sie denn kaufen? Mit zehntausend Kronen war Segelsund auf der Bank belastet – wußten sie denn nicht, daß die Hälfte genügt hätte? Und daß er den gleichen Betrag ringsumher schuldig war, he?

Mina blinzelte ruhig mit den Augen und schwieg. – »Der Ola hat mir diesen Rat gegeben«, sagte sie. »Er dachte wahrscheinlich, daß Onkel Jens für uns bürgen würde, für den Hof. Der Rest, ja, das weiß ich nicht, aber sie können dir doch wohl nicht die Haut abziehen? Darin liegt doch kein Betrug?«

Arnesen murmelte nur etwas. – »Ich will meinen Frieden haben! Ich will Frieden vor euch haben, sage ich! Was seid ihr doch für ein Pack: Zuerst ruinieren sie mich, dann fressen sie mich mit lauter Dummheiten und Einfällen bei lebendigem Leib auf! Wo ist sie denn, deine Mutter? Denn sie ist an allem schuld, hörst du? Und du bist noch schlimmer als sie – ich will Frieden haben!«

»Armer Vater!« murmelte sie, sie biß sich auf die Lippe und ging fort.

Sie und Arthur machten einen langen Spaziergang. Es fügte sich gut, daß sie Heggerud, den Bankmann, unterwegs trafen, er wollte wieder zum Hochzeitshof zurück. Mina ging sofort auf ihn zu, und der Alte war freundlich, wie er zu sein pflegte. Ja, das sollten sie tun, sagte er, und sollten nicht damit zögern, sich die Urkunde zu beschaffen, und wenn er ihnen auf irgendeine Weise behilflich sein könne, so würde er das gerne tun. – »Verkauft nur alles, was daliegt; Fischerplätze und Häuslerhöfe«, murmelte er im Gehen vor sich hin; »und die Fahrzeuge übernehmen wir, und die Bank in der Stadt soll das Nachsehen haben, jawohl. – Aber daß der Jens für euch bürgt, das wirst du niemals erreichen!« rief er mittendrin aus.

Das müßten sie eben versuchen, meinte sie. – »Mit ihm ist es ja am schlimmsten zu reden, aber in diesem Fall –«

Sie suchte ihn auf ganz Haaberg, aber er war nicht da. Droben im Dachraum fand sie Peder, und er sah bleich und schmal aus. Er saß auf dem Bettrand. Andrea waren sie auf der Treppe begegnet. – »Jetzt will ich dir etwas erzählen«, sagte Mina. »Du bleibst jetzt auf Haaberg sitzen und ich auf Segelsund, was sagst du dazu? Wir kaufen den Hof, wir werden den Jens dazu überreden, zu bürgen. Nach Amerika ausreißen, sagtest du? Das tust du nicht, nein; obgleich es wohl das leichteste wäre. Weit eher müßten wir fahren, der Vater hat alles miteinander verloren und noch mehr dazu. Nein, du wirst nicht ausreißen – aber wo steckt er denn nur, der Onkel Jens?«

Peder sah mit leerem Blick vor sich hin. Seine Augen waren gläsern und die Lider steif wie Binde.

»Die Schöngans!« gähnte er hinter ihr her.

Um diese Zeit kehrten die Leute aus der Versammlung zurück, und das ganze Haus füllte sich mit Lärm und Reden. Man bat die Gäste, auf den Hof des Tierarztes zu kommen, denn dort stand das Mittagsmahl bereit, frisch gesalzener Seebarsch und zerlassene Butter, wollten sie das nicht versuchen? Nach und nach kam die Menge in Bewegung.

