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Die Brise weht

1

Am Tag darauf blies ein lustiger Landwind, Sonne und Wind lagen über den Äckern, und die Leute waren draußen und schnitten das Korn. Keiner wollte der letzte sein, sie »jagten den Hasen« von Hof zu Hof, und man konnte ab und zu hören, wie sie auf einem Acker schrien und riefen – da lief er aus dem einen Feld davon und zum Nachbarn hinüber, ob nicht dort noch ein Fleckchen ungeschnittenes Getreide wäre, in dem er sich verstecken könnte. Auf allen Äckern wuchsen die Garbenhaufen, gelb und gut im Sonnenschein, und der Wind blies sie an und wollte ihnen wohl.

Der Wind, der wollte allen wohl, so dünkte es Ola, das war die Brise für Fischer und auch die Brise für den Landmann.

Sie rauschte herrlich oben in den Laubhängen und über den Fjord hin, man bekam Lust, sich von ihr erfassen zu lassen. Ola tat dies, er ließ sich vom Wind nach Westen tragen; er ging zum Tierarzt, obgleich er nicht dorthin wollte.

Der Tierarzt saß allein daheim.

Tierarzt Ween war ein kleiner breitgewachsener Mann in den Sechzigern. Er hatte einen schwarzen, kurzgeschorenen Bart, der ihm fast bis unter die Augen hinaufwuchs. Das Gesicht war frisch und stark und die Augen blau und scharf, aber ein wenig zu groß. Er stammte aus dem Süden, ein Bauernsohn. Er war schon seit langer Zeit Witwer und hatte nur noch zwei Kinder, Andrea und Arthur.

Ola sah sofort, daß er sich einen Schluck Schnaps zum Kaffee geholt hatte. Er war nun einmal so, der Tierarzt, saß er an den Abenden daheim, so saß er nicht trocken da; man konnte es ihm schon an der Nase ansehen.

»Sie ist im Frauenverein«, sagte er, noch ehe Ola sich hatte setzen können. So geradezu war er immer, und nie kam ein Lächeln hinterher. – »So, so«, sagte Ola nur. Er hatte auch gar nicht erwartet, sie zu treffen; aber er merkte, daß sein Gesicht ein wenig länger wurde. – »Und Arthur ist immer und ewig unterwegs«, fuhr der andere fort. »Er will sich nach einem Hof für seine Schule umschauen, nach einem großen Hof mit großem Betrieb, jawohl! Er will der Gemeinde etwas Gutes antun; will sie auf den Rücken nehmen und sie weitertragen.«

»Das ist gewiß nicht das Dümmste«, meine Ola. »Dumm, vielleicht, aber eine gute Sache für den, der sich daran hält.«

»He! He! Jetzt hast du das ausgesprochen, was mir gerade durch den Kopf ging, pfui Teufel! Wer hätte das gedacht, daß du so weit herumkämst und Gedankenleser würdest! Und dann nimmst du die Gedanken anderer in den Mund – du bist schlimmer als ein Hund!«

Der Tierarzt war flammend rot, wie immer, wenn er etwas sagte, und seine Blicke bohrten sich stechend in Ola ein, dem war zumute, als stehe er zwei Hörnern gegenüber. – »Denn das ist ja gerade die Kunst«, fuhr der Tierarzt fort, »daß man nicht so daheim sitzen bleibt wie ich oder so herumstreicht wie du; und nicht den geringsten festen Halt in der Welt hat. Dann wirft einen die Welt ab, sie bockt, die Alte. Wie harmlos ein Ding auch aussehen mag, es hat doch immer eine Stelle, an der ein Mann sich festhalten kann. Ein wenig Branntwein und ein wenig Musik, ein kleines Kartenspiel dann und wann: das kann man das Leben eines Witwers nennen. Und du, du singst und spielst und liegst nachts wach und liest – he? Über den Arthur also solltest du nicht lachen!«

Er sprach lange, wie er es bisweilen tat, wenn er in diesem Fahrwasser war; und Ola saß da, als höre er zu und denke nach. Der andere aber merkte genau, daß er das nicht tat. – »So, so«, sagte Ola, weit fort mit seinen Gedanken und vor sich hin. Der Tierarzt fiel nach und nach ab. Er hielt den Blick die ganze Zeit auf Ola gerichtet – jetzt saß dieser da, das Kinn in den Händen, und starrte gerade vor sich hin, was sah er doch nur? Wohlgenährt war er und nicht blaß – konnte es nicht werden, so gern er wollte, aber er sah doch wie ein Erschöpfter aus. Wahrhaftig, er starrte Lauras Bildnis an.

»Sie, ja!« Der Tierarzt fuhr sich hastig über das Gesicht. Ja, gewiß. Hätte er lieber Andrea angestarrt, die lebte. Plötzlich sagte er: »In diesem Herbst sind es drei Jahre, seit Laura starb.«

Ola nahm seinen Blick an sich, sah den anderen von oben bis unten an: – »Ja?«

»Und Andrea ist im Frauenverein, wie gesagt.«

»Ja, mit ihr wollte ich eigentlich sprechen«, murmelte Ola.

»Ja, vielleicht … Aber du solltest dich an die Erde halten, Junge. Fang dort an, wo die anderen aufhören. Dann wird ein Mensch aus dir werden.«

Es dauerte eine Weile, bis Ola antwortete. Er saß da und überlegte eines nach dem anderen. – »Nein«, sagte er, »das will ich nicht. Denn ich bin genau soviel wert wie du.« – »Keinen Scherz jetzt, das greift bei mir nichts an.« – »Das ist kein Scherz. Es ist nie ein Scherz, das zu sein, was man nicht ist.« – »Du liegst da und grübelst und liest, ich weiß das.« – »Nein. Das hat jetzt aufgehört. Sowohl das Lesen wie das Denken. Nein, nein, der Kopf taugt schon noch. Aber die Seele nicht. Sie war nicht dazu geschaffen.«

»Pah! Du redest jetzt wie dein Vater. Genau so sitzt er da und jagt den Weibern Schrecken ein. Du solltest doch wohl ein Menschenalter jünger sein, oder? Nicht?«

»Ich kehrte um, schon lange bevor ich dort war, wo der Vater ist.« Ola sah jetzt den Tierarzt fest und ernsthaft an. – »Dort kehrten sie wohl alle um, ein jeder«, fügte er hinzu. »Ein Mensch, der sich selbst sieht, ist ein Unding. Es können einem schon von weniger die Knie weich werden. Die Erde, sagst du? Sie will nichts von mir wissen. Will nichts von mir wissen; das mußt du doch wohl verstehen. Ein ungläubiger Mensch, der nicht dazu geschaffen ist, ungläubig zu sein. Eine halbe Größe. Und ein Spielmann! Nein. Aber richtig!« – er raffte sich auf und sah auf die Uhr – »wir wollten doch ein paar Noten anschauen. Aber daraus wird ja doch nichts.«

Hatte Andrea nicht gesagt, daß sie in den Frauenverein gehe?

Das hatte sie wohl sicher getan; aber er hatte es vergessen. – »So, so, sie ist dort, wirklich?«

»Wenn du es nur so weit brächtest, dich zu verheiraten, Junge!«

Der Tierarzt sagte ihm das mitten ins Gesicht, so daß er nicht einmal blinzeln konnte. Ola sah seinem Gesicht an, daß er jetzt alles sagen würde; – in diesem Augenblick war der andere der unheimlichste Mensch, den er kannte. Ola erbleichte. Aber er sah den Tierarzt gehässig an, und seine Stimme war rauh und schneidend wie manchmal bei betrunkenen Leuten:

Ich hab mir eine ersungen. Eine zweite mag ich mir nicht mehr ersingen!«

Damit stand er auf und wollte gehen. Jetzt aber bat der Tierarzt, er möchte bleiben, bat wirklich, und es klang Angst aus der Stimme, so einsam saß er hier.

»Nein, jetzt gehe ich!«

Aber Ola blieb stehen. Er war bereits gegangen, dünkte es ihn, der Wind erfaßte ihn und trug ihn in die Luft hinaus, er fühlte keinen Halt mehr unter den Füßen.

