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Das Gerücht wandert

1

Als sie auf Segelsund zur Abfahrt bereit waren, hatte es einen Haken mit dem Kajütboot. Arnesen machte sich auf den Weg und lieh einen Zehnruderer mit Deckaufsatz. Der müsse taugen, meinte er. Die Männer murrten, in so einem Zigeunerlogis gingen sie nicht auf die Nordlandsfahrt, jetzt um diese Jahreszeit. Er fluchte vor sich hin, tröstete sich aber damit, daß man doch immer noch irgendein Fahrzeug zu leihen oder zu kaufen bekommen würde.

Gjartru biß sich auf die Lippe und dachte darüber nach. Mit so etwas gebe sie sich nicht ab, sagte sie, aber eines müsse sie doch sagen, und zwar, daß die Leute gehorchen sollten, jetzt wie früher, und wer denn die Fahrt ausrüstete, die Männer oder er? »Wir sind dazu da, um ihnen etwas Gutes zu tun, ich weiß es, aber da müssen wir sie wohl auch in der Hand haben?«

»Versteht sich«, sagte Arnesen. »Aber ein Fahrzeug zu besitzen, wäre doch auch ganz schön, nicht wahr?«

Gjartru sieht an ihm hinauf, da steht er gerade und mutig vor ihr, eine Hand oben in die Weste gesteckt, die andere schnippt mit den Fingern. Gjartru sieht ihm ins Gesicht, wie sie zu tun pflegte, bis die Augen dort in unbestimmtem Glück hängenbleiben – es gab kein Alter in diesen Augen.

»Du solltest ein Fahrzeug haben, Johan Martin. Du bist ein Schiffer und nichts Geringeres, nein. Und das sollst du auch noch werden mit der Zeit. Diesmal kannst du nun doch nicht ausfahren.«

Arnesen sah zu Boden. – »Du weißt, unter der ganzen Mannschaft ist nicht einer, der ein Fahrzeug nach Norden segeln kann.«

»Ja, aber bist du denn ganz verrückt – jetzt, mit der Hochzeit vor der Tür?«

Ja, er wußte nicht recht. Es käme darauf an, ob er nicht doch fortmüsse – »Rede jetzt keinen solchen Unsinn, mein Junge«, sagte sie sanft und machte sich wieder an ihre Arbeit. Sie hörte, dies war etwas, was er lange mit sich herumgetragen hatte.

Arnesen ging hinaus; aber er ließ sich ein wenig mehr Zeit in der Türe als sonst.

Im Lauf des Tages kam er rasch herein und erzählte, jetzt wisse er es: Er wollte nach Norden und Heringe kaufen. Denn der Kasten in Valvaere war mit seinen beiden Jachten fortgefahren, man erzählte sich, er habe ein Telegramm bekommen, und Kasten Landre war nicht einer, der ins Blaue hinein fortfuhr. Der und der Verdienst, das war wie der Vogel und der Hering, der witterte ihn, das mußte er wohl wissen – und die Björlandsjacht war zu verkaufen. Die Mannschaft mußte mit dem Boot fortfahren, das sie jetzt hatten, das hatte er ihr soeben gesagt, und sie mußte gehorchen. Jetzt sollte der Kasten in Valvaere einen Konkurrenten bekommen, es sah ganz so aus. »Ja, so ist es nun also, Gjartru!«

Gjartru lächelt, aber sie ist ein wenig ungeduldig. – Mochte er doch. Aber erst die Hochzeit, wie gesagt.

»Die Hochzeit? Meiner Treu, die kann warten, das haben wir uns geschworen, der Johan Martin und ich. Denn jetzt bin ich ein Schiffer, daß du's nur weißt!«

»Red doch keinen solchen Unsinn!«

»Unsinn?«

»Ja, so hab ich gesagt. Denn die Freude sollen sie auf Haaberg nicht erleben, daß die Hochzeit aufgeschoben wird.« Ehe Gjartru sich's versah, war Arnesen blaurot im Gesicht, trat ihr dicht unter die Augen und war nicht wiederzuerkennen; sie war so erstaunt, daß ihr der Mund offenstehen blieb.

»Was ist nun das wieder?« sagte sie endlich.

»Was das ist? Weib!«

»Nein, still doch, Johan Martin!«

»Nein, der Teufel hol mich, jetzt ist es Schluß mit dem Stillsein, daß du's nur weißt, laß dir's nicht einfallen, mich noch einmal zu ducken – hüte dich, sag ich! Ich bin der Herr in meinem Hause. Ja!«

Gjartru war sprachlos. Sie wollte ihren Ohren nicht trauen und auch nicht ihren Augen. Jetzt fing er wieder an.

»Das sage ich dir!« Er schlug wild mit der Hand aus, »ich mache nicht mehr den Hund und den Dummkopf für euch – zum Teufel noch einmal, was habe ich mit Haaberg und deiner Schwester zu schaffen!«

Mina war in die Tür getreten und stand mit halboffenem Mund und halberhobenen Armen auf der Schwelle. »Vater!« brachte sie endlich heraus. Er sah, wie weiß ihr Gesicht war, jetzt ging es gewiß los, aber wenn sie sich einbildeten – –!

Er stieß den Stuhl von sich, so daß er an die Wand schlug, und dann wußte er nichts mehr. Er taumelte hinaus, eine lange Kette von Flüchen im Kielwasser.

Gjartru hatte sich erholt und war schon wieder hinter im her. Ihr ganzes Gesicht leuchtete wütend rot, und die Zähne schlugen aufeinander. Mina hängte sich an die Mutter, sie solle nicht hinauslaufen und auf dem Hof einen Auftritt machen, sie werde schon mit ihm reden, sie. Gjartru gab nach und sank auf einen Stuhl. Jetzt befiel sie ein Weinen und Zittern, so daß Mina vollauf damit beschäftigt war, sie zu beruhigen. Sie versuchte die Mutter nach besten Kräften zu trösten. – »Du mußt dich nicht um ihn kümmern, Mutter, er gehört nicht zu denen, aus denen man sich etwas machen muß – pah, der? Was soll man da sagen, nichts als Zorn und Unvernunft.«

Gjartru mußte sich zu Bett legen. Als sie, einige Stunden später, wieder aufstand, wurde sie sich allmählich bewußt, was Mina gesagt hatte!

»Du weißt nicht, was du sagst. Glaubst du denn, er ist ein kleines Kind?«

Nein, das glaubte Mina nicht, durchaus nicht, ihr waren die Worte nur so in den Mund gekommen. Nein, aber er würde wohl bald wieder sanft sein, und abreisen würde er kaum. »Wenn du mit ihm redest«, fügte sie hinzu.

Gjartru schüttelte den Kopf. – »Ach nein, da kennst du deinen Vater schlecht. Sei nur lieber still. Denn er – das habe ich schon all mein Lebtag gewußt, mit ihm läßt sich nicht spaßen.«

Sie wurde nach und nach wieder munterer, und schließlich war es gleichsam, als sähe sie das helle Glück vor sich. Ein wenig ungeschickt machte sie sich an die Arbeit, legte Wäsche, die sie rollen wollte, in einen Korb; jetzt richtete sie den Rücken auf und stieß die Luft verächtlich aus, es war nicht Mina, zu der sie sagte:

»Glaubt ihr wirklich, ich sei im Blinden getappt, als ich ihn genommen habe? Nein, wenn ich schon heiraten sollte, so mußte es ein ganzer Kerl sein.«

Arnesen kam wieder herein. Er war jetzt ein wenig dünner, aber er trat hart auf, und seine Augenbrauen ballten sich dicht zusammen. – Er müsse gleich etwas zu essen haben! kommandierte er. Gjartru legte die Arbeit weg und lief in die Küche hinaus, sah ihn nur schnell von der Schwelle aus an, und nicht lange darauf war das Essen fertig. Mina war es, die ihn fragen mußte, wohin er wolle. Nach Björland. Und dann fuhr er fort: »Den Seeweg, mit zwei Ruderknechten.«

Gjartru ging wie im Traum herum. – »Ich sollte eigentlich nach Haaberg gehen«, sagte sie, sie kam in die Stube hinüber, wo Mina saß und nähte. – »Schon wieder nach Haaberg?« – »Nein, ich weiß nicht recht. Aber ich hätte so vieles mit Aasel zu besprechen. Die Aasel, ja, es ist merkwürdig, an sie zu denken.«

Mina wurde nicht recht klug daraus, und Gjartru sagte nichts weiter, bis sie das nächste Mal wieder hereinkam. – »Die arme Aasel, die keinen anderen bekam als den Kristen. Sie wird es jetzt wohl bald einsehen, daß sie die Oberhand verloren hat. Im übrigen hat wohl der Arnesen es nicht gerade auf die von Haaberg abgesehen; wir denken an sie nicht mehr. Aber der Kasten in Valvaere, der wird jetzt einen Konkurrenten bekommen. Denn es ist doch nicht so, wie die Aasel immer meinte, daß sie uns und die ganze Gemeinde in der Hand hätte. Sie meint es so gut, die Ärmste; es ist nichts Böses an ihr – ich sollte wirklich mit ihr reden.«

Mina blickt auf und ist erstaunt: »Redest du jetzt so? Daß nichts Böses an ihr ist?«

Ja, und etwas anderes hatte Gjartru nie gesagt. – »Es ist nur das, siehst du, daß Haaberg die Gemeinde sein soll. Sie sieht es nicht, daß die Zeit und die Gemeinde und alles im Begriff ist, sich von ihr ab- und uns zuzuwenden. Wir sind jetzt bald die Gemeinde, und das fällt ihr ein wenig schwer; wie sich ja denken läßt.«

Sie geht wieder hinaus, und als sie in der Wohnstube ist, hört sie draußen auf dem Hof das Knarren von Rädern. Es kamen so viele hierher, aber dieses Mal sieht Gjartru durchs Fenster, und da steigt Aasel Haaberg gerade vom Wagen herunter.

Gjartru kommt fast hinausgelaufen. Aasel war ruhig wie immer und ein wenig steif gegen die Schwester. Etwas in ihren Augen sagte, daß sie nicht nur zum Kaffee gekommen sei.

»Ich muß mit dir reden, Gjartru«, sagte sie, als sie sich gesetzt hatte – »aber vielleicht ist es schon zu spät«, fügte sie hinzu – »ich verstehe mich so wenig auf so etwas.«

Was war das nun wieder? Denn wenn es sich so verhielt, daß Peder und Andrea miteinander verlobt waren, dann wollte sie ihnen Glück wünschen, ja, das wollte Gjartru! »Da hast du einen guten Fang gemacht, Aasel!«

Aasel lächelte und sah vor sich hin: Ach, laß das! Sie lockerte ihr Kopftuch ein wenig, denn es war so unbequem groß und dick, es war das dickste Seidentuch in der ganzen Gemeinde. Jetzt sieht sie Gjartru an, ihre Augen sind ganz hellblau und wach, sie ist wie der Tag. – »Wo hast du denn den Arnesen?« – »Den? Ja, wer weiß, wo der ist! Er ist wahrscheinlich fort und kauft sich ein Schiff oder so etwas.«

»Ich wollte euch wegen des Netzes warnen, das er gekauft hat. Es ist verfault, ich weiß es jetzt.«

»Du bist wohl nicht recht gescheit? Das Netz, das der Arnesen – – das der Kristen uns verkauft hat?«

»Der Peder hat es mir erzählt, und noch ist es nicht zu spät. Der Kristen wußte nicht, daß es so schlecht war.«

Gjartrus Gesicht hatte sich mit dem feinen, hellroten Hauch überzogen, den sie schon als Mädchen gehabt hatte. Aasel wußte, daß sie dann heiß war.