Gjartru und Arnesen saßen nicht bei Tisch. Er hatte sich zu Bett gelegt, mochte nicht einmal antworten, wenn man nach ihm rief, und sie war nirgends zu finden. Aasel war die gleiche wie immer und Kristen mit ihr. Sie aßen, daß es eine Lust war, und man sah ihnen nicht an, daß sie an andere Dinge dachten. Im übrigen dachte man nur noch an den Laienprediger, alle rings am Tisch. Namentlich ein Ereignis hatte auf alle Gemüter Eindruck gemacht. Ein kleiner Lausbub, der hinter dem Prediger saß, hatte ihm verstohlen einen Teufel aus Papier auf dem Rücken befestigt; die Leute sahen dies am Schluß der Versammlung, und gar mancher, der eben noch geweint hatte, mußte jetzt lachen. Auf dem Heimweg aber glitt der Junge aus und verrenkte sich den Fuß, so daß man ihn auf einer Rodel heimschaffen mußte.

Gegen Abend kam der Prediger nach Haaberg und mit ihm Gjartru. Es sollte dort eine Versammlung abgehalten werden. Aasel erfuhr nicht eher etwas davon, als bis es zu spät war. Sie hatte sich um so vieles andere zu bekümmern. Und als sie endlich kam und die Sache noch verhindern wollte, sagte der alte Anders, man solle doch den Mann reden lassen, es könne ganz unterhaltend sein, zu hören, was der zu verkünden habe, schließlich müßte man solch einen Mann auch einmal gehört haben.

Die Versammlung wurde sehr ergreifend. Die Leute bekehrten sich haufenweise, und Gjartru befand sich unter ihnen. Der Prediger drang immer härter und härter auf sie ein, es gab nur eine Wahrheit: Wenn du erlöst werden willst, so muß das heute noch geschehen, heute noch!

Anders saß da, das Gesicht der Stimme zugewandt. Bisweilen bestand es nur aus Falten und Bart; bisweilen aber öffnete es sich groß und treuherzig wie bei Kindern, und die Augen wurden weniger blauweiß, beinahe, als könnten sie sehen. – »Ja, ja«, sagte er. Aber je mehr Menschen sich überzeugen ließen, desto härter erklangen Gottes Worte über ihnen, und jetzt schluchzten einige schon laut auf – und das war die Gjartru, erkannte Anders. Er sitzt da und streicht sich den Bart, immer und immer wieder. Jetzt senkt der Prediger seine Stimme, bedrückend sanft und von Herzen kommend erklingt es:

»Wer jetzt sein Herz dem Herrn verschließt, der verschließt es vielleicht für ewig, und der Tod steht vor der Türe und wartet. Der Tod! meine Freunde.«

Da steht Anders jäh auf, hoch ragt er über sie alle hinaus und wendet sich dem Redner zu, sein Haupt ist wie die weiße Wolke über der Erde an einem Herbstabend. Er räuspert sich zweimal, hoch und scharf, und streckt die Hand vor sich aus:

»Nein, nein, nein, Mann! Jetzt mußt du aufhören. Wo steckst du, Aasel?« Er wandte sich zur Seite.

»Hier bin ich, Vater, und jetzt soll – –«

»Ja, tu das, mach, daß du den Mann hinausbringst. Nimm deine Drehorgel und geh zu einem anderen Marktplatz. Laß den Tod sein, was er ist.«

Mit weitaufgerissenen Mündern hatten sich alle umgedreht, und so blieben sie sitzen. Ein kalter Hauch fuhr durch die Stube, als hätte man die Decke abgehoben. Der Redner suchte seine ganze Kraft zusammen. Da aber sagte Aasel trocken und ruhig:

»Singt noch ein Lied zum Schluß, das ist so schön.«

Der Prediger packte seine Sachen zusammen und ging sofort, und mit ihm noch viele. Die übrigen saßen da und entbehrten das Lied.

Gjartru saß noch wie im Traum da. Sie sah zu, wie alle rings um sie aufstanden und umhergingen. Dann beugte sie sich vor, schloß die Augen und betete. Sie wollte dem Herrgott danken, und sie wollte für sich und die Ihren beten, aber sie kam nicht über die erste Bitte hinaus: Sie betete für Aasel, betete so, daß sie am ganzen Leib zitterte, der Herr möge sie doch herausreißen wie ein brennendes Scheit aus dem Feuer, sie sagte, er müsse das tun. Denn es gab keinen Himmel für sie, Gjartru, wenn nicht auch Aasel dorthin kam! Sie murmelte und flüsterte, sie achtete nicht darauf, ob die Leute zuhörten oder nicht. Und es hörte es auch niemand als Aasel.

