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Mit Blindheit geschlagen

Für Anders hatte sich in letzter Zeit alles überstürzt, und er war dankbar dafür. Es gab immer noch Zeiten zum Dasitzen. Trotzdem war es gleichsam, als wolle er sich nun zum Schluß beeilen, noch alles zu Ende zu bringen, und dann zur Ruhe kommen. Er wollte alles betrachten, was geschehen war, wollte sich das Unglück vornehmen und ein jedes Ding ansehen, wie es war. Und jetzt wurde es so seltsam still. Alles legte sich rings um ihn zur Ruhe. Er hörte den Sonnenschein, wie er draußen den ganzen Sommertag in der Luft stand. Er hörte den Wind, wie er über Dächer und über alle Berge wehte. Er konnte das alles auch sehen, wenn er nur die Augen schloß: das Feld neigte sich unter dem Wind, wogte dunkelgrün und hellgrün, dunkelgrün und hellgrün; und jetzt packte der Sturm die Laubkronen der Birken und stülpte sie ihnen über den Kopf, sie standen da auf weißen, krummen Beinen und kämpften dagegen an, waren so herzlich beschämt, wären am liebsten in die Erde versunken.– Aber sonst geschah hier nichts, meinte er. Es war Schluß und zu Ende mit allem; die Welt lag da und ließ die Zeit über sich hingehen, wie den Wind über die Berge.

Und rings um ihn lag alles zusammengestürzt, woran er gearbeitet hatte. – »Da liegt es, und hier sitze ich«, sagte er. »Das, Anders, das verstehst du nicht. Dazu reichst du nicht aus!« Es war merkwürdig, sich so etwas selber ins Gesicht zu sagen; er hatte dies nie zuvor versucht. – Nein, aber es war doch etwas Herrliches, wie es ihn vorwärtsgetragen, damals, als er den Wind im Rücken hatte. Wie er gesagt hatte, der Kristian Lauvset: »Du hast das Deine getan, Anders.« Wenn er bei diesem Gedanken angelangt war, fing Anders meistens an, in der Kammer auf und ab zu gehen, und wenn niemand in der Stube war, so ging er auch gern einmal dort hinüber. – »Aber nun darfst du auch nicht vergessen, Anders, daß sie sich viel von dir erwartet haben. Und das Größte, das erwarten sie jetzt. Denn hier sollst du sitzen, Mann, und sollst so sitzen, daß man davon reden muß! Die, die vor dir waren, die fuhren in der gleichen Rinne wie du, aber dann schliefen sie ein und waren weg. Und dein Vater, der hatte dich; er konnte aufwärts blicken, der. Du mußt dasitzen und abwärts blicken, in den schwarzen Abgrund. Ja.«

»Ja, die Leute«, sagte er, und er setzte sich hin und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Die ganze Zeit glaubte ich, sie sehen zu mir auf, so daß sie ganz helle Augen bekamen. Ja, du liebe Zeit. Jetzt sehe ich ihr Gesicht; und es ist auch nicht mehr zu früh dazu. Denn es war ganz unglaublich, wie es dich hinauftrug, Anders, du kannst das nicht leugnen. – Und wie ist es nun, was meinst du? Wäre es nicht ihretwegen, dann würdest du wohl hinaustappen und dir einen Strick und einen Balken suchen. So aber mußt du lieber ruhig hier sitzen.«

Sie hörten oft, wie er mit sich redete, und ihnen war dies lieber, als wenn er schwieg. Es ist so eine Sache, einen Blinden, der keinen Laut von sich gibt, allein in der Kammer sitzen zu haben. Sie sahen einander oft an, Aasel und Gjartru, nur einen kurzen Augenblick und ohne etwas zu sagen; auf andere Art redeten sie nicht über ihn.

Aber bisweilen saß er still auf dem Bett und beugte sich vor. Das war immer dann, wenn er am stärksten sah.

Am häufigsten und klarsten sah er den Per. So kam er und so ging er und so war es, er zu sein. Wie damals, als er hinging und sich verheiratete; jetzt erst sah Anders es vor sich: Per hörte, daß der Vater auf dem Hof dort gewesen war und von der Heirat geredet hatte, dies war ein Versprechen, und ein solches Versprechen brannte dem Per auf der Seele – die Leute sollten sich nicht etwas erwarten, was sie nicht bekamen. Und dann, daß er nicht Lensmann werden wollte: wenn man ihn von innen her sah, so verstand man, daß es für ihn unmöglich war. So sah die Welt für Per aus. Wie jetzt für Anders. So ist sie wohl, wenn man keinen Auftrieb in sich hat – den hatte Anders verbraucht. Anders konnte bisweilen laut aufstöhnen, es kam vor, daß er die Hände ballte:

»Es ist falsch, daß du ihn mir genommen hast! Falsch gedreht und verkehrt gewendet!«

Aber er rief es nur in den leeren Raum und in die Sinnlosigkeit hinaus. Er lauschte, bis ihm das Herz zu stocken drohte. Nein, es gab keinen Widerhall. Gab keinen, der hörte – der antworten konnte.