»Der Arnesen weiß schon, wie er sich verhalten muß.«

»Es läßt sich ja noch gut machen«, seufzte Aasel. Das Geld habe sie dabei, die Summe, die dafür bezahlt worden sei. – »Und jetzt habe ich es gesagt, und Gott sei Lob und Dank dafür.«

Gjartru versuchte, Aasels Blick standzuhalten, aber der war heute zu stark, wie immer.

»Und könnte die Sache im stillen abgemacht werden, Gjartru, dann weißt du, daß uns das lieb wäre. Um Peders und Andreas willen. Aber wie du schließlich willst.«

»Das kannst du dir doch denken!« Gjartru hatte dies gesagt, ehe sie sich recht bedacht hatte, und jetzt fuhr sie in der gleichen Art fort: »Kleinere Leute sind wir doch auch nicht auf Segelsund. Wenn jemand zu uns kommt und uns bittet.«

Diese letzten Worte trafen, so glaubte sie, wenn man es Aasel auch nicht ansah.

»Der Peder sagte es mir ganz offen.« Aasel legte abwechselnd eine Hand über die andere; sie hatte sich das jetzt wohl so angewöhnt.

Gjartru wurde wieder heiß im Gesicht. – »Der Peder, ja. Der weiß davon wohl auch nicht viel mehr als irgendein anderer. Arnesen sah doch wohl, was er kaufte. Und bezahlte dementsprechend.«

»Versuche ihn dazu zu bringen, daß er den Handel rückgängig macht, Gjartru; tu das!«

»Wir wollen sehen.«

»Ja, ja. Ja, ja. Dann habe ich also meine Pflicht getan!«

Man konnte sehen, wie die Last von Aasel abfiel.

Aasel trank Kaffee, und sie redeten über alles mögliche, anfangs ein wenig mühsam und ein wenig weit voneinander entfernt, aber mit der Zeit immer lebhafter, und als sie sich trennten, lagen ihre Hände lange ineinander.

»Hü, Schwarzer! Jetzt haben wir einen geraden Weg«, sagte Aasel, als sie im Wagen saß.

Gjartru blieb auf und wartete auf Arnesen bis lange nach Mitternacht. Sie fragte wie ein neugieriges Kind, ob aus dem Handel etwas geworden sei und wie es im übrigen gegangen sei. Er hatte es nicht eilig mit der Antwort, aber die Sache war abgemacht. Dann erzählte sie von Aasel und von ihrem Anliegen. Er hantierte ruhig mit seiner Pfeife. – »Aber ich sagte ihr, daß du dir die Sachen schon selber anschaust, die du kaufst, ja, nicht wahr?« Er schwieg noch eine Weile, dann zog er die Achseln hoch:

»Glaubst du wirklich, daß sie mich narren können?«

Nein, Gjartru mußte lächeln. – »Hätte ich das geglaubt, Johan Martin, dann hätte ich mich hinlegen müssen und nie wieder aufstehen dürfen.« Dann lachte sie lange vor sich hin: – »Ich sehe Aasel im Wagen vor mir, sehe sie, wie sie dasitzt und hin und her gerüttelt wird, den ganzen langen Weg – die arme Haut! muß ich sagen. Aber sie meint es gut, die Ärmste.«

Arnesen dachte an seine Sachen, die Pfeife im Mund und die Papiere vor sich. Aber Gjartru war zu glücklich, um ihn in Frieden zu lassen. – »Ist morgen nicht Banktag?« sagte sie. – »Ja.« – »Dann komme ich mit zum Bankkassier. Ich wollte nur mit seiner Frau reden. Es wird schon gut gehen.«

2

Kristen Folden war Direktor in der Bank. Er war dieses Mal nicht verpflichtet, zu erscheinen, man hatte ihn jedoch darum gebeten, da einer der anderen krank war. Arnesen und Gjartru verloren ein wenig den Mut, als sie ihn dort sahen, aber Gjartru warf nur den Kopf ein bißchen zurück. Der alte Bankkassier war, genau wie Arnesen, Unteroffizier gewesen und hatte hier als Vater und Leiter der Bank gesessen, seitdem er sich hinaufgearbeitet hatte. Er war die Bank selber, und es hieß, daß nur Kristen etwas über ihn vermöge. Schlau war er wie ein alter Sünder, das sagte er selbst, und er kannte alle, die hierher kamen, aus- und inwendig. – » Mich können nur die Weiber zum Narren halten«, pflegte er zu sagen.

Und heute war es Gjartru, die ihn zum Narren hielt, sie lud ihn zur Hochzeit ein. Einer Einladung konnte er nie widerstehen. »Und Arnesen muß Geld haben, wenn er Heringe kaufen will, nicht wahr?« wandte der Bankkassier sich zu Kristen. »Ja«, stimmte dieser zu. – »Und an einem Pfand fehlt es dir natürlich nicht«, er sah Arnesen an. – »Ja, Pfand? Sie sollen ein Pfand auf die Jacht und auf Segelsund bekommen.« Kristen sah den Kassier an, so etwas könnten sie doch wohl nicht allein abmachen? Aber es war bereits abgemacht, und Gjartru hieß sie zur Hochzeit willkommen und fuhr samt Arnesen und dem Geld heim – es war ein dickes Buch voll Geld. – »Denn wenn wir etwas wollen, wir Haabergleute, dann muß es her«, sagte sie. Arnesen schnupfte nur ein wenig auf und murrte, wie er es immer zu machen pflegte.

»Die Gjartru ist nicht dumm!« lachte Kristen. Und er konnte doch auch gegen Verwandte nicht so sein. Das wußte sie genau. »Im übrigen: vor dem Arnesen habe ich Respekt. Solche Leute, die ihr Leben an einen Faden hängen, manchmal – das würde ich mich nie getrauen. Und wenn es mit ihm schief geht, dann ist es ihm wohl so bestimmt.« – »Die Bank wird sich zu schützen wissen«, sagte der andere. – »Ja, und was will einer schließlich tun, als eben alles versuchen, was er weiß? Mir ist es ja auch nicht besser gegangen.« – »Nein, du, nein. Du hast auch immer wieder alles hereingeholt; ich glaube, die Aasel hat schon manche schwere Stunde gehabt.« – »Aber das Pfand ist nicht so ganz übel«, lenkte Kristen ab. Dann sieht er den Kassier an und lacht. »Die Aasel, sagst du. Ja, du hast recht. Sie ist gut im Haus zu haben; sie hat die Unruhe in sich; in diesem Punkt war ich noch nie sehr stark. Aber ich bin ja auch kein Haabergmann. Ich durfte keinen Vorteil auslassen. Und das, was wir heute getan haben, das kann ich ihr gern erzählen.«

Er tat es. Aasel stand da, blinzelte und dachte nach. – »Da war ja nichts zu machen«, sagte sie. – »Nein. Und wie es auch geht, Haaberg wird deswegen kein Haar gekrümmt«, sagte er. »Aber die Netze sind nicht so schlecht; wenn er es schlau anfängt, kann er bei einem gemeinsamen Fang gut abschneiden.« Jetzt sah er, daß sie ängstlich wurde. – »Aber recht sollte eben recht sein, Kristen. Ich denke weiter, als nur bis dahin. Und es ist oft hart. Aber das weiß ich jetzt, daß du nie höher hinauf gewollt hast, als du gekommen bist.« Kristen war gegangen, sie aber stand noch da und sagte trotzdem laut: »Du bist im kleinen treu gewesen. Du bist dem Hof hier treu gewesen. Wenn es für den Herrgott so aussieht wie für mich, dann ist es schön und gut so. Das sage ich offen.«

Es sah vieles anders aus, als es vorher den Anschein gehabt hatte. Draußen waren helle Sonnentage, Bläue lag über allen Bergen, und alle Hänge waren gelb vom Laub, und daß Peder Andrea bekommen sollte, war ein Märchen. Sie wollte jetzt zu ihr gehen. Sie hatte noch nicht mit ihr sprechen können. Aber es dauerte lange, bis es dahin kam. Es traf sich nie so. Schließlich sagte sie sich selber, daß es am Mut fehle. Da nahm sie einen Anlauf und ging trotzdem. Aus dem Tierarzt selber machte sie sich wenig. Er war ein tüchtiger Mann, durch und durch, obwohl es hieß, daß er trinke, aber sie wußte gar nicht, worüber sie mit ihm reden sollte, nichts, als schließlich über das Vieh, und das wollte sie nicht mit solch einem großen Mann. Denn worüber sollte man mit einem solchen Mann sprechen? Es kam nichts heraus, wie lange man auch der Zunge freien Lauf ließ. Und mittendrin wurde er oft streitsüchtig und kam mit irgend etwas, fragte die unmöglichsten Dinge. Nein.

Andrea, das war etwas anderes. Aber worüber sollte sie eigentlich mit ihr reden? Ja, ja, das würde sie dann schon wissen. Sie wollte sie jetzt sehen.

Und dann war sie auf dem Weg; es war ein stiller Abend mit Mondschein und Schatten.

Es würde ein gutes Zeichen sein, wenn sie sie allein in der Stube anträfe. Dann ging alles so, wie es sollte. Und so mußte es sein.

Da hörte sie, wie jemand auf dem Klavier spielte. Du wirst sehen, der Ola ist da, durchfuhr es sie; es fehlte nicht viel, und sie wäre wieder umgekehrt und heimgegangen. Sie blieb auf der Türschwelle stehen und sah zu ihm hin, als sie eintrat, sie war überzeugt davon, daß er hier sei. Aber er war nicht da.

Andrea stand auf, sah ein wenig ungewiß aus und kam ihr lächelnd entgegen, die Hand vorgestreckt; das ganze Gesicht lächelte. Aasel blieb an diesem Lächeln hängen. So ihrer selbst sicher konnte die Jugend sein. Sie sah sie so lange an, bis das Mädchen erstaunt und verlegen wurde, und dann ergriff sie ihre beiden Hände.

»So sollte es also kommen, Andrea!«

»Ja, so ist es nun einmal.«

Jetzt erst wurde Aasel die Stube ringsumher gewahr. So sah es hier aus, ja, und jedes Ding stand glücklich auf seinem Platz; so konnte man alles an die Wände hängen, als seien sie dazu da. Es war schwer, hier zu atmen, und es dauerte geraume Zeit, bis Aasel sich setzen konnte. – »Ja, so, du bist allein«, sagte sie ein paarmal.

Dann wurde sie mit Kaffee und guten Sachen bewirtet, und nach und nach wurde die Stube rings um Aasel gleichsam leichter und leichter. – »Ich mußte dich einmal sehen, das war alles«, sagte sie. »Es hat mich die letzte Zeit immer ein wenig gedrückt. Wir haben solches Glück gehabt. Es ist so – – so merkwürdig gut gegangen? Niemand weiß, wohin das führen wird.« Sie schaute sich wieder in der Stube um und sah Andrea an. Sie redete beinahe mit sich selbst: »So muß es hier sein, ja, und so mußt du sein. Ich war froh, als ich das hörte, es schien mir, als habe ein Höherer uns dieses hier gesandt; einer, der uns wohl will, wie der Vater sagte, denn der Peder, ich weiß so wenig von ihm. Von allem anderen um mich – – weiß ich wenigstens etwas, ja. Um meine anderen Kinder ist es nicht großartig bestellt. Und auch wir waren nicht so, wie wir sein sollten, die Welt war nicht so. Aber der Peder, wie gesagt: Ich weiß nichts. Aber sage mir eines, Andrea!«

Andrea muß ihr gerade in die Augen schauen, sie sind so offen und warten so groß und fest.