»Ja, jetzt kannst du ebensolange für mich beten, wie ich für dich gebetet habe«, sagte diese dicht über Gjartru.

Menschen gingen durch die Türen aus und ein. Einige hatten den Wanderprediger begleitet, einige waren geradeswegs heimgegangen, hier sah es nicht mehr nach Hochzeit aus. Kristen Folden kam selber herbei und bat sie, wieder hereinzukommen, jetzt sollte es einen Grog geben. Jens schenkte ein und arbeitete mit dem Grog wie ein Großknecht bei der Heuernte, und endlich war das Trinken wieder in vollem Gang. – »Soll das wirklich in der Weise weitergehen?« sagte Anders, er saß noch da und dachte an die Versammlung. – »Ja«, meinte Ola, »wer weiß, ob die Leute jetzt nicht einen Anfall von Krämpfen bekommen. Von Krämpfen im Glauben. Ich fühlte an mir selber, daß es dahin kommen könnte. Später werden andere Dinge kommen, muß man wohl glauben.« – »Ja, das muß man wohl glauben«, sagte Anders.

Arnesen kommt mit dem Glas in der Hand herein, sieht blinzelnd in der Stube umher, gleichsam als sei er noch kaum recht wach, und als er Kristen sieht, steuert er geradeswegs auf ihn zu: – »Jetzt wollen wir einmal schauen, Kristen Folden, ob dich die Gerechtigkeit nicht auch bald einholt. Wegen der Netze und wegen anderer Dinge. Ich bin fertig, das ist wahr, aber jetzt kommst du an die Reihe. Du bist ein windiger Kerl, hörst du, was ich sage? Ein – ein –«

Mina kam herbei und nahm ihn beim Arm, und er taumelte mit ihr weg wie ein schläfriges Kind.

Kristen wieherte nur ein wenig und half dann die Stube wieder zum Tanzen zu räumen. Diesmal mußten die älteren Leute dran glauben. Den Jungen war es kalt über den Rücken gelaufen, und sie standen geknickt an den Wänden. Anders brachte sie in Schwung. – »Heute abend will ich leben, ebenso wie ihr, Burschen; es fragt sich sogar, ob ich nicht auch noch einmal rund herum tanzen muß, ehe ich aufhöre.«

Als der Tierarzt hereinkam und einige Zeit später zu ihm trat, war Anders übermütig wie ein Junger, und mehr als das.

»Paß auf, du Tierquäler, jetzt will ich dir etwas erzählen!« lachte er. »Der Kristen Folden, mein Schwiegersohn, das ist ein Ehrenmann. Er schenkte mir ein gehöriges Bierglas voll Kognak ein und sagte dazu, das sollst du trinken, sagte er; und das trank ich. Und der Kristen Folden schenkte noch ein zweites gehöriges Bierglas voll Kognak ein und sagte das gleiche; und das trank ich. Und wahrhaftig, da wurde ich ein ganz anderer Kerl!« Er saß eine Weile da und lauschte: »Jetzt, meine ich, spielt der Ola wieder – hört doch zu, wie wenn man eine Ziege schlachtet! Den ganzen Kerl sollte man noch einmal machen. Tanzt nur zu, zum Tanzen ist's gut genug, ihr braucht ja weiter nicht drauf zu hören!«

Jetzt kam Andrea mit Peder an der Hand herein, und sie mischten sich unter die anderen Tanzenden. Peder hatte eine Weile geschlafen und war jetzt wieder guter Dinge. Er hielt sie so treuherzig fest – mit gutem Gewissen, wie Kjersti Rönningan sagte. Sie war gerade oben gewesen und hatte sich nach Petter umgeschaut, der lag sternhagelvoll da und schlief.