So sah er sie vor sich, einen nach dem anderen. Kristian Lauvset lachte ihm freundlich in das blinde Gesicht und lobte ihn; denn jetzt war er drunten und gezüchtigt; die ganze Gemeinde machte es so. Aber sie waren so weit fort; mit jedem Tag, der verging, wurde die Entfernung zwischen ihnen größer, sie konnten ihn nicht einmal mehr anspucken. Es tat weh, so gut zu sehen! Dazu war die Welt nicht geeignet.

Dann oft wieder wachte er auf und schob alles von sich. Denn so sollte man nicht dasitzen und sich und die anderen abmessen. Ihm schien es, als halte ihn dann die Welt nur zum Narren: Die Hügel saßen auf ihren Händen und grübelten, die Berge lagen mit der Hand unter dem Kinn da und grübelten, das Moor lag auf dem Rücken und blickte zum Himmel auf, es tat so, als grüble es ebenfalls mit. Anders spuckte aus und lachte leise: Ich kann euch schon sehen! Es gab viel Seltsames in der Welt, ja, und er gehörte mit dazu.

Der Herbst kam gesegelt, und nach ihm der Winter. Sie sahen zu Anders hinein, als sie vorbeikamen, wunderten sich, was ihm wohl widerfahren war. Er erkannte sie wieder, die Tage, sie waren früher hier gewesen, aber damals hatte ein anderer Ton in ihnen geklungen. Das Wetter verfolgte er genau, wie nie früher; das war nicht seine Sache gewesen. Jetzt heulte der Sturm von Westen herauf; bald sprang er nach Norden um, dann bekamen sie Schnee; in dieser Nacht ist er unterwegs und richtet Schaden an. Du meine Güte, jetzt schmeichelt sich die Sonne bei den Menschen ein, Gott mag wissen, was sie so warm macht, der Schnee leuchtet auf und lacht wie ein treuherziges Kind, der Nadelwald wird jung und macht sich so grün, ganz grün.

Eines Tages kam der Pfarrer zu ihm. Es hatte sich in letzter Zeit solch ein Ernst über den Pfarrer gelegt, er war ein Prediger geworden, der sich ins Zeug legte, sagten die Leute; und das tat gut, sagten sie. Die Andachtsstube wurde zur schönsten Kirche.

»Woran ich denke, wenn ich so dasitze?« sagte Anders. »Ich sitze da und sehe. Dich und mich und was mir vor die Augen kommt.«

Es käme doch hauptsächlich darauf an, daß man das eine sehe, was vonnöten sei.

»Was ist denn das für ein Ding?«

»Wir haben eine Seele, Anders.«

»Ja, das brauchst du mir nicht zu erzählen!«

»Und wohin kommt sie nach dem Tode, was glaubst du?«

»Weiß ich es?« Die Seele, die war die Gestalt, in der der Tote weiterlebt, und eine solche hatte er gesehen, erzählte er; damals, als der Großvater starb, stand ganz deutlich einer am Fußende des Bettes. Einer von den Alten vermutlich.

»Einbildung!« sagte der Pfarrer. »Aberglaube!«

»Ja, wahrscheinlich.« Aber hatte der Pfarrer gelesen, was in der Heiligen Schrift stand, daß Abraham zu seinen Vätern versammelt wurde?

Der Pfarrer stand eine Weile ratlos da, nahe daran zu lachen; dann aber wurde er wieder ernst. Er predigte, so daß ihm die Lippen bebten und die Leute im Hause stehenblieben und lauschten. Anders legte die Hände zusammen und lauschte ebenfalls.

»Ja, das ist sehr schön«, sagte er, als der Pfarrer ein wenig verschnaufte. »Du bist jetzt auf dem rechten Weg. Und das ist gut. Die Leute haben so einen wie dich bitter notwendig.« Er schüttelte den Kopf leicht und langsam und seufzte. »Die Leute sind blind«, sagte er. »Sie sehen nicht die Hand vor den Augen. Nur ich allein kann sehen. Da ist es gut, wenn sie ein bißchen etwas glauben; ohne das könnten sie nicht leben. Ich habe auch nicht so wenig geglaubt, als ich noch mit dabei war im Leben; ich war ein ganzer Kerl im Glauben.«

Aber glaubte er denn jetzt nicht mehr?