»War irgend etwas zwischen dir und dem Ola?«

»Ja, das war es, aber«, Andrea wechselte zweimal die Farbe, und jetzt wurde sie wieder rot. »Ich wußte, daß Ihr mich danach fragen würdet, wußte es die ganze Zeit. Aber es war fast nichts, und ich will ihn nicht haben! – – Und warum ist der Peder immer so schwermütig?«

Aasel lächelte. Es war gleichsam, als lausche sie einem seltsamen Ton. Dann schüttelte sie den Kopf, sagte vor sich hin:

»Wüßte ich das bloß selber, Kind. Wüßte ich das bloß selber, Andrea.«

»Wollt Ihr mich denn haben? Als Hausmutter auf Haaberg?«

»He, und ob ich das will. Aber ich muß alles klar vor mir sehen. Ja, ja, Gott sei Dank!«

Einen Augenblick lang erkannte Andrea, daß sie ein abgearbeitetes kleines Wesen vor sich hatte. Sobald aber Aasel den Blick auf sie richtete, wurde sie selbst klein und ungewiß, ganz armselig unscheinbar. Aasel fing jetzt zu reden an, über viele Dinge. Nie hatte Andrea einen Menschen reden hören, der so nach den Worten suchte und sie so fand; es kam wohl nicht oft vor, daß sie mit jemand sprach.

»Haaberg ist jetzt keine großartige Sache mehr. Diese Zeit hat aufgehört. Es hat ja vieles aufgehört. Man kann so hinabgedrückt werden; ein ganzer Hof kann hinabgedrückt werden. Und da ist man froh, wenn man eine Hand findet, nach der man greifen kann. Jetzt kommt wohl eine neue Zeit, auch auf Haaberg – ja, ich fühle es an mir; und sie mag in Gottes Namen kommen. Brauchte ich sie nicht mehr zu erleben, war es mir am liebsten. Du, Andrea, fliegst nicht weiter, als die Flügel dich tragen. Und willkommen sollst du sein. Was ich aber sagen wollte: du sollst alles so nehmen, wie es ist, und den Peder auf den Weg führen, den er braucht. Du kommst mit uns und nicht gegen uns, ich fühle das an mir, ganz bestimmt.«

»Ja!« sagte Andrea, ihr Hals war so trocken und heiß geworden, das Wort kam wie ein leiser Schrei heraus.

»Dann mag es so gehen, wie es will und kann.« Aasel saß eine Weile da und sah vor sich hin, redete gewiß mit sich selber. – »Aber eine große Hochzeit wird es nicht werden, Andrea«, erklang es plötzlich. »Denn ich habe keine Lust dazu. Das dürfen wir nicht wagen, he?« – »Nein, nein, daraus machen wir uns nichts.« – »Danke, Andrea, denn wir haben jetzt nichts als Mißjahre und schwere Zeiten – ich bin nicht aufgelegt zu solchen Dingen. Aber es kann gern so sein, wie der Vater sagte, wer zum Tanzen zu alt ist, der ist eben zu alt. Vor ihm brauchst du dich übrigens nicht zu fürchten, Andrea; er sagt nicht viel. Die Gjartru aber, die ist auf einem falschen Weg. Wenn nur der Herrgott nicht über ihre Torheiten ergrimmt. Aber sie soll ihren Weg gehen und wir den unseren. Haaberg soll der Gemeinde nicht den falschen Weg zeigen.«

Aasel erhob jetzt die Stimme, und Andrea fühlte, sich davon ergriffen und fortgetragen:

»Das Juwikgeschlecht hat so etwas nie getan, das dürfen wir nicht vergessen, nie, nein. Was auch sonst für Narreteien begangen wurden.«

»Narreteien? Warum sagt Ihr das?«

Aasel schüttelte den Kopf ein wenig, und das Gesicht wurde sofort verschlossen.

»Nein, nein«, seufzte sie still, und dann stand sie auf. »Du wirst sehen, Andrea, du wirst sehen. Noch soll Haaberg Haaberg bleiben, und bis zu den Wolken hinauf ist's weit. Ich gehe heim wie ein neuer Mensch.«

3

Am gleichen Tag erhielt Gjartru ein Telegramm von Arnesen, eine Woche nach seiner Abfahrt. Sie hatte noch nie ein Telegramm erhalten. Es waren nur wenige Worte auf einem Papierstreifen, aber sie wußte, wie dies vor sich ging und erklärte Mina, daß die Wörter an einem Draht entlang gefahren seien und daß die Leute in der Stadt sie auf ein Papier geschrieben hätten, sie wußte es von der Zeit her, da sie in Valvaere war. »Das sollte nun die Aasel wissen«, lächelte sie. »Ja, aber was steht denn drin?« sagte Mina und versuchte ihr das Papier wegzunehmen. Da lasen sie nun gleichzeitig.

»Stürmische Reise, liegen aber jetzt mit Ketten vertäut. Massen von Heringen. Ich schreite sofort zum Kauf. Dein J.M.A.«

Es dauerte einige Zeit, ehe Gjartru der Sinn dieser Worte klar wurde, ehe sie sie so las, wie sie lauteten. Es war nur die Macht in den Worten, die sie traf. Nun endlich sah sie es: es hätte auch anders kommen können, sie hätten Schiffbruch erleiden oder zu spät kommen können, und was wäre dann aus dem Wohlstand geworden? Aber nun stand es ja hier – siehst du, Mina, hier: Massen von Heringen – ich schreite sofort zum Kauf, hm? Der Sieg stand da auf dem Papier, so kurz und bündig vor ihren Augen.

Mina schwieg und blickte vor sich hin, die Brauen wurden zu einem dünnen Strich in dem jungen Gesicht, und der eine Mundwinkel zog sich ein wenig hinauf; das eine Auge wurde immer kleiner und kleiner. Sie sah aus, als denke sie für alle miteinander. Dann wandte sie sich ab, gleichgültig, besah sich rasch im Spiegel, fuhr mit der Hand über die braunen Locken, ging dann ans Fenster und blieb dort stehen, die Hände in die Seiten gestemmt, und summte eine kleine Melodie. – »Geld läßt sich immer schaffen«, sagte sie, als einige Zeit verstrichen war. »Und dann, ja dann wollen wir es schon anwenden.« Auf einmal drehte sie sich der Mutter zu:

»Wir bleiben trotzdem hier im Ort, Mutter. Die ganze Zeit; für immer. Denn jetzt kann Arthur jeden Hof bekommen, den er nur will – ich werde ihn kaufen, ich! Sag nur nichts. Und dann geht es mit uns aufwärts.«

»Kommt Zeit, kommt Rat, Kind.« Gjartru war viel zu froh, jetzt, da sie endlich Wind unter den Flügeln spürte, sie achtete der Tochter kaum. Sie mußte hinaus, sie wollte irgendwohin fahren, denn das war das Beste, was sie wußte, bei Kummer und Freude, und am liebsten wäre sie nach Haaberg gefahren, nein, ringsum in der ganzen Gemeinde! Statt dessen wollte sie zu Ola, es war so lange her, seit sie ihn gesehen hatte, meinte sie. – »Warum soll ich nicht fahren? Es wird den Leuten wohl nichts schaden, wenn sie uns sehen? Wir sitzen nicht mehr draußen in der Haabergbucht und verstecken uns, wir sind jetzt da

Es wäre wohl das klügste, wenn sie sich jetzt die Waren verschreiben würden, die sie im Laden brauchten? meinte Mina, als die Mutter angezogen und fahrbereit war; denn es sähe ganz so aus, als wollte alles ins Stocken geraten, habe Hermansen gesagt, die in der Stadt wollten wohl keine Waren mehr herausrücken. – »Ja, bitte ihn, daß er schreibt, bitte ihn, daß er es ihnen gehörig sagt. Nein, übrigens, es schickt sich gewiß nicht, daß du dich darum annimmst.« – »Pah, was tut das! Aber du brauchst wohl einen, der dich fährt?« – »Ja, Herrgott, wahrhaftig. Den brauche ich, bitte den Jörgen, du – bitte – die Magd, ihm zu sagen, daß er sich fertigmachen und kommen soll. Ich werde doch nicht wie ein Bauernweib herumfahren. Nein, Aasel – –«

Mina lächelte noch lange hinter ihr drein. – Arme Mutter, ja, ja, ja, ein bißchen verschroben sind wir wohl alle miteinander, für den, der uns sieht. Aber daß sie es wagt, mich jetzt mit Hermansen allein zu lassen. Ich will es ihr danken, daß sie mich so einigermaßen kennt. Sie ging ins Kontor und redete mit ihm über die Waren. Sie sah ihn trocken und hart an, so daß er nicht einmal die Augen zu ihr aufzuschlagen wagte; sein derbes, schönes Gesicht wurde so flach – er würde sie nie mehr anrühren. Als sie aber an der Haushälterin vorüberging, hob sie der das Kinn mit zwei Fingern in die Höhe: »Du brauchst den Kopf nicht hängenzulassen, Nette, du kannst einen jeden nehmen, den du magst, und dich damit in einen Winkel verkriechen. Es ist kein Unglück, ein Bauernmädchen zu sein.«

– – – Ola saß in der Stube und las, als Gjartru kam. Er beachtete sie nicht eher, als bis sie in der Tür stand, und jetzt kam sie geradeswegs auf ihn zugebraust. – »Du kommst daher, als brächtest du sieben Sommer«, sagte er und zog einen Stuhl für sie herbei. – »Das tue ich aber auch. Sieben Segel und einen Wind – und du sitzest hier wie ein Einsiedler.« Er schnitt ihr das Wort ab: »Sind etwa große Neuigkeiten vom Norden gekommen? Oder ist es wegen des Klaviers?« – »Schau das hier an!« Sie legte das Telegramm vor ihn auf den Tisch, lehnte sich im Stuhl zurück. Während er las, beobachtete sie sein Gesicht genau. Aber es war nicht viel zu sehen. »Mit Ketten vertäut«, murmelte er, »schreite sofort zum Kauf.« – »Ja, ja, jetzt möchtest du wohl grinsen, du, wie du es immer tust, kannst du dich denn nie so weit ermannen, daß du das sein läßt?«

Ola wandte sich ihr zu. Er war jetzt ziemlich ernst.