»Ich wurde ›gewogen und zu leicht befunden‹. Von mir selbst, verstehst du. Leicht wie eine Feder im Wind.« Er stand eine Weile da, gleichsam als lausche er auf etwas. Dann fuhr er in dem gleichen grauen, beißenden Ton fort: »Ich habe von einer Art Krabbe gelesen, die die Seeschnecke auffrißt, sie höhlt ihre Schale aus und macht sich ein Haus daraus. Reißt du sie einige Zeit später heraus, dann krepiert sie, oh, sie bittet so jämmerlich für sich, wenn du sie anfaßt, wehrt sich, so gut sie kann. Und ich will nicht aus meiner Schale heraus; es ist zu spät.«

»Das habe ich schon früher einmal gehört. Nur Geschwätz – sing doch du mir nichts vor, Junge. Ihr seid seltsame Leute, ihr Haabergleute; bis auf Aasel. Dichtet euch alles mögliche an und bildet euch ein, das und jenes zu sein – und du meinst, du seist ein armer Kerl und ein Eigenbrötler, ein Wallach dem Leben gegenüber, aber von Edelmut triefend – ja, zur Hölle übrigens!«

Ola horchte auf den Klang in seiner Stimme, lauschte auf den Gesang darin, denn der war so tief und gut – so singt der Stamm, wenn man auf ihn einhaut; so singt es in dem, der ein Mann ist.

»Wenn du nur nicht recht hast!« seufzte er.

»Recht? Bist du jetzt wieder hündisch, mir mitten ins Gesicht? Hast du denn keine Zähne? Übrigens –«

Der Tierarzt nahm die Pfeife aus dem Mund und betrachtete sie. – »Übrigens«, sagte er noch ein paarmal. Nach einer Weile blickte er zu Ola auf, gleichsam mit anderen Augen.

»Geht es dir wirklich so dreckig? Daß du das selber weißt, ist doch noch ein Trost. Instinkt vielleicht.«

»Hör nicht auf mich!« sagt Ola und lacht. »Meine Schwestern sind glückliche Menschen. Alle sind glücklich, die mit dem Kopf gegen die Wand rennen; vielleicht bringe ich auch einmal den Mut dazu auf.«

Jetzt hörte man Schritte vor dem Haus, rasch und leicht. Die beiden sahen einander noch einmal an.

»Du gehst doch nicht?« fragte der Tierarzt. »Du wirst doch nicht gehen?«

»Doch, heute abend. Aber ich komme wieder. Glaube ich wenigstens.«

»Sie singt.«

Ola nickt; er steht noch da, die Türklinke in der Hand. Andrea kommt summend in den Gang herein.

2

Die Frauenversammlung auf Ramset hatte ihren trägen Verlauf genommen, und Andrea war froh, als sie endlich fertig waren und gehen konnten. Zwar klang es schön, wenn sie sangen, es lag solch eine fremde Macht darin, von Herzen gleichsam; und der Kaffee war ganz gut, und manches von dem, was sie redeten, hörte sich ganz schön an, sie konnte es nicht leugnen, es machte einem Lust, noch mehr zu hören von dem, was sich in der Gemeinde zutrug, denn sie wußte sonst gar nichts davon. Aber es strengte sie so sehr an und machte sie auch unruhig: ehe man sich's versah, waren sie dicht auf einem, wie Finger in der Dunkelheit, und dann hatte man ein Gefühl, als sei unter einem ein Moor und sauge und sauge und wolle einen hinunterziehen. Wäre es nicht um der Heiden willen gewesen, sie wäre kaum hingegangen. Und heute abend hätte sie daheim bleiben sollen.

Sie gaben einem so treuherzig die Hand, als sie Abschied nahmen, hielten einen gleichsam mit Hand und Augen fest, und in diesem Punkt war Aasel Haaberg nicht besser als die anderen. Sie hatte übrigens fast die ganze Zeit dagesessen und sie angesehen; so oft Andrea aufblickte, ruhten die beiden Augen auf ihr und sahen sie an. –

Und die Leute sagten untereinander, als sie auf dem Heimweg waren, von Andrea könne man den Blick kaum abwenden, sie habe so gute Augen wie ein Kind; und so schön seien sie, obwohl man sie fast schwarz nennen könne, alles an ihr war schön. Und wenn sie Küstersfrau würde, sagten sie zu Aasel, dann würde der Ola keine schlechte Frau an ihr bekommen. Ja, schön könne man sie ja nicht nennen, meinte Aasel, da fehlt es weit; aber ein nettes kleines Ding ist sie und gut anzuschauen, das ist wahr.

Andrea ging mit Kjersti Rönningan heim, Petters Pflegetochter. Andrea mochte sie gern leiden, denn sie war so allein und still unter den anderen. Heute abend redete sie übrigens über alles mögliche, wie es sich gerade traf. Dann lächelt sie und sieht Andrea an, plötzlich: – »Und du sollst also auch nach Haaberg kommen! Ach so, du weißt es nicht? Nein, das ist wohl möglich. Aber ich und die anderen, wir wissen es – was wissen wir wohl nicht, he?« Ja, die Leute hatten sie bereits mit Peder verheiratet und sagten ja und amen dazu, und amen sagte auch Aasel selbst. »Sahst du nicht, wie sie dich heute mit den Blicken maß? Glaubst du, sie tut das mit jeder Beliebigen? Zu denen gehört sie nicht.«

Andrea lacht, ein trillerndes, lustiges kleines Lachen in den Wind hinein: Was hatten sie denn da wieder zusammengebraut? Was hatten sie sich denn da wieder ausgedacht?

Nun, sie seien doch gar nicht so selten beieinander gewesen in der letzten Zeit.

»Wir?« Andrea mußte nachdenken. Sie verlangsamte ihre Schritte ein wenig. – »Wir saßen an einem Abend am Wegrand hinterm Kirchhofszaun; das ist alles. Vielleicht tanzte ich im Sommer, in der Johannisnacht, ein paarmal mit ihm herum, das zähle ich nicht. Ich habe ihn nicht einmal angesehen.«

»Dachte ich mir fast!« sagte Kjersti. »Dachte ich mir fast, ja. Aber ich mische mich nicht drein, es ist lustig, wenn die anderen so danebenhauen. Ich dachte, es könnte möglich sein, trotz allem. Denn es ist jetzt schon so gut wie ausgemacht, wie eine Regel, daß alles, was gut ist, nach Haaberg kommen muß. Ich sage jetzt nichts mehr. Ich – – komm ja doch nicht dorthin. Und ein schöner Bursche ist er, weißt du, und ein braver Kerl obendrein, soviel ich weiß.«

Andrea stieß die Luft aus wie ein junges Pferd im Geschirr, so schien es Kjersti:

»Ich will keinen schönen Burschen haben!«

Darauf antwortete Kjersti nichts, und Andrea fuhr fort: Sie hatte nur ein einziges Mal mit ihm gesprochen, und das war jetzt im Herbst an jenem Abend. Es war nur so schön, ihn reden zu hören, denn das tat er wirklich. Über viele Dinge. »Wir blieben so lange sitzen. Wir saßen dort am

Zaun.

Sie ging weiter und schwieg eine Weile. – »Es ist für mich so seltsam, so etwas Unerlaubtes zu tun.« – »Etwas Unerlaubtes?« – »Ja. So schien es mir. So scheint es mir immer. Ich darf gleichsam nie so fortgehen wie andere junge Leute, seit Laura tot ist. Wir haben ja die Musik daheim und –«

»– und den Ola«, sagte Kjersti. – »Ja, warum nicht? Man kann es doch auch wohl nicht ganz allein aushalten. Aber weiß er das, glaubst du? Das, was man sich erzählt?« – »Sicher weiß er es. Er weiß immer alles.«

Als sie unten bei der Kirche angelangt waren, sagte Andrea, sie wolle den kürzeren Weg über den Friedhof gehen und dabei sich nach den Gräbern der Mutter und der Schwester umsehen.