5

Mina war es ein wenig heiß zumute, aber jetzt mußte es geschehen. Sie mußte mit Jens reden, es gab keinen anderen Ausweg. Sie fing ihn mitten auf der Treppe ab, er kam gerade mit einem Krug vom Dachboden herunter. Jens sah sie scheel und trocken an; seine Kinnladen wurden immer größer und größer. Er schüttelte den Kopf: »Ich schreibe nie meinen Namen auf ein Papier, Kind. Nie, nein.« – »Nein, nein, aber du kannst uns doch etwas leihen, oder nicht? Leih uns zehntausend Kronen, wir geben dir dafür Segelsund mit allem, was drum und dran ist, zum Pfand.« Jetzt lächelte er, und Mina wurde glühend rot.

»Ich glaube nicht, daß ich das tun werde. Da müßte ich den Jens schlecht kennen. Du, mein Herzblatt, bist all right; daran fehlt's nicht. Aber ich bin eben ein – self-made man, verstehst du das? Ich habe meine principles, da ist nichts zu machen. Und dein Vater übrigens – na ja, und das ganze Land hier – – nicht für zwei Cents business zu machen. So, jetzt weißt du's. Komm doch mit mir hinüber, wie? Überleg dir's einmal.«

Mina hatte sich steiler und steiler aufgerichtet, und der eine Mundwinkel zog sich straff hinauf.

Da kam Peder hinzu. Er stand still da und hörte zu, betrunken zwar, aber auf sicheren Füßen; er sah aus, als wolle er den Nächstbesten anspucken. Er kam die letzte Stufe herauf und stellte sich neben Jens. »Ich hatte einmal einen Oheim, ich, der hieß Per –, hieß genau so wie ich, sozusagen. Er sagte einmal für einen gut, hat man mir erzählt; war nahe daran, den ganzen Haaberghof aufs Spiel zu setzen. Aber es blieb ihm erspart, war's nicht so?«

Jens wollte an den beiden vorüberkommen, er wollte den Krug hinuntertragen, aber Peder stellte sich ihm in den Weg.

»War es nicht so? Ja, ja, geh du nur. Jetzt ist das meine Sache. Was er nicht getan hat, das tue ich. He? Hast du etwas gesagt? Komm her, Mina, und du auch, Arthur, dann wollen wir einmal sehen«; er ging vor ihnen die Treppe hinauf.

Aasel hatte sich in der Schlafkammer neben der Oststube hingesetzt. Dorthin kam Gjartru und fand sie. »Du sollst nicht böse auf mich sein, Aasel«, sagte sie; »ich bin so froh, daß ich es gar nicht allein mit mir herumtragen kann. Ich fühle es wie eine Quelle des Glaubens in der Brust, ich bin so reich, wie ich es mir nie hätte träumen lassen. Ich glaube sogar, daß der Herr uns auf mancherlei Weise helfen wird. Ach, es ist etwas Beseligendes darum, so zerknirscht zu sein, wie ich es jetzt bin.«

Aasel lächelte vor sich hin: »Ist es denn so leicht, in das Reich Gottes zu gelangen? Ja, ja, ich habe dich ja so oft gebeten, dich an ihn zu halten, aber –. Ich hätte nie gedacht, daß es auf diese Art kommen würde. Das war es nicht, was ich von unserm Herrgott erbat, nein.«

Gjartru schluchzt noch ein paarmal auf, es stößt sie und stößt sie, und ihre Blicke schweifen in weite Fernen. »Dieser Gedanke an die Sippe, Aasel, wenn er dir nur nicht einmal zum Stein im Weg wird – und kannst du sie denn nicht dazu bringen, daß sie endlich einmal mit dem Tanz und all dem sündhaften Treiben da unten aufhören? Du warst doch sonst so ängstlich?«

Aasel meinte, sie solle lieber mit den Leuten reden. »Und jetzt läufst du wieder mitten im Nebel herum. Glauben, sagst du. Träume nenn ich es. Auf diese Kunst versteh ich mich nicht; ich muß die Welt schon so sehen, wie sie ist, und muß trotzdem meinen Kopf aufrecht tragen. Aber willst du nicht einen Schluck Wein haben? Er ist gut, du wirst sehen!«