»Sag mir eines, Gjartru: Hast du dir nie gedacht, daß dein Mann ein großer Dummkopf ist? Ja, nein, wart einmal: Daß er mit Wagen und Pferd übers Ufer hinausfährt, meine ich?«

Gjartru wechselte die Farbe und war gewiß nahe daran aufzuspringen, statt dessen zuckte sie aber nur ein wenig mit der einen Schulter und ließ die Mundwinkel spielen. – »Willst du's jetzt der Aasel nachmachen? Habe ich es etwa die ganze Zeit so gut gehabt, daß du mir nur lauter Böses prophezeien willst?«

»Geschwätz!« Ola sagte es grob, daß es traf. Dann blieb er stehen und sah sie an. Er glaubte nicht, je einen so jungen Menschen gesehen zu haben. Zwanzig Jahre Kampf und Mühsal waren wie ein Sommertag über sie hingegangen, sie ertrug noch einmal zwanzig solcher Jahre. »Nein«, sagte er bei sich, aber er sagte es laut – »so verdreht kann der Herrgott doch nicht sein. Du wirst sehen, ihr kommt jetzt in Fahrt, Gjartru, und dann geht es aufwärts.«

Ihr Gesicht wurde schlaff, fast unkenntlich, und die Augen blickten rasch und ratlos:

»Das weiß ich. Wir haben es oft schwer genug gehabt, aber das tut nichts. Meinen Anteil am Glück hat wohl irgendein anderer erhalten, dachte ich immer – und jetzt ist es also doch gekommen; das, was ich noch gut habe. Mir kann keiner den Mut rauben, Ola!«

»Nein, Gott sei Lob, du wärst sonst nicht die Gjartru. Du wärst sonst nur irgendein Frauenzimmer; wie ich und viele andere. Die Welt ist grau von lauter Mißgeburten und kleinen Leuten. Hier ist immer Mißjahr. Aber dich, Gjartru, dich kann ich gut leiden.«

Er stand da und redete zu seinen Büchern auf dem Wandbrett; Gjartru aber glaubte es seinem Rücken anzusehen, daß er jedes Wort so meinte, wie er es sagte. Das war so ungewohnt für sie. – »Schließlich kämpfen wir ja nicht nur für uns selber«, sagte sie. »Das darfst du nicht vergessen. Es handelt sich doch um Mina – um die Gemeinde. Die Mina, ja, ist es nicht merkwürdig, wie alles gekommen ist? Erinnerst du dich, was ich dir einmal erzählte? Daß ich den Hermansen und sie in einer Nacht hinter dem Heuschober fand? Ich meinte, ich müßte sterben, denn ich – – ich kannte das von mir selber her. Aber dann kam der Arthur, und jetzt schaut sie nicht mehr rechts noch links; ich habe sie gelehrt aufzublicken – darum liegt mir soviel daran, Ola, es muß vorwärtsgehen!«

»Du hast einmal etwas gesagt, du wolltest ein paar Schillinge von mir leihen?« er wandte sich ihr halb zu.

Gjartru bekam große Augen und stotterte: sie könnte sich nicht erinnern, so etwas gesagt zu haben? Dann wurde sie rot und gestand, daß das ja beinahe so halb und halb ihr Anliegen sei, sie sei so jämmerlich schlecht daran mit Bargeld! – »Wenn es dir paßt«, murmelte sie, »denn im Laden heißt es immer wieder nur borgen und borgen, die ganze Woche hindurch, und das ist ja auch ganz schön und gut, dazu ist uns ja wohl auch die Macht verliehen, daß die Leute nicht fortgehen müssen, ohne Hilfe erhalten zu haben, wie die Mina sagt.«

Ola kramte zwanzig Kronen heraus und gab sie ihr. Sie wollte Tinte und Feder haben, wollte den Empfang quittieren. Jawohl, die Freude sollte ihr vergönnt sein; ernsthaft brachte er das Schreibgerät, als sollte er ein Licht auf den Altar stellen.

»Du lachst mich doch nicht aus, Ola? Und der Aasel erzählst du es auch nicht?« Diese Worte schnürten ihm das Herz ein, so fühlte er es. Genau wie wenn eine alte Mutter für sich bittet, manchmal. Man hätte weinen mögen, gerade darum aber war er nahe daran hinauszulachen, konnte sich jedoch noch beherrschen, indem er mit aller Gewalt seine Stirnhaut anspannte; genau so war es ihm schon oft in der Kirche ergangen.

»Dich auslachen? Wenn ich nicht mehr Sünden auf mir hätte, dann könnte ich noch heute in den Himmel eingehen!«

Er fühlte Lust, ihr über das Haar zu streichen. – Es begann jetzt schon graue Streifen zu zeigen, wie er sah. Sie fragte, ob sie nicht miteinander zum Tierarzt fahren könnten, jetzt gleich, da sie schon unterwegs war und Zeit hatte? Ola sagte nicht nein.

– – – Dort wollte Aasel gerade aufbrechen. – »Laßt mich heimgehen«, sagte sie; »früher habe ich immer von selber ans Heimgehen gedacht.« Nun mußte sie aber doch noch eine Weile bleiben.

Ola sah es wohl, wie die beiden Schwestern erstarrten, obgleich er wußte, daß sie sich freuten, einander zu sehen. – »Ihr macht so steife Gesichter?« lächelte er und sah von der einen zur anderen. »Zwei Ellen vom gleichen Zeug, und können doch nicht zusammengeheftet werden.« An diesem Abend sagte er gar viele Dinge. Er war der gleiche Schelm wie immer, nicht ein einziges ernstes Wort brachte er hervor.– – »Höre nicht auf ihn«, sagte Aasel zu Andrea.

Ola saß am Klavier; spielte einige kleine Lieder, fuhr ein paarmal über die ganze Tastatur, hinauf und hinunter, und strich das Ganze mit einem langen Katzengejohle wieder aus. Andrea ging ein paarmal zu ihm hin. Ob er nicht eine lange Pfeife haben wolle? Aber Kaffee müsse er trinken und hier – das Kissen, auf dem er immer sitze, denn dieser Stuhl sei zu niedrig. Und hier, hier wäre das Stück, von dem sie gesprochen hätte – sie wolle ihn nicht noch einmal bitten, zu singen. Er zitterte unter ihren Worten, fast als habe ihn ihr Haar gestreift. Plötzlich aber hörte er sie sagen:

»Können wir uns nicht zu einer Hochzeit zusammentun?«

Es wurde still in der Stube. Er wußte nicht, wie lange es dauerte. Die Schweißtropfen traten ihm auf die Stirne – warum sagte niemand mehr ein Wort? Ungefähr so mußte man es wohl fühlen, wenn sie das Wort Hochzeit in den Mund nahm – hattest du denn etwas anderes gedacht, Ola? Sitzest du da und frierst über den Rücken hinunter? Da hörte er Gjartru, sie sang es laut wie eine Stubenuhr, sie sollten doch ja sagen. »Nicht wahr, Aasel? Denn davon wird man noch lange reden, das sage ich dir. – Meinst du nicht auch? So hätte es der Vater gehalten, dessen bin ich sicher; mitten im Mißjahr.«

Aasel hatte dagesessen und Andrea und Ola beobachtet. Nein, es konnte nicht viel zwischen ihnen gewesen sein, wenn sie immer so um ihn war und er es nie gemerkt hatte. Aber es prickelte ein wenig in Aasel: die waren von einem anderen Schlag, alle beide, ihr war diese Art fremd. – Sich zusammentun? Sie blickte auf. Das ging doch wohl nicht an? Wenn der zukünftige Bauer auf Haaberg heiratet, dann feiert er seine Hochzeit doch daheim. » Das wäre wohl nach dem Willen des Vaters.«

»Ja, freilich«, sagte Gjartru– »aber wenigstens am gleichen Tag, das würde ein Spaß sein!« Sie sah schon lauter neue Gesichte vor sich.

»Der Vater«, äffte Ola nach, »der Hausgott auf Haaberg und Segelsund. Er ist wie die Kartoffel, man kann ihn zu allem gebrauchen. Keines von uns weiß, worauf er hätte verfallen können.«

Aasel machte sich fertig und wollte jetzt gehen, und Gjartru erbot sich, sie nach Haaberg zu fahren, das sei kein großer Umweg. Als sie Abschied genommen hatten und auf dem Wagen saßen, dreht Aasel sich herum und sagt:

»Wenn ich's genau bedenke, Andrea, dann sollst du es so haben, wie du willst.« Sie hielt ihre Augen fest: »Wenn ich es genau bedenke. Wir halten das so, wie wir wollen.«

Dann fuhren sie weg. Andrea stand da, als friere sie, denn es war ein kalter Abend, Reif und Frost lag im Mondschein auf allen Feldern, und es blitzte in den Eisnadeln und Sternen auf jedem Moosbüschel und in jeder Radspur auf. Die Schatten der Berge verbargen fast die ganze Gegend, sie waren wie dicke schwarze Flächen. Noch lange hörte man die Bäder des dahinfahrenden Wagens rumpeln.

»Denn das würde der Vater wollen, ja«, sagte Ola und sah auf. »Die Aasel pfeift wohl auf dem letzten Loch, wenn sie hierin nachgibt, sie ist aufgeschreckt, die Ärmste.« – »Aufgeschreckt?« – »Ein wenig aufgeschreckt, ja. Daß Haaberg mit seiner Hochzeit im Vergleich zu Segelsund schlecht abschneiden könnte. Sie hat wohl ihre Zweifel, ob das ständige Glück nicht doch ein wenig alt geworden ist. Und gegen Gjartru verlieren, dazu hat sie keine Lust. Diesen Schlag möchte sie dir ersparen. Sie ist durch und durch ein wenig ängstlich. Das wurde nun ihr zuteil. Einem in unserer Sippe mußte ja auch das beschieden sein. Sie ist ganz ausgesaugt vom Gewissen; sie wagt jetzt nicht mehr, ihr Brot aufs Wasser zu werfen – sie ist bald reif für den Himmel. Aber: sie richtet sich schon noch auf, du wirst es sehen. Käme es zu einem Krieg unter uns, so würde sie schon die Eisen schärfen – das ist übrigens auch notwendig. Wir haben jetzt bald 1880, und hier liegt die Gemeinde und schläft sich zu Tode. Ja, ja, eigentlich bin ja nicht gerade ich es, der sie wecken soll, das wird ein anderer tun – hörst du nicht, was ich sage? Denn ich sage jetzt etwas Gescheites. Ein anderer, sage ich, und zwar bald!«

»Warum kamst du heute abend hierher?«

»Hierher? Das habe ich mich heute schon die ganze Zeit gefragt. Ich mußte wohl spüren, wie es schmeckt

»Du siehst so – so gehässig aus um den Mund? Und dann bist du so blaß, bist du nicht gesund?«

Ola stand da und lauschte dem fortfahrenden Wagen nach. Jetzt kam sie dicht an ihn heran:

»Habe ich falsch gegen dich gehandelt, Ola? Du sollst mir darauf antworten!«

»Woher doch! Falsch?«

Gedanken und Gefühle schwirrten ihm durcheinander, und der Mondschein wurde seltsam weiß und fern.

»Es fehlt gewiß nicht viel, daß ich das Leben erfasse und damit das Weite suche, mein Glück packe und es so mache wie ein Juwiking. Aber schau: das tue ich eben nicht, das ist der Unterschied. Mir sind die Sehnen durchgeschnitten – es ist ein Jammer. Ja, und dann dieser schlechte Geschmack im Mund!« murmelte er vor sich hin.

Bleich und ruhig stand Andrea da und sah ihn an.

»Du hast mir doch die Musik gegeben. Du hast mich reich gemacht«, sagte er.

Sie stand da und wurde nach und nach froh. Mehr brauchte es nicht bei ihr. Alle miteinander konnten froh werden. Aber wenn er jetzt die Zunge herausstreckte, dann sah sie doch wohl, daß es eine Lüge war?