»Dann begegnest du dem Küster«, neckte Kjersti. – »Nein, nein, er ist nicht da. Ihn treffe ich übrigens fast jeden Abend. Vielleicht sitzt er jetzt daheim. Wir wollten ein paar Noten anschauen. ›Manchmal spielen wir Klavier, und manchmal spielen wir Karten‹, wie er sagt.«

»Ja, ja, und Dank für die Begleitung«, sagte Kjersti. »Und jetzt war ich wahrhaftig genau so ein Klatschweib wie alle anderen, es geht doch immer so mit uns, wie es gehen muß. Hüte dich vor der Gemeinde, Andrea, sie verschlingt dich!« Kjersti lachte.

Andrea lag das Lachen noch lange im Ohr. Es klang zugleich böse und gut. Jetzt war sie doch Gott sei Dank allein.

Sie blieb eine Weile am Zaun stehen, und dann ging sie im Halbdunkel auf den Kirchhof, sie zwang sich dazu, aber sie beeilte sich damit. Als sie auf dem Weg östlich von Haaberg ist, holt sie Arthur ein. – »Du bist es nur!« sagt sie.– »Ja, ganz richtig.« – »Und du rennst umher und predigst den Leuten, ist dir das nicht bald zu langweilig?«

Arthur wurde nie böse auf sie – er kam nur ins Reden und dann redete er sie lahm mit alledem, was er vor sich sah, mit Acker- und Gartenbau und sogar mit Politik. – »Mir langweilig?« sagte er. »Das klingt ja fast, als hörte man den Küster selber.« Andrea biß sich auf die Lippe. Sie hielt in allen Dingen zu Arthur und hätte ihm gern geholfen, wäre es ihr möglich gewesen – er war für sie im Grunde der einzige Mann, der so war, wie er sein sollte. Aber heute abend hörte sie nicht auf ihn. Dieser ganze Eifer machte ihr Kummer, sie fand, die Hälfte wäre schon genug gewesen, und was nützte es hier der Gemeinde? Immer und immer wieder trieb sie ihn an, sie mußten jetzt sehen, rasch heimzukommen. – »Was eilt denn so sehr?« – »Nein, nichts.« Aber gleich darauf war sie ihm wieder voraus; sie kämen nicht vom Fleck!

»Wenn nur dieser Hochzeitsrummel schon überstanden wäre«, seufzte er.

Pfui. Man sollte nicht so von seiner eigenen Hochzeit sprechen. Das wäre doch keine Kleinigkeit.

»Nein, nein, aber es ist doch alles nur Zeitverschwendung und Unsinn. Wenn sich zwei einig sind, dann mag das doch genug sein.«

Sie mußte lachen, so arg dies auch war:

»Ich kann dir verzeihen, daß du von mir fortgehst, Arthur, ich kann dir meinethalben auch die Schöngans verzeihen, aber –«

»Ach ja, die Ärmste, die bekommt schon noch ihr Teil zu tragen, warte nur.«

Arthur ging in den Stall, wie er es immer tat, seit er das junge Pferd daheim hatte. Andrea eilte ins Haus.

Ola trat zurück und setzte sich, als sie kam.

»Bist du doch hier? Ich glaubte es schon fast. Guten Abend, Vater. Jetzt habt ihr euch wohl ›einen Milden‹ geleistet, nicht wahr?«

»Ja, hätten wir doch, du! Trocken haben wir dagesessen, die ganze Zeit, und haben einander die Klauen geschärft. Der Küster ist heute abend streitlustig.«

Ob er denn nichts nehmen wolle? fragte sie Ola. – Nein, danke, er sei gerade im Begriff, zu gehen. – »Gehen?« Sie sah ihn rasch an, es kam so tief aus den großen dunklen Augen; ihm war, als zittere ihr Gesicht. – »Du kamst gestern abend nicht?« – »Nein, es trieb mich nach Osten.« – »Wollen wir denn nicht lieber Karten spielen?«

»Nein, nicht heute abend. Nicht heute abend, nein. Ich bin müde wie ein alter Mann.«

Sie sah ihn noch ein paarmal an. Dann setzte sie sich ans Klavier, saß da und ließ die Finger leise über die Tasten gleiten. Dann saß sie ganz still da.

Jetzt war Ola wieder an der Türe. Der Tierarzt sah von seiner Zeitung auf, und sie bohrten gleichsam zum letztenmal die Blicke ineinander.

»Ja, ja, so geh nur, fahr zur Hölle«, sagte der Tierarzt.

»Dort wird's wohl enden, ja.«

Andrea drehte sich herum und ließ ihre Blicke hastig über Ola gleiten. Dann sah sie zum Vater hinüber. Sie öffnete den Mund und wollte etwas sagen, ließ es dann aber sein.

Als er gegangen war, blieb es still in der Stube – er stand gleichsam noch immer an der Türe. Nur Arthur redete davon, wie zäh die Leute hier in der Gemeinde seien, sie säßen wie der Stein im Lehm. Der Tierarzt sah in seine Zeitung und pfiff kalt vor sich hin. – Nicht lange darauf wurde er zu einem kranken Pferd über den Fjord hinübergeholt.

Sie saßen allein da und schwiegen lange Zeit. Arthur hatte sich ein Buch vorgenommen und Andrea ihre Näharbeit. Der Wind ging in der Dunkelheit draußen wie ein Wasserfall. – »Worüber lachst du?« sagte Arthur plötzlich. – »Über nichts. Aber ich muß lachen. Über die Leute. Denn sie sind alle miteinander so komisch!« Sie lachte jetzt laut, und es klang ein kleiner fremder Ton mit. Dann hörte sie plötzlich auf.

Arthur sah sie an und las dann wieder. – »Ich finde, der Ola war so merkwürdig, nicht wahr?« sagte er nach einer Weile. – »Der? Das ist er doch immer. Kann jemand aus dem klug werden?«

Immer und immer wieder sah er sie an. Sie war so verändert heute abend, sie saß doch wohl nicht da und starrte die fünfte Wand an?

»Du kommst mir heute so blaß vor«, sagte er schließlich.

»Ich? Dummheit! Aber ich bin wütend auf ihn, das ist wahr!« Sie warf ihre Arbeit fort und machte mit dem einen Fuß eine Bewegung, als wolle sie nach ihm stoßen. »Ich hasse ihn, jawohl, das tue ich – er glaubt alles – alles mögliche von mir, er fragt mich nicht einmal!« Die Tränen standen ihr in den Augen.

»Dir fehlt eine Arbeit, Spaten und Schaufel, oder ein großer Stall. Du solltest den Ola nehmen, kleines Huhn.«

»Den? Wenn er mich doch nicht haben will! Und ich ihn auch nicht! Und im übrigen will ich für euch nicht mehr das kleine Huhn sein, warum sollt ihr immer auf mich herunterschauen und mir zeigen, wo ich hingehen soll, dahin, dorthin! Ich ertrage das nicht mehr! Und er, der glaubt – –«

Laut weinend lief sie in ihre Kammer hinauf.

3

Um diese Zeit kam Peder Haaberg vom Ufer herauf. Der Wind hatte jetzt, nachdem die Sonne untergegangen war, ein wenig nachgelassen, blies aber immer noch frisch und lustig, rüttelte die Garbenhaufen und fegte den Hang, daß es eine Freude war. Jetzt hatten sie die Netze verstaut und ihr Hab und Gut eingeschifft, es gab nur noch ein paar Kleinigkeiten, die verladen werden sollten, dann waren sie fahrbereit. Peder ging, als wittere er dem Wind entgegen. Das gab ja eine herrliche Brise. Und hier lag der Hof und schlief mit den Äckern und Häusern, und so lag er schon seit Menschenaltern da und ließ sich's wohl sein, und die Menschen gingen aus und ein. Die Gegend lag da und vermooste. »Hier sollst du leben, und hier sollst du sterben, über diese Sache sind sie sich einig«, murmelte er. »Und das nennen sie Zukunft.«

Er traf mit dem Vater zusammen, der soeben um die Hausecke kam. Sie blieben alle beide stehen.

»Ich werde doch das Netz übernehmen, glaube ich«, Peder wandte sich ein wenig ab und spuckte aus.