»Ach, du weißt nicht, Aasel, wie seltsam es ist, alles miteinander! Als wäre schon das Ende der Welt gekommen!«

»Ja, das ist alles schön und gut, aber –.« Aasel tat einen Zug aus der Flasche. – Aber sie mußten nun eben Hochzeit feiern, dieses Mal, meinte sie. Denn auch ihr schien alles so seltsam, sie mußte das zugeben. »Meine Kinder sind bleich und weich, ich sehe das selber am besten, und vielleicht will keines von ihnen den Hof haben, sie reißen ihn mir aus den Händen und verschleudern ihn; und das, was wir hätten tun sollen, ist ungeschehen geblieben; und die ganze Zeit bin ich umhergegangen und habe mich damit gequält, daß ich etwas hätte opfern müssen, das Kostbarste, was ich wüßte – es kam nicht dazu. Die Sippe, ja, ich mußte doch auch wohl einen Halt haben. Aber was kommen soll, das wird wohl kommen. Halt du dich nur an deinen Glauben. Jetzt fühle ich mich zum erstenmal jung, trotz allem.«

»Ja, wenn doch bloß Arnesen sich dem Herrn ergeben wollte!«

»Ach du!« murmelte Aasel. Sie wandte sich von ihr ab.

Da kam Peder, und hinter ihr Arthur und Mina. »Hast du jetzt die Sprache gefunden, Mutter?« sagte er. »Du hast's ja leicht, du brauchst dich nur um mich zu sorgen. Da weißt du wenigstens, daß du recht hast. Meinst du, ich nehme Reißaus? Das sähe mir nicht gleich. Nein, aber jetzt habe ich für den Arthur hier unterschrieben, für zehntausend Kronen, soviel muß Haaberg doch wohl wert sein? Was sagst du dazu, Mutter?«

Seine Stimme klang nüchtern, sie gerbte und zog einen zusammen wie scharfe Lohe, schien es Aasel; aber trotzdem war er gleichsam so weit weg, dachte sicherlich an ganz andere Dinge. Plötzlich drehte er sich ihr zu und stieß hervor:

»Laßt es euch gesagt sein, ihr beide, du und der Vater, daß das hier abgemacht und festgenagelt ist. Wenn nicht – – dann heißt es Lebt wohl und Auf nach Amerika!«

Er schwenkte steif herum und ging weg. Andrea traf ihn im Gang, und er umarmte sie heftig und hart; sie wurde rot und erstaunt.

»Jetzt sind wir arme Leute, Andrea, hörst du? Jetzt habe ich mich von einem schweren Alp befreit. Ich wußte doch, daß ich auch noch etwas wert sei. Wo ist denn eigentlich mein Glas?«

Zuerst stand sie nur da und sah ihm nach. Dann arbeitete sich das Glück in ihren Augen hervor und legte sich über das ganze Gesicht, und als sie Aasel begegnete, hätte sie sich am liebsten versteckt. Aasel aber sagte nur, während sie die gekochte Schokolade kostete:

»Du hast mit dem Peder gesprochen, nicht wahr? Und wenn du mit ihm einig bist, kann ich es ja auch sein.«

Das Hochzeitstreiben war wieder auf seinem Höhepunkt angelangt, das konnten sie hören. Aasel lauschte und lächelte: »Wie merkwürdig das ist. Als sollten wir es zum letztenmal hören.« Jetzt läßt sich ein halb betrunkener Bursche draußen im Gang vernehmen:

»Drauf, Burschen, jetzt tritt bald der Jüngste Tag in Kraft!«

Und ein älterer Mann antwortete darauf:

»Der Jüngste Tag ist schon überstanden.«

Nie hatten die Leute mehr gefeiert. »Und wenn die Heringspreise gefallen sind, so ist es gut, daß wir vorher verkauft haben«, sagte einer. – »Dann war es ein Glück, daß wir keine reichen Leute sind und daß wir nicht kaufen konnten«, antwortete ein anderer. Und immer noch war Hochzeit und eine gute Zeit, und der Rest stand in einem blauen Nebel vor ihnen. Keiner dachte mehr an Sünde, nicht mehr als in früheren Tagen. Draußen war es schwarz und kalt, und dorthin wollten sie nur ungern; schließt die Tür und schraubt die Lampe hoch, hervor mit den Messinghörnern!