»Dafür sollst du Dank haben, Ola!«

»Ja, leg ihn auf den Stein dort.« Dann lachte er ein wenig: »Du wolltest wohl gerne so ein kleines ›Erlebnis‹ haben, du? Darum fragtest du jetzt wohl, weißt du das?«

Er wandte sich ab und ging. Er fühlte, wie seine letzten Worte ihren Weg durch sie nahmen. Die Bosheit hatte stets die Oberhand. Und die Musik, die sie mir gab – daran wird sie jetzt trotzdem glauben, sonst wäre sie kein Frauenzimmer. Und das ist also das Ende vom Lied.

4

Am Tag darauf erhielt Ola Nachricht von Aasel, er müsse nach Haaberg kommen. Eine Nachricht von Aasel war genau so, wie wenn sie einen ansah, man mußte einfach folgen und kommen.

Er hatte die ganze Nacht hindurch in den Kleidern wach auf dem Bett gelegen. Dann war er gegen Morgen eingeschlafen. – »Ich glaube gar, er hat sich heute überhaupt nicht ausgezogen!« sagte die alte Muhme, als sie hereinkam, um ihn zu wecken. – »Ja, ich war so müde vom Wachdaliegen. Aber heute nacht ist mir etwas eingefallen.« – »Was denn?« – »Daß Selbstmord ein schwerer Tod ist, wenn man nicht dazu gehetzt wird.« – »Du bist doch immer der gleiche Schlappschuh, ob du jetzt handelst oder redest, du sollst dich schämen!« – »Das tu ich ja. Ich dachte, es stecke wenigstens noch so viel vom Juwikinger in mir, daß ich mein Zeug packen und gehen könnte, wann ich Lust dazu hätte. Aber nicht einmal dazu tauge ich. Vielleicht kommt mir sogar im feierlichsten Augenblick noch das Lachen aus – wenn ich mich selber sehe wie einen anderen Trottel, mit dem Strick in der Hand.« –»Trottel, ja – aber jetzt sei endlich einmal still!« – »Ja, aber die ganze Welt ist doch ein Faß voll Gewürm und Armseligkeit – hast du nicht meine Schwestern gesehen? Und mich und alle die anderen? Ja, freilich, nicht sie, die meine ich nicht, aber – – mir läuft das Wasser im Mund zusammen! Der Küstertod ist mir zu zäh. Aber du brauchst nicht Angst um mich zu haben; mit mir muß es einmal rasch und unauffällig gehen, wenn etwas daraus werden soll. Und eigentlich greift mich ja nichts an – ich bin meistens gar nicht da! Und danach ? Ich habe es schon so gut wie ausprobiert. Denn damals war er da, das fühle ich an mir, wenngleich ich nie an ihn glauben kann. Da siehst du, daß ich doch ein Bauer bin!«

Die Tür schlug zu, und Ola war allein. Er lächelte und sah zum Bett hinüber. – »Und nun alles das, was ich ihr heute nacht geschrieben habe!« sagte er. »Kein Haar wächst auf mir und kein Bart, ich bin wie eine Eierschale, innen und außen, und trotzdem und immer noch hier sein und mich anschauen müssen! Ich habe ein paar Nächte hintereinander meine Mutter hier gesehen, während ich hellwach im Bett saß; und mich selber habe ich immer und immer wieder gesehen – glaubst du, daß einem einzigen Menschen in der ganzen Christenheit solches widerfahren ist? Und jetzt wieder allein dies, daß ich hier liege und an dich schreibe.«

Er wandte sich jäh um und ging hinaus.

Blauer und klarer Himmel; Reif und lange Sonnenstrahlen.

Die Alte behielt ihn im Auge, wie er so dahinging. – »Der sieht mir weiß Gott so aus, als hätte er eine Ahle ins Herz bekommen«, murmelte sie vor sich hin – »und wo steckt er denn jetzt, he?« Sie ging ihm bis hinter die Stallwand nach. Vorsichtig wie ein Huhn im Neuschnee trat sie auf: Da stand er, richtig. Sah aus, als fluche er gerade über irgend etwas; jetzt mußte sich wohl bald herausstellen, was er vorhatte. »Ach, woher, du hängst dich nicht auf, solang du vom Strick sprichst.«

Sein Blick fiel auf die Alte, die weiterging und so tat, als lese sie Zweige auf. Wie eine Krähe, die es auf ein Hühnernest abgesehen hat, mußte er denken. – »Bekomme ich heute nichts zu essen?« fragte er. Sie stieß nur verächtlich die Luft aus, wurde gleichzeitig böse und froh.

Den ganzen Tag über saß er da und spielte und sang und war immer mehr und mehr bereit, sein Zeug zu packen und seiner Wege zu gehen. Er wollte wieder nach Süden hinunter. Besser war es dort zwar auch nicht, das wußte er von früher her. Aber es war anders. Dort herrschte mehr Leben; es war ja gar nicht anders möglich.

Dann bekam er die Nachricht von Aasel und zog sich an und ging.

Mit Aasel stand es nicht recht zum besten, das sah er gleich. Trotzdem mußte er zuerst etwas zu essen bekommen, sie ging hin und her und trug ihm auf und stellte sich dann hin und nötigte ihn zum Zugreifen. Die Welt mußte ihren Gang gehen, wenn es auch noch so schlimm stand.

Endlich saßen sie in der Oststube. Es war dämmerig dort: der Tag war seiner Wege gegangen. Man sah die Sonne nur noch hinter dem Bergrücken im Süden, dort aber war ihrer genug.

Aasel saß da und legte immer wieder eine Hand über die andere, sah abwechselnd Ola an und dann wieder zu Boden. Am meisten ging es Ola zu Herzen, daß er sah, wie Angst und Qual einen Menschen angreifen konnten, der doch etwas taugte, so verwitterte Gesichtszüge konnte einer wie er niemals bekommen.

Es ginge schlecht drüben in Juwika, sagte sie. »Die Kjerstina soll so krank sein; soll auf den Tod liegen.« Aasel wartete eine Weile, und Ola schwieg nur. – »Die Kjersti Rönningan war gestern abend hier, als ich heimkam, es war nichts Gutes, was sie zu sagen hatte, das sah ich sofort. Sie gestand alles, was sie wußte. Sie kam von dort, hatte keine Nachricht zu überbringen, sie wollte nur, daß ich es wissen sollte.«

Aasels Gesicht erbleichte vor Entsetzen, jetzt, da es gesagt werden mußte:

»Es ist der Peder

Ola nickte unmerklich, ja, ja, der war es wohl.

»Sie waren verlobt gewesen. Und jetzt steht es so mit ihr – – es kam zu früh

Ola blieb sitzen, wie er gesessen hatte. Jetzt aber nahm sich Aasel zusammen und sah ihn an. – »Ja, etwas müssen wir tun«, sagte er. »Es ist doch wohl nicht über die Gemeinde hinausgedrungen, was meinst du?« – »Nein, die Kjersti glaubte das nicht. Und sie versprach, darüber zu schweigen.« Aasel saß da und hatte jetzt einen seltsam starren Blick, die Augen sahen so weit weg, aber der Mund war vergessen und leblos wie eine Wunde im Gesicht. Jetzt nahm sie ihren Blick wieder zurück. – »Du mußt hinüberfahren, du, Ola. Und dich erkundigen, wie es steht. Dann mag der Peder den Weg gehen, der ihm vorgeschrieben ist; wenn es so schlimm steht.« »Ich? Bist du – – nein! Unmöglich, da sind tausend Dinge im Wege«, er starrte sie verwirrt an. Er schwitzte, bis er sich endlich wieder beruhigt hatte. – »Nein, wenn du die Aasel bist, dann fährst du selber. Was du weiterhin tun willst, das wirst du wohl selber wissen, wenn die Zeit da ist.« – »Ja, ja. Wenn du mich nur begleiten würdest, Ola?« – »Ich kann dich ja hinüberrudern.«

Aasel fuhr sich über Stirn und Augen: »Merkwürdig. Ich habe eine Ahnung, daß sie mir nicht in die Augen sehen werden; ich werde nicht fertig mit ihnen; es ist anders geworden als früher. Aber, wie gesagt: hinüberfahren muß ich doch wohl.«

»Ich muß mit dem Vater reden«, sagt sie zu sich selber, als sie hinausgehen. »Ich muß ein Wort haben!«

Ola saß drinnen beim Vater, während sie sich fertigmachte. Dann kam sie auch hinzu. – Allzuviel hält sie auch nicht aus, denkt Ola. Sie erzählt dem Vater, wie auf Juwika alles steht, geradeheraus und ohne die Augen niederzuschlagen.

Anders sitzt da, das Antlitz ihr zugewandt. So blind meint Ola ihn noch nie gesehen zu haben. Es sah fast aus, als drehe er die Augen nach innen und starre in der verkehrten Richtung. »Die Welt geht ihren Gang«, sagt er, als eine Weile verstrichen ist. »Sie geht von selber, die Alte. Sie kann uns entbehren, und sie kann nach uns schicken, genau, wie man es selber nimmt. Keiner ist der, für den er sich hält. Die Unruhe ist es, die das Werk treibt, sowohl in der Uhr als auch in der Welt.«

»Ja, aber was soll ich denn tun, Vater?«

»Setz dich hin und warte, Kind. Wie du es früher getan hast.«

»Ist das dein Ernst, Vater?«

Anders schüttelte den Kopf: Nein, nein doch, sie solle nicht auf ihn hören. »Höre nie auf den, der zurückbleibt.« – »Aber er hat sich wie ein Lump aufgeführt, hörst du!« – »Ach ja, freilich, das ist wohl wahr. Ein Lumpenstück, Aasel, ist noch nicht das Schlimmste. Eines jedoch scheint mir wahr zu sein: Von Juwika sollte er seine Frau nicht holen.«

Aasels ganzes Gesicht überzog sich wie mit einer dunkelroten Haut, und ihr Mund wurde schlaff und zog sich wieder zusammen. Dann holte sie mühsam Atem: – »Das war es ja, was ich wußte. Daß ich etwas wie eine Warnung bekommen würde.«

Anders lachte: »Wenn sie mir jetzt wohlwollen, so muß es sich zeigen! solltest du sagen. Das sagte ich einmal.« – »Er ist verrückt und nicht recht bei Trost!« seufzt sie und geht hinaus. – »Das glaub ich gern«, lachte Anders. »Der Schatten ist immer verrückt, wenn er ein Mensch sein will. Aber die Unruhe, wie gesagt, die treibt das Werk; und ein Lumpenstück wirft der Aasel den Karren nicht um, o nein. Aber hier ist es zu still rings um mich, mir wird bald Angst: Gibt es denn keine Leute mehr in der Gemeinde? Sitzen sie alle miteinander in ihrer Kammer? Einzig und allein der junge Kerl, der Sohn vom Tierarzt, er, der sich die Schöngans erlegt hat –. Meinst du, es steckt soviel Zeug in ihm, daß er irgend etwas zuwege bringt? Hm?«

Ola wußte darüber nicht viel, nein. Er hatte kein Verständnis für Politik und derlei.

Anders schwieg. Und Ola kroch unter diesem Schweigen zusammen.

– – – Aasel sagte fast kein Wort, während sie über den Fjord ruderten, und auch dann nicht, als sie Ola unten am Ufer verließ. Sie ging rasch und sicher hinauf. Sicher und blind wie das Schicksal, dachte Ola – ich kann ruhig sein; die läßt die Andrea nicht fahren, nein. Er sah ihr nach, wie man einem neuen und fremden Menschen nachsieht. Und er wurde munter und fühlte sich froh. So ein kaltes und fröhliches Staunen kann einen bisweilen am Morgen überfallen, an einem strahlenden Morgen im Herbst.