Es war fast, als schlüge er nach dem Vater, so scharf kam es heraus, und so hart war seine Stimme.

»Ja ja, ja ja«, sagte Kristen.

»Und der Kal muß sich damit abfinden, Unterbas zu sein wie im vorigen Jahr.«

Wenn Peder dies sagte, dann war es so, und Kristen stand nur da und war zufrieden. Hinter Peder hatte bisher nicht viel gesteckt, obwohl er eigenwillig war für zwei, aber vielleicht trat hier nun eine Änderung ein? Und auf dem Meer war er ja ein ganzer Kerl, wenn er nur wollte, daheim taugte er gar nichts.

Als Peder in der Stube gewesen war und gegessen hatte, ging er in den Dachraum. Aber er schlüpfte nur in eine bessere Jacke, und dann trieb es ihn wieder hinaus. Jeder konnte ihn hören, wer nur wollte. Er ging an den Bach und wusch sich die Hände, fuhr auch über das Gesicht, denn es war mit Salz und Quallenfäden bedeckt, trocknete sich mit dem Taschentuch ab und machte sich dann auf den Weg.

Der Fischfang, ja. Jetzt zog der Peder los – »ich bin doch nicht so engbrüstig, wie ich aussehe!« meinte er verächtlich. Ja gewiß, er fühlte es wohl, daß jedes Ding heute abend auf ihn aufpaßte, wohin er jetzt wohl gehe? Kommt mit und schaut, es geht den Weg, den keiner mir zutraut, warum soll ich den nicht auch einmal versuchen?

Der Himmel lag wie ein tiefer See über ihm, und tief aus seinem Grunde flimmerten kleine Sternenaugen auf. Nicht eine Seele war heute nacht draußen, Peder konnte sich nicht erinnern, je so allein gegangen zu sein; aber gerade so sollte es sein, es war keine alltägliche Nacht und kein gewöhnlicher Weg – diesmal konnte man nicht einen Bogen schlagen und wieder umkehren, wenn man wollte.

Peder erging es oft so, daß er inwendig fror, sowohl zu Wasser wie zu Lande, heute abend aber fühlte er sich warm und gut, der Wind war nur wie ein Flüstern um ihn, das zur Eile antrieb. Hier war die Stelle, wo er mit Andrea an jenem Abend gewesen, und jetzt wollte er zu ihr in die Dachkammer hinauf. Er kam unerwartet, dies konnte gewiß einen Stein zum Umwenden bringen, und warum sollte der sich nicht umwenden?

Der Weg führte durch moorige Täler und niedrigen Birkenwald, vorüber an einigen kleinen Höfen und über einen kleinen Hügel. Dann hatte er die Wiese vor sich, und nun durch die Türe herein und die Treppe hinauf. Jetzt erst fiel es ihm ein, daß die Türe hätte verschlossen sein können, er hatte gehört, daß dies hier so zu sein pflegte. »Siehst du wohl, Peder!« Er lächelte im Dunkeln vor sich hin. – Hierhin, sagte es in ihm, denn da drüben liegt der Arthur, das kannst du doch hören. Er öffnete leise die Türe – oh, ich habe schon schwierigere Türen aufgemacht, Kind – so.

Da hörte er sie im Bett, sie drehte sich um und hielt den Atem an, und, du meine Güte, wie fein es hier roch, der gleiche seltsame Duft wie in ihren Kleidern an dem Abend damals. Jetzt hatte sie richtig Angst, das hörte er, es kamen nicht jede Nacht Gespenster hierher. So, jetzt saß er auf dem Bettrand und hielt ihre Hand fest – nie hatte er eine solche Angst bei einem Menschen verspürt!

»Schläfst du auch nicht?« sagte er.

Sie konnte nicht gleich die Sprache finden: Aber um alles in der Welt – war denn er es? – Ja, er war es wohl. Sollte es vielleicht ein anderer sein? – Aber war er denn verrückt? Hierherzukommen? Mitten in der Nacht? – Jaha. Weniger verrückt war er nicht, o nein, heute abend. »Heute abend oder niemals!« sagte er.

Damit aber kam in ihm etwas zum Stillstand, die Worte wollten nicht heraus; haufenweis lagen sie in ihm bereit und aufgestapelt, und jetzt war er nur wieder der Peder und saß fest.

»Aber wenn der Vater daheim wäre – und überdies mitten in der Nacht, was soll das heißen?«

Das half. Nicht etwa, daß er etwas sagte, aber jetzt beherrschte er die Lage wieder. Er hörte ihre Uhr auf der Kommode. Er glaubte auch ihr Herz zu hören. Und immer noch hielt er ihre Hand – die entzog sie ihm jetzt übrigens.

»He!« sagte er. »Ich weiß nicht, wie es kommt, aber nun sitze ich hier auf deinem Bett, ist das nicht wie ein kleines Märchen? Wie ein großes vielmehr?«

Andrea entsetzte sich so, daß sie noch ganz starr war, gleichsam keine Sprache mehr hatte; aber es war ein Märchen. Sie konnte sich nicht mehr zurechtfinden. So gingen sie doch zu den anderen Mädchen, sie hatte davon gehört; aber daß jemand sich hierher wagen würde, hätte sie sich nicht träumen lassen.

Hatte sie sich denn niemals erwartet, daß er sie einmal besuchen würde? fragte er.

Nein! Da hätte sie die Türe mit sieben Schlössern versperrt! – Sie stieß die Worte gleichsam schaudernd heraus.

Jawohl, aber dann wäre er eingebrochen! Aber warum war denn die Haustüre nicht versperrt?

War sie das nicht? Dann hatte Arthur das vergessen, er war als letzter schlafen gegangen.

»Ja, auch der Tod hat seinen Grund. Es ist doch ein gutes Zeichen. Und jetzt hast du mich hier, Andrea, und jetzt sollen zehn Kerzen brennen!« Dabei rieb er ein Streichholz an und steckte das Licht auf dem Nachttisch an; ja wirklich, sie hatte sogar einen Tisch und ein Licht darauf beim Bett. Sie legte den Arm über die Augen, er aber nahm ihn ihr weg. – »Nein, wahrhaftig, hast du denn geweint? He?«

Sie warf sich herum und drehte das Gesicht gegen die Wand, denn er hatte richtig gesehen, und jetzt starb sie vor Scham, wie sie so dalag.

Lange Zeit saß er ganz still. Dann löschte er das Licht aus. Dann rührte er sie an und drehte sie wieder zurück, gleichsam als wollte er sie in der Dunkelheit sehen. Jetzt lag seine Hand auf ihrem Nacken, und so saß er da und hielt sie lange Zeit, unendlich lange Zeit. Sie fürchtete sich gewiß immer mehr und mehr, denn ein so unruhiges Herz hatte er noch an keinem Menschen gespürt, sie konnte kaum richtig atmen.

»Ich werde dir nichts tun«, tröstete er. »Ich werde dich nicht einmal anfassen: du bist ja kein Bauernmädchen, das mußt du bedenken.«

»Kannst du nicht gehen!« Sie sagte dies ein paarmal.

»Nein. Denn das eben kann ich nicht. Heute abend oder niemals. Und niemals, das ist nun einmal zuwenig.« Jetzt bebte sie wie Laub in seinem Arm. Er beugte sich auf sie herab, er zitterte und war ganz seltsam, auch er: »Dich oder keine, Andrea!«

Sie schwieg, und er sagte es noch einmal.

»Ja aber– – ja aber – – und so schnell, Peder – – kannst du nicht – –«

Sie weinte jetzt, und er ließ sie los.

»Wenn nicht jetzt, dann niemals!« Seine Stimme war brennend trocken, und in seinem Kopf sauste es wie von Flügelschlägen und Wogenklatschen.