Nein. Was sollte er denn glauben?

Glaubte er auch nicht an Gott etwa?

Nein. Denn den gab es nicht. Nur schwarze Leere, wohin man auch blickte. »Du darfst es mir glauben, Pfarrer! Aber das ist wahr: es war großartig, wie er mich unterstützte, damals, als ich ihn in der Hinterhand hatte. Aber ich habe ihn selbst gemacht. Ich sehe es so deutlich jetzt. Oh, ich sehe vieles!«

»Ja, aber, und dieses Geschöpf, das unter deinem Bett lag, weißt du noch?«

»Unsinn und Gewäsch!« Anders senkte die Stimme: Er hatte mit roter Kreide ein Kreuz unter das Bettbrett gemalt, und davor riß es aus! Da konnte man sich wohl ausrechnen, daß es nichts mit ihm war. Es gibt keinen, auch keinen solchen. Hier im Haus schlich sich nachts immer etwas herum, er konnte es wohl hören. Aber es waren nur die Gedanken, die herumtappten und wanderten. Die Welt war leer.

Er hob wieder die Stimme: »Aber es ist nicht jedermanns Sache, so dazusitzen und dem in die Augen zu sehen – Gott behüte dich, Pfarrer!«

»Daß es mit dir so enden sollte, Anders!«

»So kannst du sagen. Aber wer sollte es denn sein, wenn nicht ich? muß ich schon fragen. – – – Mir ist die Seele blankgescheuert worden!«

Der Pfarrer seufzte und fragte, ob er ihm aus der Bibel vorlesen dürfe.

»Hat keine Eile, hat keine Eile!« Es tat so gut, mit einem Menschen reden zu können. Nicht etwa, weil ein Gotteswort nicht schön sei, wenn es auf die rechte Art vorgelesen würde; und er wollte gern, daß die Kinder daran glaubten. Die Aasel, die sei nicht so ohne in der Art. Es sei gewissermaßen eine Zukunft in ihr. Aber die Menschen seien blind, wie gesagt. – »Herr, du mein Gott, wie blind war ich, als ich noch in der Welt draußen umherging. Das war es, was mich so unwiderstehlich stark machte. Wenn du betrunken bist, so kommst du vorwärts, und sei es auch noch so unwegsam. He! Welche Eile saß doch in mir, ich sprang über Hecken und Zäune – hast du einmal versucht, recht rasch zu reiten? Du jagst nur und jagst dahin, bis das Pferd mit dir fliegt, aber die Geschwindigkeit macht dich wild und verrückt, du schließt die Augen und rast weiter, du meinst, du kommst nicht vom Fleck – das ist das Leben! Ja, aber schau, das versteht ihr nicht, keiner von euch, nein. Die ganze Zeit mußte ich weiter und weiter vorwärts. Hierher mußte ich. Hierher mußten wir, ich und die Meinen. Jetzt kommt eine neue Elle dran.«

Anders wartete, ob der Pfarrer etwas zu sagen wisse; der aber schwieg, und Anders fuhr wieder fort.

Jetzt sah er, ja, seufzte er, das Gesicht in die Hände gelegt. Und jetzt konnte er sich nie mehr aufmachen und etwas ausrichten. – »Der Per, mein Sohn, er war einer von denen, die sahen, der arme Bursche. Ich habe übrigens das Meine getan, möchte es nicht mehr hergeben. ›Aller Augen warten auf dich‹, hast du diese Worte gelesen, Pfarrer? Und mich dünkte, als hätte ich die Alten stets bei mir, wahrhaftig, so dünkte mich. Die Sippe, verstehst du, die in mir steckte. Der Herrgott, wie gesagt, der ist seiner Wege gegangen. Aber ich hörte, wie er über mich lachte, an dem Weihnachtsabend, du weißt, als ich über den Berg lief und heimkam – nein, das war zur Zeit des anderen Pfarrers. Daran habe ich gedacht in letzter Zeit. Es muß wohl der Mann selbst sein, der in uns befiehlt; gleichgültig, wie du ihn nun nennen willst oder nicht. – Denn ich hatte damals so halb und halb einem Menschen das Leben genommen. Der Pfarrer hat wohl von der Solvi reden hören? Nicht? Übrigens, ich hatte nur das getan, was die Sippe von mir verlangte, ich, und habe sie dorthin gejagt, woher sie gekommen war; anders war ich eben nicht in jener Zeit.«

Anders schwitzte, wie er so dasaß; und die Stimme war leise und singend, gleichsam aufgetaut, ein neuer und weicher Klang:

»Sie stammte von Lappen, die Ärmste, das war es; sie konnte hier nicht sein. Und dann prasselte der Steinrutsch zu ihr ins Boot hinunter. Und ich, ich konnte es nie ins reine bringen, ob ich ein Mörder war oder ein Mensch, und heute noch fühle ich, wie es mich quält und peinigt. Da lachte er mich aus, ich höre es noch. Ja, ich weiß nicht: Vielleicht höre ich es erst jetzt; das kann wohl sein, damals hörte ich wohl nicht so viel.«

»Gott ist es, der dich ruft, Anders!« sagte der Pfarrer warm.