Aasel wurde innerlich immer ruhiger, je mehr sie sich den Häusern näherte. Ja, gewiß, hier herrschte guter altmodischer Wohlstand, und eine schöne Vortreppe hatten sie sich gemacht und die Nebengebäude gestrichen. – »Und jetzt muß ich einmal sehen und fühlen. Sind sie hartnäckig, dann bin ich es auch; und ist es zu spät, so muß ich nachgeben. Aber wie der Vater sagte – –«

Sie ging in die Austrag-Stube und traf die Marta selber an. Marta stand am Herd und hielt einen kleinen Topf oder was es war übers Feuer; sie war ein hochgewachsenes und breitschultriges Frauenzimmer. Sie stand eine Weile da und konnte sich gleichsam nicht darauf besinnen, wer Aasel war, und dann brauchte sie noch einmal einige Zeit, bis sie die Hand ergriff, die Aasel ihr hinhielt.

»Wie geht es euch denn hier?« fragte Aasel.

»Warte doch nur, bis du dich setzen kannst!« sie schob ihr einen Stuhl hin.

Aasel blieb stehen, da wurde die andere unruhig, redete ein wenig übers Wetter, rückte das und jenes zurecht und wollte Ordnung machen; aber Aasel stand da und sah sie an, und so mußte sie den Rücken aufrichten und aufblicken, mußte Aasel ansehen, so gut sie vermochte.

»Es steht also schlecht mit der Kjerstina?«

Marta stützte die Hände auf die Hüften und versuchte sich noch höher aufzurichten.

»Ja, so ist es, Aasel. Es steht schlimm mit ihr, ja.«

Jetzt trat Aasel näher und setzte sich. Sie war so ruhig; es sah aus, als sei das Schlimmste überstanden.

Wie hatten sie sich's nun weitergedacht?

Oh. Sie hatten noch nicht so viel gedacht. Man mußte doch froh sein, daß sie mit dem Leben davongekommen war, die arme Haut. Marta richtete sich so heftig auf, daß es Aasel im Rücken weh tat.

»Ja, die armen Kinder!« sagte Aasel. Aber wie gesagt, wie hatten sie sich's denn gedacht?

Sie sahen einander kurz in die Augen, und Marta blinzelte rasch und ratlos – es war fast eine Schande, wenn man sich jetzt hart zeigte.

»Ja, wir wollten eben am liebsten, weißt du – –«

Aasel nickte vor sich hin: »Ja, ich auch, aber.« Aber sie hatten das Gerücht doch wohl nicht über die Gemeinde hinausdringen lassen? – Woher doch! – »Könnte ich nicht mit dem Mädchen selber sprechen?« Marta errötete ein wenig, bis unter die Augen hin; dann seufzte sie und erhob sich. Sie wollte nachsehen. Mit niedergeschlagenen Augen kam sie wieder zurück, blinzelte und sah ein paarmal zu Aasel auf, fast als bitte sie um Gnade: »Du mußt ja wohl zu ihr dürfen.«

Kjerstina war nicht wiederzuerkennen. Schneeweiß im Gesicht und mit blauen Lippen, wie eine Tote, lag sie da, sie hatte so viel Blut verloren, daß fast kein Leben mehr in ihr war. Aasel setzte sich still ans Bett. Sie ergriff die Hand des Mädchens, und jetzt schlug dieses die Augen auf und begegnete Aasels Blick. Aasel ging es so nahe, daß ihr, ehe sie sich's versah, Tränen über die Wangen liefen. Marta, die bei der Türe stehengeblieben war und sie beobachtete, wollte schon dem Herrgott danken und dachte, nun sei gewiß das Schlimmste überstanden, nun hätte Aasel sich abgefunden. Da aber hörte sie Aasels Stimme: »Wußte der Peder, daß es so um dich stand, Kjerstina?« Das Mädchen schüttelte den Kopf, und Aasel sah Marta an. Es wurde so eng in der Kammer, fast zum Ersticken. – »Ja, das war es, was ich fürchtete!« seufzte Aasel. »Und jetzt ist es zu spät! Jetzt ist es zu spät!« Sie wiegte den Kopf im Takt mit ihren Worten hin und her, sie sah keinen Ausweg. Kjerstina legte den Kopf auf die andere Seite. Für alles andere war sie zu schwach. – »Ich weiß, du willst dem Peder nichts Böses, Kjerstina. Ich weiß es. Und du auch nicht, Marta, ihr seid alle beide besser, als er verdient hätte. Ich bitte nicht für ihn, aber doch. Aber er hat eine andere in Schwierigkeiten gebracht; das ist es, was so weh tut. Er bekommt wohl einmal seine Strafe.«

Aasel erhob sich. Sie hatte einen vollkommen veränderten Gesichtsausdruck, man mußte fast fürchten, sie könne sich nicht auf den Füßen halten. Aber es ging ein Strahlen von ihr aus. Der Raum war von einem großen lächelnden Ernst erfüllt.

»Der Herrgott möge es euch lohnen, mehr kann ich nicht sagen!« Sie ergriff Kjerstinas Hand, und das Mädchen mußte aufblicken und Aasel in die Augen sehen. »Du bist viel besser – – ich hätte nicht an deiner Stelle sein können. Wir können dir nie genug für das hier danken.«

Marta ging mit Aasel hinaus. Sie vergaß sogar den Kaffeekessel.

»Du weißt, wir werden kein Wort darüber sagen. Wenn es so steht«, sagte sie.

»Wenn sie ihm verziehen hat, dann ist dies ja eine heilige Sache. Du hast recht, Marta.«

Das gleiche sagte sie zu Ola, als sie wieder im Boot saßen.

– »Die sehen ein, was das Richtigste ist, die genau so gut wie du und ich. Und jetzt mußt du nach Rönningan und mit ihnen dort sprechen. Ich kann jetzt nicht mehr. Vorläufig.«

Ola sah, daß sie die Wahrheit sprach. Sie war erschöpft. Sie saß weit von ihm fort; es war so hoch bis zu ihr hinauf.

Sie zogen in der Abendstille einen schwarzglänzenden Schneepflug hinter sich über den Fjord. Schwarze, stille Felsen empfingen sie auf der anderen Seite. Nichts kann so schweigen wie Felsen am Abend, wenn sie ins Wasser hinabreichen und die Ruderer in Empfang nehmen. Gipfel und Bergrücken waren östlich am Himmel eingeschlafen.

Als das Boot an Land gezogen ist, sagt Aasel, und jetzt klingt ihre Stimme wach und dicht bei ihm: »Ach ja, du warst es, Ola, der mir den rechten Weg zeigen mußte.« – »Ich?« – »Ja. Ohne dich wäre ich es nicht gewahr geworden. Ohne dich hätte ich nicht ein Wort vom Vater gehört. Und da war es gleichsam, als verleihe mir auch jemand noch die Macht. Ich bin ein neuer Mensch, das fühle ich. Wie in früheren Zeiten.«

Und doch war sie es, die ihn zu einem neuen Menschen gemacht hatte, dünkte ihn.

5

Es war schon spät am Abend, als Ola nach Rönningan kam. Oheim Petter war jetzt daheim. Er hatte sich im vergangenen Jahr den einen Fuß verletzt und wurde nicht mehr recht gesund, hinkte nur mit ein Paar Stöcken herum. Kjersti betrieb das Anwesen, von Haaberg bekam sie ab und zu die Pferde geliehen. Ihr Sohn war nach Amerika gefahren, nun aber hatte sie ein kleines Mädchen von einem Häuslerhof zu sich genommen; die Kleine hieß Anetta und war im vergangenen Jahr konfirmiert worden. – Mit Petter war es jetzt nicht mehr weit her, es steckten nur noch Scherz und Dummheiten in ihm. Von Zeit zu Zeit hinkte er nach Haaberg hinüber und unterhielt sich mit Anders. Zwischen ihnen gab es nichts Böses mehr, kaum daß er noch auf den Bruder stichelte; sie pflegten im übrigen die Kammertüre zu schließen, wenn sie allein beieinander saßen und redeten. – Wenn Ola kam, war Petter meist sehr erfreut. »Wir sind ja Verwandte, wir beide«, pflegte er zu sagen, und er lachte dazu, denn er legte viel Sinn in diese Worte.

Er sagte es auch heute abend. Ola war erstaunlich leicht und froh, und dazu todmüde, er schleppte sich geradeswegs zur Bank hin, blieb dort sitzen und redete über dies und jenes – er fühlte sich wohl wie ein Kind.

Kjersti war fort und half auf einem Hof beim Brotbacken, und Petter hinkte in der Stube herum und suchte etwas, das er Ola vorsetzen könnte. – »Denn du siehst mir ganz so aus, als hättest du es verdient«, sagte er. »Du siehst so aus, als hättest du unserm Geschlecht einen großen Dienst erwiesen – du kommst jetzt nicht von daheim? So, so, aus dir ist ein Retter geworden.« Petter suchte immer noch, und endlich fand er eine Flasche mit Branntwein; die habe er versteckt, seinerzeit, als noch die Sünde in ihm wohnte, sagte er. –»Nun müssen wir uns aber beeilen und sie leer kriegen, bis Kjersti heimkommt, denn die ist jetzt ein anständiges Weib.« Petter sah Ola seltsam an: »Sie, die ich aufgezogen habe, he? Ja, da sieht man's wieder einmal! Mit dir und mir, Ola, ist das eine andere Sache. Aber der Herrgott hatte wohl auch mit uns seine Absicht. Das glaube jedenfalls ich, denn auf diese Weise sieht die Welt für mich nicht so verwirrt aus.«

So stark hatte der Branntwein schon lange nicht mehr auf Ola gewirkt. Ehe man sich's versah, war er schon betrunken. Aber noch nie hatte ihm dieser Zustand auch so geschmeckt. Die kleine Anetta ging, um sich schlafen zu legen. Plötzlich blieb sie an der Türschwelle stehen und sah Ola an, mit einer kleinen Falte zwischen den Brauen. Sie sah so von Herzen erstaunt aus, öffnete den Mund und wollte gerade etwas sagen, aber dann wurde es doch nur ein kleines »Gute Nacht«. Ola sah es noch so halb und halb, und nicht lange darauf sank er auf der Bank zusammen und schlief.