»Du sagst das so merkwürdig, Peder?«

»Wie ich es eben sagen kann. Denn jetzt gehe ich auf die Nordlandsfahrt, und es steht nur bei dir, ob ich wieder heimkommen werde.«

»Hast du mich denn schon lange lieb?«

»Nein, nein! Doch, übrigens – – aber das überspringen wir. Du sollst jetzt antworten. Ja oder nein!«

Sie setzte sich im Bett auf, und er schwieg und wartete. Geduldig und schwer, er war wie die Nacht und die Dunkelheit, so schien es ihr; ein seltsamer Mensch, und hier waren sie zu weich geworden, wer es auch sein mochte. Und keiner wußte etwas von ihm, und es war unmöglich, ihn zu fragen, wer er war.

»Keinen kenne ich so wenig wie dich« – wie ein leiser Atemhauch kamen die Worte von ihr.

»Bisher – war ich nur ein – ein – ein Nichts. Aber von heute an – du wirst sehen, Andrea! Du wirst sehen.«

Jetzt wie an jenem Abend durchrieselte sie die Freude wie ein kalter Bach, wenn sie ihn reden hörte – denn für wen hatte er sich je die Mühe gegeben, zu reden?

»Aber, versteht sich, ich will meinem Onkel nicht im Wege sein.«

»Ihm?« Andrea schluckte mühsam hinunter. »Ihm!«

»Ja, was sagst du denn? Ist es er, der – –?«

»Um Gottes willen, Peder!« Sie ergriff seine Hand. »Er, er hat ja seinen Gesang und seine Bücher – ich will ihn nicht mehr sehen

Sie hielt seine Hand fest umschlossen. Eine gute Weile war es still.

»Ja, ja, Andrea, dann bist du also von nun an mein Mädchen? Dann muß ich jetzt wohl gehen? Hm?«

Sie tastete umher und zündete das Licht an. Ihre Hände zitterten, so daß sie es kaum zuwege brachte. Sie kam ihm ganz nahe, während sie dies tat, und da wurde er wieder mutig, und er umfaßte sie. – Jetzt ist es aus mit mir, durchfuhr es sie, und hätte sie eine Stimme gehabt zum Schreien, so hätte sie geschrien. Aber er ließ sie sofort los, sobald er fühlte, wie erschrocken sie war.

»Armes kleines Ding«, murmelte er. »Nein, ich will ordentlich sein; ich will anfangen, von jetzt an ein Mensch zu sein.«

Nach und nach beruhigte sie sich wieder. Sie lag da und spielte mit seiner Hand. Es war eine so große und gute Faust, so hart und derb, ganz seltsam anzufassen, und so starke Ballen auf der Handfläche, es war eine Freude, sie abzutasten. Ihre Hand war so weiß und fein neben der seinen.

Er ballte die Faust und zeigte sie ihr, tat so, als wolle er zuschlagen, holte zu einem gewaltigen Hieb aus:

»Jetzt können sie kommen. Jetzt können sie kommen! Und übermorgen früh segeln wir nach Norden!«

Kurz darauf war er wieder unterwegs. Er war ohne einen Kuß gegangen. Das konnte später kommen, fand er, und für sie wurde er dadurch noch größer und gefährlicher; sie hatte von den alten Juwikingern gehört. – Sie erinnerte sich, daß sie Ola einmal geküßt hatte, es war ein ganz bleicher Traum.

Peder hörte nur ein schwaches Sausen des Sturmes, der lag gewiß oben am Hang und schlief jetzt. Alle Sterne waren am Himmel und schienen. Sie blinzelten ihm so listig über den Bergrand zu. Ja, ja, sie hatten so unrecht nicht.

4

Aasel kam und fragte am Morgen darauf, ob es wahr sei, daß er mit den andern nach Norden fahren wolle. – Das sei es. – »Ja, ja.« Sie blieb stehen und sah zu Boden. – »Ich kann dir's ansehen, du denkst darüber nach, wo ich heute nacht war.« Er hatte sich rasch ihr zugewandt. – »Ja.« »Nicht wahr, das wußtest du nicht. Im übrigen habe ich mich aufgemacht und habe mich verlobt.« – »Redest du Unsinn?« – »Frag nach. Du siehst mich so an. Schnell, findest du? Ich gehöre nicht zu den Langsamen. Aber ich kann gern auch wieder nein sagen, wenn du willst.« – »Bist du denn verrückt – ich? Ich, die – –«

Er ließ sie stehen. Er sollte nach Juwika und dort die Netze einschiffen und morgen früh dann mit den Fahrzeugen und Booten hierherkommen und die Sachen in Vaagen holen.

Aasel war auf dem Weg zu Kristen, dann aber mochte sie ihm doch nichts davon sagen. Sie wußte nicht, ob sie sich freute oder ängstigte; sie tat wohl das eine und das andere. Nur daß Peder so freiwillig zu ihr kam und es ihr erzählte, beengte ihr die Brust, und daß es so rasch gegangen war. Und der Ola, was wurde nun aus ihm? Denn sie hatte deutlich gemerkt, daß man Andrea und ihn beinahe verlobt nennen konnte. Sie hatte gewünscht, daß er sie bekommen möchte, das sollte Gott wissen, und sie wünschte es noch. Aber sie war so ungewiß; sie war jetzt in allem so ungewiß, daß es ihr ans Herz griff. Ola hatte wohl Wind bekommen von dieser Sache mit Peder und Andrea, vermutlich, und hielt sich abseits. Sie, Aasel, hätte ihm sagen müssen, daß es nur Dummheiten und Unsinn seien, denn das war es bisher gewesen. Aber da stand sie und hatte es nicht gesagt.

Sie war bei Peder, noch ehe der sich auf den Weg gemacht hatte. – » Mußt du denn wirklich nach Juwika? Das brauchst du doch nicht?« Sie sah ihn an, als wolle sie ihn ganz durchschauen. Er wurde rot und zugleich böse. Da wußte sie mehr, als sie wollte. – »Die Armen, alle beide!« sagte sie vor sich hin.

Elen erschrak beinahe über die Mutter im Laufe des Tages; denn sie ging umher und redete mit sich selber. – »Er muß mir verzeihen!« sagte sie mehrere Male. – »Wir müssen glauben, daß er es ist, der alles lenkt. Wir müssen glauben, daß diese beiden füreinander bestimmt sind.« Ihr Blick war so weit weg. Man mußte sie zwei-, auch dreimal anreden, ehe man Antwort erhielt.

– – – Peder kam nach Juwika und verlud die Netze.

Kal Jensa war der Sohn des Hofes und gleichaltrig mit Peder. Sie waren schon früher einmal miteinander beim Fischfang draußen gewesen. Er war als halberwachsener Bursche mit dem Fahrzeug gefahren, aber Netzmeister war sein ältester Bruder gewesen, der, dem der Hof gehörte. Sie hatten nichts dagegen, daß jetzt der Peder das Amt des Netzmeisters übernahm, denn die Leute hielten ihn für einen Glücksvogel beim Heringsfang, und es ging das Gerücht, daß damals er und nicht der Vater die Heringe gefunden und den Fang geleitet habe, wenn man ehrlich sein wolle. Es war schon spät am Abend, als sie fertig waren, und Peder wollte die Nacht über dort bleiben.

Die Leute in Juwika waren auch weiterhin Menschen von zweierlei Schlag. Einige von ihnen waren groß und blond wie die Haabergleute, und andere waren kurz und breit gewachsen und hatten dunkles Haar. Zu denen gehörte Kal. Kjerstina war das jüngste Kind auf dem Hof und die einzige Tochter, die jetzt daheim lebte; sie gehörte zu den Großen und Blonden. Sie war über die Maßen schön, fanden die Leute, ihre Haut war so rot und weiß; sie hatte Lachgrübchen in den Wangen und lachte auch wirklich den ganzen Tag und sang fast immer bei der Arbeit.