Ola hätte am liebsten bis in den hellen Morgen hinein dagesessen und gespielt, und er dachte gar nicht daran, daß er die Leute quälen könnte. Er hatte sich warm gespielt, das war es. Jetzt war er gerade so weit, daß er alles spielen konnte, was ihm durch den Sinn fuhr, und das war gar vieles. Er lernte die Tanzweisen vom Teufel, wie die Alten sagten; das war ein Leben, so wie er es sich früher immer gewünscht hatte. Aber man mußte vielleicht auch an die denken, die es mit anhören mußten. Er legte die Ziehharmonika weg.

Da fährt die äußere Haustüre auf, und die Leute im Gang brechen in ein Geschrei aus, in ein gellendes Schreckensgeschrei und ein heiseres und vielfaches Tiergebrüll: Dort steht ein Toter auf der Haustreppe! Ja, da steht er: im weißen Totenhemd und mit Augen und Zähnen wie ein Toter, ein grünes Licht geht von ihm aus, und jetzt lacht er: He, he, he! Alles weicht zurück und tiefer ins Haus hinein, Frauen wie Männer, und so weiß sind sie wie gebleichtes Leinen. Diesmal hört der Tanz mit einem Schlag auf.

Ola bahnt sich einen Weg durch das Gedränge, und hinter ihm noch zwei, drei andere. Sie sehen die Erscheinung zurückweichen, die schwarze Nacht steht wie ein Keller dahinter, und dorthinein war die Gestalt verschwunden.

Anders hat gehört, worum es sich handelt, und er stellt nun das kleine Mädchen von Aasel auf den Boden – die Kleinen die liefen immer zu ihm, wenn es irgend etwas gab –, und dann tastete er sich langsam vorwärts.

»Macht Platz!« ruft er. »Ich werd ihm schon heimleuchten, werd ihm schon den richtigen Kurs beibringen, in dem Fahrwasser kenn ich mich aus.«

Sie machen ihm Platz, Ola bleibt stehen und wartet, und Anders geht hinaus. Sein Gesicht war blaurot, das konnte Ola sehen. Die Erscheinung war nicht mehr da, aber Anders trat über die Treppe hinaus und fiel nach vorn, kopfüber auf die Erde hinunter und blieb dort liegen.

Betrunkene Männer und fast alle übrigen stürmen hinaus und halten Umschau. Keine Erscheinung mehr, nichts mehr weit und breit, das Biest hatte nachgeben müssen! Aber der Anders? Hat er sich verletzt? Und dann diese elend hohe Treppe, die er selbst einmal gezimmert hatte!

Sie packten Anders an und zogen, hoben und zerrten und wollten ihn ins Haus schaffen, aber er war schwer für zwei, und ihre Füße verloren immer wieder den Halt. Und es war ihm auch nicht möglich, selber eine Hand oder einen Fuß zu rühren, heute abend war er schwer gegerbt. Da machten sie es wie mit einem Boot, das auf Land gezogen wird: »A-hoi, o-hi holi-op!« So brachten sie ihn über die Treppe hinauf und in den Gang hinein, wartet nur, jetzt in die Stube mit ihm! »Hast du dir weh getan, Anders? Mir scheint, du bist gefallen? Dem Knochenkerl hast du wahrhaftig den Garaus gemacht.« Aber Anders lachte heute abend nicht.

Da streckt er sich mit Riesenkraft, und dann sinkt er schlaff zusammen. Ola kam herzu, bat die anderen wegzugehen. Eine Weile steht er dicht über ihn gebeugt da. Dann hebt er den Kopf und sieht alle ringsum an.