Kjersti nahm eine Decke und breitete sie über ihn, als sie heimkam. Sie hüllte ihn gut darein und strich ihm über das Haar. »Du bist ein Engel Gottes. Wie es dein Bruder war. Und der gleiche dumme Kerl wie er. So!«

Dann ging Kjersti zu Bett, Petter aber nicht. Solch eine festliche Stunde durfte er nicht verschlafen. Und überdies war Ola so freundlich, als er erwachte und Mitternacht vorüber war; er blickte auf und grinste das Licht und Petter an. »Wo bin ich denn?« sagte er. – »Jetzt glaubst du wohl, du bist im Paradies!« lachte Petter. »Laß dir Zeit und warte, Kind. Nein, die Flasche ist leer. Die ganze Welt ist leer. Das wissen wir doch schließlich, du und ich, ja.«

Petter redete das Blaue vom Himmel herunter, aber Ola konnte sich nicht ganz klar darüber werden, wieweit der andere betrunken war. Eine Weile saß Petter da, klopfte mit dem Zeigefinger auf den Tischrand und tat so, als pfeife er dazu. Dann blickt er schräg zu Ola hinauf: »Du glaubst ja auch nicht an den Herrgott, soviel ich weiß? Nein, und das tat ich in deinem Alter auch nicht; ich war ein freier Mann, jawohl. Aber frag mich jetzt! Man sieht es schon an dieser kleinen Sache: Ich zündete die Kirche an, und jetzt hat man mich im Verdacht, in den Bergen hier droben Schafe gestohlen zu haben. He? Ich, der doch von der Kjersti bewacht wird? Jawohl, auf diese Weise stempeln sie die Kjersti auch noch zur Diebin, und nun paßt erst alles zusammen. Jetzt erst greift es richtig an. So regiert der liebe Gott, und da muß er doch vorhanden sein. Oh, ich wüßte gar vieles, mein Junge, was ein Spaß hätte sein können, ich stecke heute noch voller Leben und Dummheiten. Aber dann rächt er sich an ihr und an der Kleinen – damit, das weiß er, trifft er mich. An mich traut er sich nicht heran, ich bin ihm zu glatt; so wie seinerzeit der Jakob, von dem wir in der Schule lernten.« Petter hüstelt trocken: »Du schrakst so zusammen, als ich von der Kirche sprach, Ola? Wußtest du denn nicht, daß ich das war? Wußtest du das nicht? Nein, nein. Es war also mein Werk, das stimmt schon. Mein Hauptwerk. Und wo ist deines, laß sehen.«

Wiederholt hob Petter die Flasche gegen das Licht. Aber sie war leer. Nach einer Weile war Ola wieder aufgewacht. Seine Blicke wanderten flackernd über Petter hin. Petter blinzelte und kniff das eine Auge zu: »Ich konnte ja tun, wie ich wollte, du verstehst mich wohl? Wenn ich nicht an den Herrgott glaubte, so mußte ich doch wohl die Freiheit ausnützen und irgend etwas aushecken; ich weiß noch so gut, wie das war. Die ganze Zeit fand ich, ich sei ein junger Bursche und ein freier Kerl, gleichsam wie früher, wenn die Mutter vom Hof weggegangen war, das war ein Leben, Junge, ein freier Mann zu sein! Danach merkte ich dann, daß er doch da war. Aber ein Glück war es, daß die anderen an ihn glaubten, dort, wo ich mich herumtrieb. Sonst hätten sie mich wohl erschlagen.«

Petter saß da und sah Ola an, der mit offenen Augen schlummerte und von Zeit zu Zeit wieder aufwachte. – »Hast du eines schon beobachtet, Ola? Daß der liebe Gott auch deinen Vater einholte. Er konnte nicht anders, als ihn mitten im Lauf aufhalten, so gut sich die beiden im übrigen auch vertrugen. Da glaubte Anders nicht mehr an ihn, hahaha! Da aber mußte ich daran; da begriff ich, daß wir ihn über uns hatten. Denn der eine hat nicht das Recht, über den anderen zu befehlen und zu herrschen, verflucht noch einmal, das hat er nicht! Im übrigen aber kann er es meinetwegen doch haben! Denn dann hat auch der kleine Mann ein Recht, so zu sein, wie er ist: nämlich böse! Aber ich halte es doch nicht mit dem Herrgott, wenngleich ich auch an ihn glaube – er hat keinerlei Recht, so zu handeln, wie er will, er hat nicht das Recht, den einen klein und den anderen groß zu machen; ich sage, das hat er nicht! Ich sage nein, bis ich das Maul voller Erde habe! Aber meinethalben. Auf diese Weise hat er mir das Recht gegeben, mich widerspenstig gegen ihn zu zeigen. Wenn es sich nur nicht so verdammt an den anderen rächen würde, an der Kjersti und an dem jungen Weibsbild – er macht mich gewiß doch noch zum Sklaven.«

Petter tastete sich bis zur Kammertüre hin und spähte hinein:

»Schläft sie, die Anetta? Sie kam mir heute abend so verschnupft und zerzaust vor, ist sie am Ende nicht gesund?«

»Seid nur still, Vater, und weckt sie nicht!« bat Kjersti.

Petter kam zurück und setzte sich wieder, zuerst aber schüttelte er noch einmal die Flasche.

»Ja, jetzt weißt du, wer die Kirche angezündet hat, Ola!« Petter lachte und bat Ola, ein wenig darüber nachzudenken, wenn er für sich allein sei. »Aber schau, ich packte die Sache am falschen Ende an«, seufzte er. »Nichts als Dummheiten und Spaße und Faxen. Sag mir, Ola: Es muß doch einmal einer kommen, der ein bißchen etwas taugt? Einer, der die Sache mit dem richtigen Ernst anpackt? Was will denn der Herrgott mit diesem Haufen Menschen auf seiner Welt? Er sollte sich in acht nehmen. Es müßte sein Geld wert sein, Junge, wenn sie einmal alle miteinander aufbegehren und sich ihm widersetzen würden! Nicht nur als ein kleiner Fingerzeig, nicht auf Petters Art, sondern wie die richtigen Teufel. Wenn jeder sich sein Haus oder sein Heiligtum aussuchen und es anzünden würde – glaubst du, daß es nie einmal soweit kommen wird? Aber mit den anderen ist es nicht das gleiche wie mit mir; sie sind geborene Sklaven. Und das ist auch ganz gut so. Für den Anders und für Haaberg. Und auch für Kjersti und die Kleine, wenn man es recht bedenkt. Der Herrgott ist ein schlauer Mann. Sie müssen ihm selber helfen beim Lenken, mit Weisheit. Der Petter ist also nicht gefährlich, nein; obgleich es in der Welt viele seiner Art gibt.«

»Und schließlich gibt es von meiner Art auch nicht so wenige«, sagte Ola.

Petter saß eine Weile da und hing seinen Gedanken nach. Dann zog er die Stirne auf einer Seite hoch: »Du, sagst du? Wir beide sind nur Überbleibsel, mein Kind. Oder richtiger gesagt: Du bist so, als könntest du mein Sohn sein. Ich denke oft an dich. Aber ich fürchte dich sozusagen. Ich habe deinen Mund betrachtet, bisweilen. Es ist der Mund eines kleinen Mannes. Du könntest Blut saugen. Du lächelst weiß wie ein Seekranker hinter den Menschen her, ja sogar hinter deinen Schwestern her; und bisweilen lächelst du auch innerlich wie der Leibhaftige selber. Du bist ein Weib von einem Mann! Und ich glaube, ich weiß, wie es schmeckt, herumzugehen und das zu fühlen – sag mir: hast du nie daran gedacht, Schluß mit dir zu machen?«

Olas Gesicht wurde ganz flach, so daß Petter sah, wie es dem anderen naheging, und jetzt wurde die eine Gesichtshälfte steif und kalt. Er konnte den Blick nicht von Petter lösen, er war ihn gewahr geworden: Petters Mund grinste ihm zahnlos und mit blaubleichen Lippen entgegen – eine Hiebwunde, die wieder aufgebrochen war; und die Augen blinzelten so freundlich und dicht vor ihm, daß es brannte: – »Sich eine Renntierschlinge um den Hals legen, ja, und sich von der ganzen Wirtschaft davonmachen, hm? Von all dem weggehen, was einem nicht zuteil wurde.« Petter sprach ein wenig lauter:

»Du kannst ja noch warten, bis die Hochzeit vorbei ist. Im Haaberg-Geschlecht gibt es jetzt ein Fest, mein Kind. Du bist die letzte Zeit wohl nicht auf Juwika gewesen?«

»Wunderst du dich über die Aasel? Sie reckt sich jetzt wohl auf und bahnt sich selber den Weg.«

»Ach ja, freilich; ein paar Hühnerschritte durchs Leben.«

Ola fand in dieser Nacht keinen Schlaf, lag aber da und fühlte sich ganz wohl. Ein wenig Gift war noch nicht das Schlimmste. Er lag wach und sah Aasel vor sich, wie sie nach Juwika ging, und wie sie auf dem Heimweg im Boot saß und schwieg. – »Nun werden wir ja sehen!« sagte er vor sich hin. »Hätte ich meinen Kopf in einer Renntierschlinge stecken, weiß Gott, ich zöge ihn wieder heraus und wartete noch eine Weile.«

Er blieb noch bis lange in den nächsten Tag hinein auf Rönningan. Zuerst brachte er Kjersti dazu, das zu versprechen, was notwendig war. Dann machte er sich an die Arbeit. Es gab so wunderbar viel zu helfen und zu tun. Er und Anetta waren im Wald droben, luden Brennholz auf den Handwagen und zogen ihn heim. Anetta war noch hager und aufgeschossen, aber ein lebhaftes kleines Ding; Ola hatte sie bisher noch nie beachtet. Wie sie gerade dastanden und einen kleinen Baum entasteten, brach sie in lautes Gelächter aus, über ihn, oder über sich selber, oder was es nun war, und als Ola sie ansah, gab sie ihm den Blick zurück, ganz offen, aber mit einem Schatten von Vorsicht in den Augen; sie lachte immer noch und schüttelte das dichte dunkle Haar aus der Stirne, dann aber schwieg sie ebenso plötzlich, wie sie angefangen hatte. Es war jetzt so still im Wald – sie stand wohl auf dem Sprung, von ihm wegzulaufen. Auch ihr war es bewußt geworden, wie ganz allein sie beide dastanden. Ola packte das Seil und zog es fest. Aber das Tau war alt und riß mitten entzwei, und er saß im Heidekraut. Anetta lachte nicht. Sie war rot geworden, stand da und sah ihn an. – »So ist es mir mein ganzes Leben lang gegangen«, sagte er. »Ich habe mich zwischen Stein und Hügel gesetzt. Man sitzt sicher da, aber nicht hoch.« Er schämte sich, als er dies gesagt hatte, und hätte gerne gesehen, daß sie lachte. Aber sie tat es nicht. Sie waren zu sehr allein im Wald.

Über ihnen leuchtete es golden und hell auf, von einem Felsgipfel zum anderen; und rings um sie waren alle Hügel mit rotem Laub und braunem Heidekraut bedeckt, und dazu gab es Wacholder und Felsen, Wacholder und Felsen; alles ruhte im guten Wetter und war festlich. Ola fragte, ob heute nicht Sonntag sei? Anetta lachte auch jetzt nicht; sie stand da und knabberte die Rinde von einem Zweig und schüttelte nur den Kopf. Dann warf sie die Gerte weg und blickte auf. Sie hat jetzt so zitternde schmale Augen und lächelt so nahe vor ihm, sie denkt gar nicht daran, von ihm wegzulaufen.

Ola lächelte, auch er, und seufzte:

»Ach ja, ja, so ist es. Man hat's nicht leicht im Leben.«

6

Sowohl am Tag darauf als auch später noch einmal war Ola nahe daran, nach Rönningan zu gehen. Aber dann ließ er es doch sein. Statt dessen mußte er nach Haaberg. Er wollte Aasel sehen, wollte sehen, wie es ihr jetzt ging und was sie vorhatte.

Als er sich mitten vor dem Hof des Tierarztes sieht, biegt er ab und geht durch den Garten, wie ein Pferd, das einen alten Weg einschlägt. Aber der Tierarzt und Arthur breiteten dort Dünger aus, und dies hätte schon längst geschehen müssen, die Büsche standen da und warteten. Ola blieb stehen und starrte sie mit einem leeren, kleinen Lächeln an, als habe er hier nichts zu suchen, es war so lange her, seit er etwas getan hatte.