Sie sang auch jetzt; wenn sie über den Hof ging, konnte man sie bis aufs Wasser hinaus hören; als aber Peder auf den Hof kam, verstummte sie. Die anderen dachten sich dabei das Ihre. Der Peder hatte im Sommer lange Zeit mit seinem Netz hier gelegen, merkwürdig lange. Und eines Tages hatte er sie gerettet, mußte man wohl sagen. Sie war eines schönen Tages, an dem die Sonne schien, nördlich in Sandvika gewesen und hatte dort gebadet. Dort glaubte sie vor den Fischern sicher zu sein, denn es war in der Mittagszeit, und da schliefen nur sie und die Fliegen nicht. Aber die Burschen waren ihr trotzdem nachgekommen und hatten sie eingeringt. Schwimmen konnte sie nicht, aber jetzt mußte sie, und dabei geriet sie auf einen Stein hinter einer Felswand. Dort saß sie und wußte weder aus noch ein, und die anderen wollten ihr gerade die Kleider forttragen, als Peder dazukam. Er jagte die Burschen in den Wald, nur mit seinem Gesicht, denn dies war rot und wild wie das Gesicht eines Mörders; und dann trat er an den Rand der Felswand hinaus und suchte nach ihr. Da ließ sie sich ins Wasser gleiten, wollte sich am liebsten ertränken; er sah fast nur noch ihre Haare, die auf dem Wasser schwammen. – Er hatte ihr zugerufen, daß nur er es sei, und jetzt gehe er, und die anderen seien in den Wald davongelaufen. Von diesem Tag an hatten sie zusammengehört; und Woche auf Woche wartete Peder bei Juwika auf die Heringe und ging viel häufiger zum Hof, als gar mancher glaubte. Später im Sommer war sogar ein Brief von ihm an sie gekommen, soviel ahnten sie, und Gott mochte wissen, was darin stand; denn das Mädchen lebte gleichsam nicht mehr auf Erden, nachdem sie ihn gelesen hatte.

Peder legte es darauf an, mit ihr so bald als möglich unter vier Augen zu sprechen. Und dies gelang ihm auch. Sie strahlte ihm wie der Sonnentag entgegen, war sicher nahe daran, ihm um den Hals zu fallen. – »Ich komme heute nacht zu dir in die Kammer« sagte er. Sie zog die Brauen hoch hinauf, tat, als sei sie wer weiß wie erstaunt, aber die Röte loderte ihr über das Gesicht. – »Denn ich habe etwas mit dir zu reden, Kjerstina.« – »Ja, und ich mit dir«, sagte sie. Dann wurden ihre Augen ein wenig größer, gleichsam als habe sie etwas Gefährliches bemerkt – genau so blickten sie ihn damals aus dem Wasser heraus an, durchfuhr es ihn. Sie sah ihn immer noch an; aber nach und nach kamen die Lachgrübchen wieder zum Vorschein, und die Augen wurden schmal und warm, und bisweilen zuckte es ganz leise um sie. – »Aber ich schlafe jetzt nicht mehr allein«, flüsterte sie. Da kam jemand heran, und sie lief davon, bevor er noch mehr sagen konnte.

Peder wagte sich nicht eher auf den Weg, als bis er sicher sein konnte, daß das ganze Haus schlief, und trotzdem tat er es mit pochendem Herzen und verhaltenem Atem. Denn das war eine ernsthafte Sache. Einen schwereren Gang hatte noch keiner getan. – Die Mägde und der Geißbub schnarchten jedes in seinem Winkel, er aber tastete sich ziemlich sicher vorwärts, denn er hörte, wo die lag, die nicht schlief. Im Sommer, da schlief sie in der Scheune wie andere junge Leute. Und das war ihr Atem. Er umfing einen so lebendig und süß – im Sommer war es eine glückliche Zeit gewesen!

Sie machte ihm Platz im Bett, soviel er merken konnte. Das hätte sie nicht tun sollen. So sicher sollte ein Mädchen ihrer Sache lieber nicht sein, nein. Still saß er auf dem Bettrand, wie ein schwarzer Schatten über ihr. Sie strich tastend über ihn hin, gleichsam fühlend, ob er es sei, und fuhr ihm mit der flachen Hand über die Stirn. Die war kalt und naß vom Schweiß! Sie richtete sich hastig auf.

»Komm mit hinaus!« flüsterte er.

»Hinaus?«

»Ja, ich muß mit dir reden.«

Sie mußte folgen, das hörte sie sofort, und sie warf sich die Kleider über und kam. Die Zähne klapperten ihr, es durchlief sie so kalt. Sie stahlen sich über die Treppe hinunter und gingen dann in die Scheune. Er setzte sich auf einen Heuschlitten, und sie stand still bei ihm und wartete.

In einer so schwarzen Nacht waren sie noch nicht draußen gewesen, keines von ihnen. In dieser Dunkelheit gingen sie um und geisterten, die alten Juwikinger; aber für ihn war das schlimmer als für sie, dachte Peder.

Er müsse mit ihr reden, begann er wieder. – Und sie mit ihm! – Sie griff sich an die Brust und atmete laut. – Sie hätte das schon lange tun sollen, fügte sie hinzu. Er vernahm von ihren Worten nichts weiter als den leeren Laut. Dann fühlte er, wie er die Zähne so zusammenbiß, daß es weh tat.

»Es bleibt nichts anderes übrig, Kjerstina: du mußt mir den Brief wiedergeben, den ich dir im Sommer schrieb.«

Ja gewiß, jetzt durchfuhr sie ein Ruck – alles andere hätte sie sich eher von ihm erwartet.

»Ja, denn es bleibt nichts anderes übrig. Es war nur Übermut von mir.«

»Das habe ich verstanden!« sagte sie, als eine Weile vergangen war. »Das habe ich verstanden.«

»Ja, nicht wahr, das hast du doch verstanden, Kjerstina – – «

»Nein, nein, nein, Peder, schweig!« Sie hatte seine Hand ergriffen und hielt sie fest. Es war beißend still.

»Kamst du denn nie auf den Gedanken, daß ich – – einmal einen anderen Weg gehen könnte?«

»Nein, nie.«

»Du glaubst, ich sei gebunden an dich – das sollte keiner vom Peder Haaberg glauben!« Er räusperte sich und reckte sich, es war gleichsam, als habe er wieder Wind in den Segeln. »Mich dürft ihr nicht mit den andern in den gleichen Stall stellen. Da kennt ihr mich schlecht – was waren denn die Alten für Leute? Und jetzt hab ich einen Fang gemacht. He? Wen, fragst du? Die Andrea, die Tochter vom Tierarzt selber. Es hat sich so gegeben. Es paßte mir so, das war es.«

Kjerstina sagte kein Wort, solange er auch wartete, und seine Hand hatte sie losgelassen. Jetzt suchte er die ihre, es war eine große, kräftige Hand, so richtig die Hand eines Bauernmädchens. Ja, ja, sie war durchaus nicht zu verwerfen. Für einen anderen.

»Du bist nicht böse auf mich, oder?«

»Nein, nein!«

Na, es hörte sich doch fast so an, als sei sie es; aber das sollte sie nicht sein. Und den Brief, den gab sie ihm wieder, nicht wahr? »Das tust du doch, Kjerstina? Wenn ich dich richtig kenne.«

»Ja, Gott bewahre, den Brief sollst du bekommen. Ich gehe hinein und hole ihn.«

Ein wenig verändert klang ihre Stimme zwar, aber doch nicht sehr. »Ich wußte doch, daß du es vernünftig aufnehmen würdest«, murmelte er.

Er stand mitten auf dem Hofplatz, während sie den Brief im Haus holte. – »Da!« sagte sie, und er nahm ihn ohne ein Wort in Empfang, strich nur ein Zündholz an und sah nach, ob es der richtige Brief sei.

»Du kannst dich drauf verlassen!« sagte sie.

»Schönen Dank, Kjerstina« – er schob den Brief in die Brusttasche. – »Denn daheim«, sagte er und sah dabei in die Luft hinaus, »daheim geht die Mutter umher und sieht nichts als lauter schwarze Gefahren, betet zum Herrgott, und der wird wohl wissen, wovor sie sich fürchtet. Sie kennt mich nicht, nein, mich kennt niemand, und mir kann es auch gleich sein. Ja, nun gute Nacht also, Kjerstina!«

Er griff nach ihr und legte den Arm um sie. Er hatte zuviel geredet, um gleich fortgehen zu können, nun kam diese graue Gleichgültigkeit wieder über ihn, wozu stand man so da und redete, und warum plagte man sich so? Er kam ganz nahe an ihr Gesicht heran, flüsterte still und müde: »Du, Kjerstina! Aber einen Kuß solltest du mir doch geben!«

Sie ließ ihn sich nehmen, sie legte auch noch flüchtig die Hand auf seine Achsel.