»Aber ich mußte wohl so handeln, wie ich gehandelt habe – ich mußte Ellbogenfreiheit haben! Ja.«

»Ja, aber – –«

»Unsinn!« sagte Anders und schlug mit der Hand durch die Luft. »Nein, der Per, der hat das Richtige gesehen, der; es war seltsam mit dem Buben. – Es geht den Weg, den es will, sagte er. Er starb gewiß zur rechten Zeit, trotz allem. Wie hätte er durch die Welt und durch alles durchkommen sollen, so wie er war? Er hätte nie den richtigen Auftrieb bekommen; die Sippe vermochte nichts mehr. Denn es geht den Weg, den es will, jetzt weißt du es.«

»Ja, wie kannst du aber so fest davon überzeugt sein, wenn du sogar Gott verleugnest?«

»Ich verleugnen? Eher verleugnet wohl er mich! Aber genug davon. Zwischen ihm und mir ist ein so weiter Weg.«

»Aber warum hat dir denn das Schicksal dies gesandt, Anders?«

»Ja, schau, das kannst du nicht wissen. Dazu reicht's bei dir nicht aus, Kind! Aber hier sitze ich. Und kahl und leer ist es rings um mich, ja. Man könnte zu Eis werden.«

»Bete um – – bete um Geduld!« Der Pfarrer war bleich und gerührt; er wollte etwas sagen, das helfen konnte.

»Nicht nötig, Kind. Ich bin geduldig, ich. – – Aber der Herrgott, wie du ihn nennst, muß mich wohl trotzdem ganz gern gehabt haben. Das ist nun mein Glauben.«

Anders lachte herzlich, und der Pfarrer schüttelte den Kopf.

So saß Anders in der Blindheit da und sah, Jahreszeit um Jahreszeit und Jahr um Jahr. Er blickte zurück, sah, wie das Geschlecht dalag, ein lebendiges Tau mit vielen Knoten. Zuinnerst lief der Markfaden; er war hart, und er war blank. Jetzt war das Tau bis ganz zu ihm hinein abgewetzt. Er blickte um sich, wo alles ohne Steuer und verkehrt war; wo die Menschen in Blindheit umhertappten und vorwärts wollten – keiner wußte, wo er hin sollte. Es müssen ihrer immer viele sein, wenn man glauben soll; und ihrer waren viele. Aber das, was sie glaubten, war nur ein Nebel, in dem sie herumtappten; oder wie eine Bettwärme, in der sie zeugten. Nichts saugte an ihnen und riß sie mit sich; und sie konnten auch nicht ihr Brot über das Wasser fahren lassen und warten. Er sah in die Zukunft und in die Tiefe hinunter, in der das Geschlecht versank und verschwand und wo andere Geschlechter aufschössen und von neuem anfingen. Er glaubte, er würde eines Tages so weit kommen, daß er darüber lächeln könnte wie ein Mann über ein Kind.

Petter kam wieder in die Gemeinde heim, und eines Tages besuchte er Anders. Sie saßen beieinander und redeten über vielerlei. Anders hörte den Lumpen und die Armseligkeit aus ihm heraus wie früher, und er sah es vor sich: so hätte man auch selber werden können. Aber nun war es also der andere geworden.

Anders war der Meinung, daß Aasel ein neuer Schößling war, und darum wollte er dasitzen und sehen, wohin dies führte. Sie war stark und mutig, denn sie war blind genug und gläubig genug. Sie war so dumm und gut, wie sie nur sein konnte. Vielleicht wurde sie die Mutter von etwas Neuem. Sie würde sich mit dem Leben herumstreiten, daß es Funken gab. Aber die Sippe war verurteilt und sollte unter die Erde.

Denn die Geschlechter gingen ihren Weg, ebenso wie die Wellen, sie mußten zum Strand und sich dort zermahlen.

»Amen!« sagte er, und darin schien ihm die Gottesfurcht eines ganzen Mannes zu liegen.


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