Da ging er lieber ins Haus. Andrea war in der Küche, und jetzt kam sie, mit einem großen weißen Schurz angetan, herein. Auch sie hatte die Hände voller Arbeit, überall, wo er sich auch hinwandte, waren sie fleißig, als bekämen sie bezahlt dafür.

Er solle sich setzen, sie zeigte auf einen Stuhl. – Ja, danke, gerade zu diesem Zweck sei er hierhergekommen. Er wollte ausruhen; wollte dann nach Haaberg. »Bist du kürzlich dort gewesen?« Er blickte ihr ins Gesicht. – Nein, das war sie nicht. – »Und Aasel ist auch nicht hier gewesen?« – »Nein?« – »Nein, nein. Ich sitze nur so da und rede lauter Unsinn, wenn ich gerade guter Laune bin.«

Andrea war dicht zu ihm herangekommen, ihre Hände lagen auf dem Rücken seines Stuhles; sie sah nachdenklich aus. – »Wollen wir jetzt nie wieder versuchen, miteinander zu spielen? Du singst und ich spiele?« Ihr Gesicht überzog sich mit einer feinen Röte, als sie dies sagte, und Ola fühlte, daß er mit einem häßlichen Lächeln antwortete. – »Ja freilich, ja freilich, warte nur ein bißchen. Aber sag mir: hast du einen Brief aus Nordland bekommen?« – »Einen Brief? – Ja, übrigens, das habe ich, wenn du es wissen willst.« – »Was schreibt er denn?« – »Sie haben Unmassen von Heringen gefangen, schreibt er, und haben sie verkauft, solange der Preis noch gut war, und denen auf Segelsund seien die Netze zerrissen und sie haben alles verloren. Sie selber aber hätten ihre Sache gut gemacht, sagte er.« – »Ja, ja, so ist es. So ist es wohl.« – »Durfte ich denn keinen Brief bekommen?« – »Nein, rede doch nicht so dummes Zeug. Aber sagt er denn gar nichts? Erzählt er gar nichts?«

Andrea wachte auf und bekam einen helleren Blick, und Ola lächelte: »So kannst nur du dastehen und dich wundern, du, die mitten im Leben steht, mit dem Herzen schon oben im Hals, nur um eines halben Wortes willen.« – »Was sollte er denn erzählen?« – »Erzählen? Pah! Hör doch nicht auf mich! Ein verlebtes Mädchen muß doch geneckt und geärgert werden, man muß sie doch aufziehen, wie es heißt – und siehst du denn nicht, daß ich einen Blutsaugermund habe? Und die Aasel ist nicht hier gewesen, sagst du? Nein, du weißt, sie kann wohl auch nicht immer und ständig hierherkommen. Diesmal bin ich es, der dort etwas zu tun hat, und seht nur zu, daß ihr mich zur rechten Zeit wieder loswerdet.«

Andrea trat hinter ihm in die Gangtüre, und Ola nahm Abschied. Statt ihm zu antworten, sagt sie – ihre Stimme ist wie ausgedörrt:

»Es ist etwas los, Ola, etwas, was du weißt?«

Er schüttelte den Kopf:

»Ich wollte nur sehen, wieweit es Eindruck auf dich macht.«

Wie der Wind im Laub fuhr es über ihr Gesicht, und man sah, daß sie zugleich zweifelte und glaubte. Dann gab sie sich damit zufrieden, gleichwie ein Kind. – »Warte noch ein wenig!« bat sie – sie wollte auch mit nach Haaberg kommen.

Nicht lange darauf gingen sie beide auf dem Weg dahin.

Es blies ein Westwind, und der Himmel war grau. Kleine Regenschauer zogen über ihren Weg, liefen mit dem Wind um die Wette über Felder und niedrige Birken, und einmal war es so beißend herbstlich kalt und unfreundlich und gleich darauf wieder so von Herzen derb und gut. Dazwischen hinein kam der blaue Himmel im Nordwesten zum Vorschein und zeigte das gleiche streitbare Gesicht, man mußte sich ordentlich aufrappeln und die Schultern hochziehen, so wie gesunde Leute es machen.

So war auch Aasel heute. Ola saß übrigens nicht lange drinnen, er ging in die Kammer zum Vater. Jetzt konnte er so ruhig dort hineingehen, er brauchte keine Frage zu fürchten, die er nicht hätte beantworten können.

Kaum war Andrea mit Aasel allein in der Stube, so ging sie gerade auf sie zu und ergriff ihre beiden Hände:

»Du mußt mir offen sagen, Schwiegermutter, ob zwischen Peder und ihr in Juwika irgend etwas gewesen ist?«

Aasel verfärbte sich ein wenig, aber sie gab Andrea den Blick ruhig zurück.

»Sagt irgend jemand so etwas?«

»Nein, aber. Mir scheint nur so – – es war nur etwas, das ich – – und ich brächte es nicht über mich, ihn zu heiraten.«

»Du kannst ruhig sein, Kind. Es hat nichts gegeben, ich war selber kürzlich drüben.«

»Warst du?«

»Aus einem anderen Anlaß. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Mag doch lügen, wer will.«

»Gott sei Dank!« sagte Andrea.

Anders stand heute immer wieder auf. Manchmal sah es aus, als lausche er auf irgend etwas. Jetzt wendet er sich dorthin, wo Ola sitzt: – »Was meinst du wohl, daß sie jetzt in der Stube reden?« – »Die schwätzen und lügen sich allerlei vor, vermutlich.« – »Hm!« Anders richtete den Rücken auf: »So scheint mir auch. Daß auch Aasel auf diesen Weg getrieben werden mußte! Ja, ja, sie weiß es selber am besten – der hungert nicht, der teuer kauft. Aber es müßte doch auch verteufelt merkwürdig sein, wenn man versuchen wollte, ohne Lüge zu leben, he?« Verteufelt merkwürdig: zu sehen, wie das ginge! Gleichsam am anderen Ende anzupacken.« »Oh, bei ihr geht es jetzt ums Leben«, sagte Ola, und dann stand er auf und ging hinüber, er wollte sehen, was aus den Frauenzimmern geworden war.

Aasel hatte Andrea mit hinausgenommen und zeigte ihr nun alle Häuser.

Aasel hätte nie gedacht, daß sie so viel zu zeigen habe, und nie hatte sie gefunden, daß dieses Zeigen so viel Spaß mache. Jede Truhe und jedes Webstück von früher wurde zu einem kostbaren Staat, es wurde immer mehr, so daß es einen jeden überzeugen mußte; das war von jenen Jahren, und das hier von damals. Und ihr hatte es so davor gegraut, Andrea alles zu zeigen! So kann sich einer verrechnen; wenn einer voraus rechnen muß. Andrea sagte nicht viel, und Aasel fragte auch nicht. Viele Dinge gab es, von denen Andrea wenig begriff, sie gestand es sich selbst, und viele Dinge waren so schön und seltam, daß sie sie am liebsten gleich besessen hätte. Aber vor Aasel konnte man so etwas unmöglich sagen.

»Und jetzt feiern wir Doppelhochzeit«, sagte Aasel, sie stemmte die Hände in die Seiten. – »Trotz allem, ja«, fügte sie hinzu. »Denn ich habe genauer darüber nachgedacht. Ich wurde gleichsam gewarnt. Und dazu kommt, daß Gjartru so unvernünftig ist und das ganze Geschlecht herunterzieht, sie kennt ihren Weg nicht; sie muß gelenkt werden.«

Ola trat gerade bei diesen Worten hinzu, und jetzt mischte er sich ins Gespräch. – »Du solltest diesmal aber Ernst damit machen«, sagte er. »Laß die Stadtsitten nicht Herr über uns werden. Haaberg ist zu alt dazu.«

Aasel sah ihn an, fast entsetzt: »Sagst du das?« – »Weiß Gott, das sage ich. Ich will Leute sehen, die an irgend etwas glauben. Ich will jemand sehen, in dem ein bißchen Leben steckt! Haaberg ist eingeschlafen, scheint mir, und wie geht es dann mit der Gemeinde? Und du, Aasel, du kennst den richtigen Weg, du hast Augen für uns alle miteinander – ja, das ist wahr, jetzt in diesen Zeiten. Fast möchte ich dir danken!« Er senkte die Stimme ein wenig, es sang so tief und so von Herzen kommend, niemand hätte ihn wiedererkannt: »Ich hatte weiter keinen großen Glauben an Peder, das muß ich sagen. Ich glaubte, mit uns sei's vorbei. Aber ich seh jetzt ein, daß doch etwas in ihm steckt. Daß alles einen Sinn hat. Es ist nicht schwer zu leben, wenn man fühlt, daß hier etwas geschehen wird – du mußt ihnen einmal zeigen, was Haaberg ist, Aasel.«

Er redete noch lange, während sie von einem Raum zum anderen ging. Aasel wurde es eng um die Brust, gerade als müßte sie eben dort zweifeln, wo er am stärksten glaubte. Aber es mußte wahr sein, was er sagte, und noch mehr, denn wie sollte es sonst weitergehen? – »Jetzt, nachdem ich mich da hindurchgearbeitet habe«, sagte sie auf einmal im Weitergehen. »Jetzt, nachdem ich endlich einmal Gewißheit habe!« Dann richtet sie sich auf und sieht Andrea an. »Teuer, teuer!« lächelt sie vor sich hin. – »Ja?« sagte Andrea und blickt von einem Gegenstand zum anderen; das hier mußte teuer sein.

»Es ging so seltsam zu«, meinte Aasel, als sie an der Treppe standen und hinuntergehen wollten. »Ich begriff den Peder erst, ehe er wegfuhr. Er war so im Schuß – so merkwürdig. Ich erkannte mich wieder – erkannte den Vater wieder, will ich sagen. Ach ja, ja; es wird alles recht; wenn wir uns nur hinsetzen und warten, wie der Vater sagte. Wir auf Haaberg wissen ja, was not tut.«

Marjane, das kleine Mädchen, hatte sich ihnen zugesellt. Sie war schmächtig und weißblond; sie sprach fast kein Wort. Andrea ergriff ihre Hand, aber die Kleine zog sie heftig wieder zurück und blickte jetzt auf, bleich vor Wut:

»Der Peder will dich nicht haben, er jagt dich zum Haus hinaus, wenn er heimkommt!«

Andrea lachte laut und glücklich, und die anderen lachten mit; aber sie kamen nicht mehr ins Gespräch.

Als die Gäste abgezogen waren, ging Aasel zum Vater in die Kammer. – »Ich bin schon bald wie die kleinen Mädchen und krieche zu dir in die Kammer, wenn es dunkel wird«, sagte sie. Aber dort war eben der Platz, wo sie hingehörte, wie alles andere auch stehen mochte. –

Als Ola und Andrea sich trennten, nahm diese ihn fest bei der Hand.

»Ich danke dir für heute, Ola! Du hast so schön über Haaberg gesprochen.«

»Ja, nicht wahr? Darf ich heute nacht bei dir schlafen?«

Sie erschrak so sehr, daß sie ganz steif wurde und kein Wort zu sagen wußte; und dann lief sie durch den Garten hinauf und ins Haus hinein. Er hörte, wie sie die Türe abschloß, und da lachte er.


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