Dann schlichen sie sich wieder hinein, Stufe für Stufe, über die Treppe hinauf, jedes in seine Kammer.

Am Morgen darauf sah Kal den Peder an und grinste ein wenig: »So ganz habe ich doch nicht wie ein Stock geschlafen. Und die Treppe hätte geschmiert sein müssen, sie knarrt so.« Peder gab keine Antwort, das war nicht seine Art.

Und dann gingen sie unter Segel und fuhren über den Fjord. Der Landwind war mit neuem Mut erwacht, er blies, als wollte er alles Gewesene ausstreichen, zu Wasser wie zu Lande.

5

Um diese Zeit erwachte Ola. Er konnte sich nicht gleich darauf besinnen, was es eigentlich gäbe. Dann murmelte er: »Heute fahren die Leute nach Nordland, sagten sie nicht gestern so? Sie haben den Wind dazu, soviel ich hören kann. Aber nur deshalb kann dir doch nicht so leicht und gut zumute sein? Und das ist dir doch, wenn du genau nachdenkst. Gleichsam als wüßtest du von nichts. Gleichsam als seist du gerade zur Welt gekommen.«

Das Rauschen des Laubes draußen stieg und fiel, es hörte sich wie fließendes Wasser an, und die Windwolken zogen hoch oben im Himmelsblau dahin und spielten, sie waren froh, daß sie vorwärts kamen. Ola stand am Fenster und genoß den Morgen. Genau so ging es dem Moor, das konnte er sehen, es machte sich so hellbraun und moosgrau in der Sonne, dehnte und streckte sich so weit nach Süden; und kleine Kieferngehölze standen wie Inseln da und dort darin, schwankten im Wind und segelten, das war nun ihre Reise.

Ola hatte eine alte Frau bei sich, die für ihn sorgte; sie hieß Mattea. Sie war ein Überbleibsel aus seiner mütterlichen Familie. Ein wenig widerspenstig konnte sie sein, aber sie sorgte für ihn und das Haus wie eine Mutter. Jetzt stand sie in der Türe und murmelte etwas. Wollte er sich denn heute nicht anziehen? Wonach starrte er jetzt wieder aus? – »Nach meinem Moor, Muhme. Habt Ihr es gesehen? O nein. Habt Ihr es gesehen, wenn es manchmal bedrückt ist? Dann bin ich wie ein Herr gegen das Moor. Meistens ist es nur braun und gut und nimmt den Tag, wie er ist – habt Ihr es gesehen, wenn es uns den Rücken zuwendet? Die Leute können dann tun, was sie wollen, ihm ist es gleich. Habt Ihr gesehen, wenn es die Farbe wechselt?« – »Moor ist wohl Moor«, sagte Mattea, »aber was du bist, das mag Gott wissen. Das Moor ist häßlich.« – »Ja, der Herrgott war ein wenig geizig bei ihm. Aber es hilft sich so unglaublich gut, und im übrigen macht es sich nichts draus! Es war vor langer Zeit einmal schön, so wie Ihr und ich, Muhme.«

Mattea war nicht mehr da, sie hatte sich in die Küche gerettet. – »Es wäre doch auch aus ihm noch ein Kerl geworden, hätte er sich wie ein anderer Christenmensch verheiratet«, seufzte sie.

»Ich mach es so wie das Moor, ich«, sagte er, »ich drehe der Welt den Rücken und lasse sie tun und treiben, was ihr gefällt.«

Zornig zuckte er mit der Schulter, denn jetzt fehlte nicht mehr viel, und er redete wieder mit sich selber, und davor fürchtete er sich. An dem Tag, an dem er damit anfing, war er fertig. Er stellte Mattea die gleiche Frage, als er durch die Küche hinausging. – »Glaubst du nicht, daß mich das Alter schon beim Schopf hat?« – »Das hat es schon seit langem, Gott weiß es!« – »Na, nein, nein, doch nicht seit langem? Aber es ist eine gefährliche Sache, mit sich selber zu reden: da muß man selber fragen und auch antworten; und darauf bin ich nicht gerade versessen.« – »Bitte den Herrgott, er möge dich den Verstand, den du noch hast, behalten lassen!« seufzte sie. »Aber so geht es eben«, fügte sie hinzu, »wenn einer sich mit den Büchern abgibt. Ob es nun die Bibel ist oder ob es andere Bücher sind, he! Was zuviel ist, ist zuviel!«

Er war seiner Wege gegangen, hatte sogar sein Frühstück vergessen, bis ihm die alte Frau nachlief. »Mag keines«, antwortete er, und er hörte, wie sie die Türe zornig zuschlug: er war doch immer der gleiche! Bald würde er hier allein sein, das hatte er sich selber zuzuschreiben.

Er wollte bei der Abfahrt der anderen dabei sein, das war es, was ihn forttrieb. Leute, die die Segel hißten und ihrer Wege fuhren, das sah er am allerliebsten. Er wollte unten auf dem Hügel stehen und zuhören, wie Peder kommandierte, wollte sich den Häuptling des Stammes ansehen. Peder verhielt sich gegen Ola wie ein Feind, eiskalt sah er über seinen Kopf hinweg und wandte sich ab. Ola jedoch hatte ihn manchmal gut leiden mögen. Es war wie ein Traum, den er einmal gehabt hatte, von etwas Großem und Reißendem, Gott mochte wissen, was es war. »Er muß es werden!« pflegte er zu sagen – es war etwas, was man selber gern geworden wäre. Es brannte so gut durch den ganzen Körper hindurch, wenn er daran dachte.

Als Ola nach Haaberg kam, war der größte Teil der Leute bereits unten am Wasser, und er folgte nach.

Er wurde ein wenig befangen, denn unter der Menge stand auch Andrea. – Das war es wohl, was ich eigentlich sehen wollte, dachte er, dann ist die Sache also abgemacht. Alles in Ordnung: sie waren verlobt. Er sah es Aasel an, sie stand bei ihr und war wie eine Mutter zu ihr; hätte sie Flügel gehabt, so hätte sie diese über ihr und Peder ausgebreitet. Das war so ganz die Aasel: eine Mutter, die stets unter jedem Flügel ein Kind hatte; darum waren ihre Augen so wachsam, so ängstlich und so mutig zu gleicher Zeit.

Ola ging hin und redete mit ihnen und mit allen anderen, er war heute so redselig.

Jetzt machten sich die Haabergleute auf die Fahrt. – »Fiert die Fock!« hörten sie Peder rufen, laut und hart, so daß es in der Luft knallte, und Ola sah, wie die Frauen unter dem Klang zusammenfuhren. – »So muß man auf der See schreien«, sagte Ola. Es war wunderbar grün im Kielwasser hinter den Booten, man fühlte es so durch und durch, wie man hier auf dem Felsen stand und zurückblieb. – »Jetzt zogen alle Männer in den Krieg!« sagte Ola. – »Wie gut gelaunt du heute bist?« sagte Aasel. – »Es ist so schön und sicher, zurückzubleiben. Für den, der zu nichts anderem taugt.«

Sie gingen alle miteinander auf den Hügel hinauf, wollten sehen, wie die Segler in die offene See und in den Wellengang hinauskamen. Der Weg war nur eine Art Ziegenpfad aus alter Zeit, und sie mußten klettern, so gut sie eben konnten. Ola merkte wohl, daß Andrea sich nichts daraus machte ihm nahezukommen; aber doch sah sie ihn öfter verstohlen an. Es lag eine kleine Wolke über ihren Augen und etwas Ähnliches rings um den Mund – so sah sie aus, wenn sie froh war, schien es ihm, und so hatte er sie noch nie gesehen. So schön war sie, wenn sie sich einem zeigte, wie sie war.

Jetzt waren die Segler draußen im Wind. Man sah bald nur noch die Segel und einen Gischtstreifen bei jedem Boot – es ging wirklich dahin.