»Nein, das ist ja nicht möglich?« fragte einer nach dem andern. »Das ist doch nicht möglich!«

»Ja, jetzt ist es zu Ende. Mit ihm.«

Mariane, das kleinste Mädchen, hat alles begriffen. Ihr Gesicht ist erstarrt und verzerrt, sie steht noch eine Weile da und betrachtet den Großvater, und als Aasel und Gjartru kommen, dreht sie sich weg und geht in die Kammer des Großvaters hinaus. Die beiden Schwestern bleiben ebenso wie die anderen stehen.

Andrea war oben im Dachraum bei Peder, denn er fühlte sich krank und lag zu Bett; das letzte Glas war um eins zuviel gewesen. Arnesen kam gerade herauf, und da ging Andrea hinunter, um Wasser zu holen. Sie kam nicht sogleich wieder, und so ging Arnesen nach Wasser hinunter. Peder trank gierig. »Ich danke dir!« sagte er. »Du bist ein braver Mann, wenn du auch ein großer Dummkopf bist.« – »Du kannst mich nennen, was du willst, von nun an, Peder. Denn ich weiß, du hast versprochen, uns zu helfen – den jungen Leuten zu helfen, wollte ich sagen. Aber mir, mir ist deswegen doch nicht geholfen – was soll ich jetzt mit mir anfangen? Ich bin betrunken, ja, aber trotzdem sehe ich alles vor mir. Zehntausend, sagst du, aber du darfst nicht vergessen, daß viertausend im Hof festgelegt sind, von früher her; weißt du nichts von diesem Legat? Es sind also nur sechstausend, für die du bürgen mußt, und dann verkaufen sie das ganze Eigentum drinnen am See mit Stumpf und Stiel, es bleibt also fast nichts an dir hängen, und außerdem mußt du dir noch einen Bürgen dazu nehmen, allein wiegst du nicht schwer genug. Ja. Aber wenn du wirklich und ganz der Peder bist, dann schreibst du auch noch für mich einen Zettel, eintausend Kronen oder so etwas, so viel wenigstens, daß ich hier wegkomme und nach Amerika fahren kann, hier hab ich doch nur Gegenwind; was meinst du dazu?«

Peder lag da und sah zur Decke hinauf. Er lächelte ein paarmal leise, dazwischen aber war er ernsthaft und unruhig, schaute immer wieder zur Tür hin. »Was ist denn aus der Andrea geworden?« sagte er. »Bringt sie denn kein Wasser?« – »Hier ist doch Wasser!« – »Ach du

In diesem Augenblick kam Mina. Sie war beunruhigt, weil der Vater hinter Peder her war, ihn überall gesucht hatte, wußte aber nicht, was sich unten zugetragen hatte. »Du mußt dich doch schämen!« sagte sie und zog ihn mit sich fort. Peder aber rief ihr nach:

»Es ist nicht ausgeschlossen, daß ich es doch noch tue!«

Man hatte Anders gerade auf sein Bett in der Kammer gelegt, als die beiden herunterkamen.

Und jetzt war es mit der Hochzeit zu Ende. Es wurde still, drinnen wie draußen – dort stand die Nacht grauschwarz zwischen den Bergen, mit kleinen Schneefurchen in den Gesichtern der Berge, und da und dort mit einer Sternschnuppe am Himmel, er war so ausgeglüht und leer.

Die Leute legten sich zu Bett, nach und nach – und nüchtern waren sie alle miteinander.

Aasel und Gjartru waren die letzten in der Kammer beim Vater. – »Ich wußte doch, daß es so enden mußte!« seufzte Gjartru. – »Ach nein, wir wußten gar nichts. Und das war gut so.«

Andrea saß auf dem Bett bei Peder, als sie erzählte, wie es stand. Er hatte ihre Hand auf seine Stirn gelegt, und dort mußte sie liegen bleiben, denn ihm tat der Kopf so weh. – »Ja, so«, sagte er nur. »Ja, allzu früh war es ja nicht«, fügte er hinzu. Andrea zuckte unter diesen Worten ein wenig zusammen, sie klangen so unwahrscheinlich kalt; dann aber richtete sie sich auf und sagte, nun sei ihre Zeit gekommen, nicht wahr? Darauf gab er keine Antwort.


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