– – – Ola blieb den Tag über auf Haaberg. Andrea war sofort weggegangen, sie befand sich unterwegs, ehe er es gewahr wurde, und sie blickte nicht zurück. – »Da hätte ich jetzt ein Stück weit Gesellschaft haben können«, sagte er und sah Aasel an. – »Ja«, sagte die und wollte gehen. – »Ich hole sie wohl noch immer ein«, fügte er hinzu. »Aber ich habe daheim nichts zu tun, hast du nicht irgendeine Arbeit für mich, Aasel?« Sie sah ihn an und dann in die Luft hinaus: Nein, sie hatte nichts für ihn zu tun.

Er sah, wie er sie quälte, indem er hier war und in ihrer Nähe; aber gerade deshalb blieb er. Wenn er jetzt noch länger schwieg, dann brach ihr wohl der Schweiß aus.

Gegen Abend nahm er Abschied. Er müsse jetzt noch beim Tierarzt vorbeischauen, sagte er zu Aasel. Hm? – »Ja, ja«, sagte sie. Ihre Augen wanderten mehrere Male zu ihm und wieder weg. – »Du bist gut daran, Ola, brauchst nur für dich selber zu sorgen. Nein, übrigens, das ist doch schließlich auch zu wenig. Die Last ist gut, wenn sie auch noch so schwer ist.«

Beim Tierarzt saßen gerade alle in der Stube und tranken Kaffee, als er ankam. Und jetzt war er da, obgleich er gar nicht vorgehabt hatte, hineinzugehen, und er mußte sich zu ihnen an den Tisch setzen.

Der Tierarzt tat kaum, als sähe er ihn. Plötzlich aber lehnte er sich doch in der Bank zurück und sah ihn mit halbgeschlossenen Augen an:

»Du kommst wohl, um uns zu gratulieren? Ja, ja, sie war nicht faul gewesen«, er deutete mit dem Kopf nach Andrea. »Ich habe es bis jetzt noch nicht einmal ganz hinunterschlucken können. Jetzt kommt sie doch in deine Sippe hinein.«

Als Ola ihr Glück wünscht, sieht Andrea ihn groß und offen an und dankt.

Der Tierarzt sitzt kauend da und läßt seinen Blick auf Ola ruhen. Die Bosheit blinzelt aus seinen Augen.

»Du siehst aus wie eine Null ohne Strich, wie man hier sagt. Warst du zu spät daran, Ola?«

»Vater!« Andrea steht hastig vom Tisch auf und geht hinaus. Der Tierarzt zieht die Brauen hoch.

Ola blieb den Abend über da. Sie tranken einen »Milden« und später noch ein paar dazu. Ola saß da und betrachtete den Tierarzt. Er und Andrea hatten das gleiche Gesicht, und dennoch war sie ganz anders – aber genau so wie der Vater wandte sie sich einem zu und redete, bisweilen, so offen und taghell. Er hörte fast nichts von dem, was der andere sagte. Andrea kam ein paarmal herein, dann aber ließ sie sich nicht mehr sehen. – Ola saß da und ließ die Blicke im Zimmer herumschweifen. Dort mußte es gewesen sein, an jenem Abend im Halbdunkel; er stand dort beim Klavier, und dann erhob sie sich, dicht neben ihm, und dann umarmte sie ihn und küßte ihn – das war im vergangenen Jahr gewesen. Ola saß lange still und sah dorthin. Dann trinkt er sein Glas aus und steht auf. Er steht steif da und sieht den Tierarzt an.

»Ein einziges Mal«, sagte er. »Ein einziges Mal war das Leben hinter mir her; eine kurze Abendstunde lang – puh, nein, jetzt bin ich betrunken, jetzt muß ich gehen! Denn ich bin doch wohl betrunken?«

»Ja, unbedingt!« Der Tierarzt steht auf, er auch. »Es sieht nicht so aus, als bekämen wir heute etwas zum Abendessen!« sagte er.

An diesem Abend begleitete der Tierarzt ihn bis vor die Türe hinaus, und es war lange her, daß er sich diese Mühe gemacht hatte. Barhäuptig stand er im Wind und blickte in das Sternengewimmel hinauf. Sie waren so nahe, die Sterne, heute abend, man konnte sie fast flüstern hören.

»Sie haben den Wind mit sich, die Leute, die nach Norden segeln«, sagte Ola.

»Ja–a; sie haben den Wind. Und sie verdienen ihn auch. Wenn sie nur nicht allzuviel Wind bekommen.«

»Mehr als gut ist?«

»Mehr als gut ist, ja. Er sieht mir ein wenig schmächtig aus, der junge Bursche. Es steckt gewiß mehr Mut als Kraft in ihm. Aber das ist ja ihre Sache und nicht unsere. Nicht wahr?«

Als Ola auf die Wiesen kam, wo die Talhänge und der kleine Birkenwald den Wind abhielten, stieß er auf einen Menschen, der ihm mitten im Weg stand. Es war Andrea.

»Bist du hier?« – »Ja. Aber wo hast du denn die letzte Zeit gesteckt?« – »Ich? Heute war ich auf Haaberg. Bei Schwester Aasel. Und ich habe ihr heiß gemacht, nur dadurch, daß ich da war. Und warum sollte ich das nicht? Dieses schmale Gesicht mit den Juwikrosen darauf und all diese klaräugige Ehrlichkeit! Und dann dieser schmale gerade Rücken, hast du ihn dir einmal angesehen? Der sich die ganze Sippe aufladen will. Und ich bei ihr, ich, der abgeschält und zur Seite geworfen ist. – Ja, ja, davon verstehst du nichts.« – »Ich habe nie etwas davon verstanden, ich. Aber wo hast du in der letzten Zeit gesteckt? Und gratulieren willst du mir auch nicht?« – »Das habe ich doch sicher getan?«

Sie stand mitten vor ihm:

»Das ist alles, was du sagst?«

»Ja.«

»Aber eines sollst du mir sagen, Ola. Hast du das geglaubt, was man sich von mir erzählte? Von mir und –?«

»Das habe ich wohl nicht geglaubt. Im übrigen weiß ich nicht, was ich glaubte.«

Sie hatten jetzt wieder zu gehen angefangen.

»Und dann an dem Abend voriges Jahr, Ola. In der Stube daheim, war das denn gar nichts für dich?«

»Nein, nein, nein, Andrea! Laß uns davon schweigen – – laß uns vernünftig sein! Ein Verurteilter wie ich«, beeilte er sich hinzuzufügen – »weißt du nicht, daß ich frühzeitig blind werde? Und daß ich mein Leben lang geträumt habe, ich bekäme nur Wechselbälge als Kinder; das hab ich dir doch erzählt, Andrea!«

»Und so etwas sprichst du aus? Ja, dann.« Sie warf den Kopf nicht zurück, aber es durchfuhr sie eine neue Macht, sie war im Begriff, von ihm wegzugehen, in den Sturm hinein.

»Kannst du denn nicht begreifen, Andrea, daß es schlecht um mich steht? Daß du es gesehen hättest, wenn es zu spät gewesen wäre? Und das wollte ich dir ersparen.«

»Ja, danke! Ich höre es jetzt. Daß ich recht handelte. Das war es nur, was ich – ja, gute Nacht, also!«

So. Jetzt war es überstanden. Jetzt bist du ein freier Mann, Ola. Und soviel du auch gelogen hast, so hast du trotzdem die Wahrheit gesprochen. Ja, gewiß, so sagte er im Weitergehen, jetzt kannst du mit dir selber reden, soviel du willst; es kommt jetzt doch aufs gleiche heraus. Das hier ist Leben, und das soll scharf sein. »Und edelmütig, daß du nur so triefst«, äffte er nach und sang. »Das aber steht doch fest, du hast sie davor bewahrt, im Moor zu versinken. Ähnlich muß es sich wohl auch für Aasel fügen, wenn sie immer alles zum Besten wendet.«

Und der Wind blies für die, die ihn im Rücken hatten. Ola hatte ihn gegen sich, auf seinem Weg über das Land hin.


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