Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Laß dein Brot über das Wasser fahren

1

Am nächsten Tag nahm sich der Vater Gjartru vor. Er bat sie in die Kammer und schloß die Türe. Dies ging so feierlich vor sich, daß das Mädchen zugleich heiß und blaß wurde.

Und Anders mußte sich über sich selber wundern. Es war in ihm und rings um ihn so still geworden. Nie hatte er soviel zu regeln und zu ordnen gehabt wie jetzt, eine Sache nach der anderen kam geradeswegs auf ihn zugesegelt, es kam, wie Wellen kommen, die aufs Land zurollen, jetzt würde auch bald das Große selbst zu ihm kommen. Aber er hatte solch eine neue Ruhe in sich. Er hätte gut irgendwohin abseits gehen und sich hinsetzen können und ihm entgegensehen.

Gjartru fürchtete sich vor dieser Kammer, sie fühlte sich in ihr wie in der Kirche, und heute war es ganz besonders erstickend. Sie blieb mitten im Raum stehen und wartete. Der Vater stand am Fenster und sah hinaus, die Hände auf dem Rücken, und dies schien ihr das Schlimmste zu sein, was er tun konnte. – Ob sie in letzter Zeit mit Aasel geredet habe? fragte er. – Mit Aasel? Ja, das hatte sie wohl. – Das sei ein merkwürdiges Kind, fand er. Wie? Ging sie nicht etwa hin und verschlief ihr Leben dort auf Paalsnese, he? – Gjartru lachte ein wenig: »›Laß dein Brot über das Wasser fahren‹, sagt Aasel.« – »Brot über das Wasser fahren?« – »Nein, sie meint nur, daß sich mit der Zeit wohl alles wenden wird.« – »O woher doch, so denkt sie nicht. ›Laß dein Brot‹, ja – so steht es irgendwo. Sie denkt tief, das ist wahr. He! Sich still hinsetzen und darauf warten, daß man es wiederbekommt …« Lange Zeit blieb er so stehen und sah hinaus. – »Aber wie verhielt es sich denn mit dir? Im Herbst mit dem Hall?«

Gjartru wurde dunkelrot bis unter die Haarwurzeln, und jetzt war sie froh, daß er ihr den Rücken zuwandte.

»Wir waren doch verlobt«, sagte sie.

»Verlobt, ja. Danach frage ich nicht. Ist es wahr, was man sich erzählt? Von dem Heuschuppen und dem übrigen? Der Petter soll euch dort gefunden haben.«

»Pah! – – Im übrigen aber, es ist wahr, wenn Ihr es wirklich wissen wollt!«

Er wandte sich um. Er sah sie erstaunt an, und sie gab ihm den Blick gerade zurück.

»Ja, ja, also. Und jetzt tragen sie es dem Lensmann zu. Was sagst du dazu? Oder soll ich es ihm erzählen?«

Sie blinzelte ihn rasch und streitlustig an, der Mund zog sich zusammen und wurde ganz hart; aber dennoch sah es aus, als fühle sie eine süße Sehnsucht oder ein Glück, und als sei sie im Begriff, alles andere zu vergessen. So war sie, traf es ihn: sie sah einen wie ein Juwikinger an und war dennoch wildfremd im Blick.

»Ich war ja doch schließlich nicht vergoldet!« sagte sie, und das Lächeln zitterte zwischen Weinen und Scherz.

»Still, du!«

»Und überhaupt – – ich werde es ihm schon selber erzählen. Wenn's einmal soweit ist.«

»Bist du von Gott verlassen, Kind?«

Er bedeutete ihr mit dem Kopf, daß sie gehen könne. Und er schüttelte den Kopf noch lange danach, wußte nicht, ob er fluchen oder lachen sollte. Und so war sie eben. Und sie würde wohl gut genug sein für den Lensmann, das wollte er meinen. Es dem anderen selber erzählen, ja, das gerade sollte sie. Da würde er auf jemand treffen, der ihm ebenbürtig war.

Jetzt war dies überstanden, und jetzt wollte Anders geradeswegs nach Rönningan gehen und seinen Bruder fortjagen. Aber erst aß er noch ordentlich zu Mittag, und dann ging er hinaus auf den Acker und sah nach, wie geeggt wurde, damit sie ihm nicht nur mit der Hasenpfote über die Erde fuhren. Dann ging er in den obersten Dachraum hinauf – er hatte sich einen obersten Dachraum eingebaut wie im Pfarrhof –, suchte in allem möglichen Gerümpel und fand endlich einen alten Ochsenfiesel mit einer Bleikugel daran; in alter Zeit hatte ein Zigeunervogt auf Haaberg gelebt, und das war seine Waffe gewesen. Anders wog sie in der Hand, schwang sie und schlug mit ihr leicht zu, versuchte, ob sie noch hielt. »Das ist wahrhaftig eine ganz unchristliche Waffe, das da«, lachte er vor sich hin. »Jetzt jag ich ihn gründlich zum Teufel; jetzt sind sie alle beide da, die Zeit und der Mann dazu!«

Damit stieg er hinunter, schlüpfte in den Sonntagsrock und machte sich auf den Weg.

Aber er kam zu spät. Kjersti konnte erzählen, daß Petter schon frühzeitig am Tag fortgegangen war, zum Anstreichen oder irgendwohin, er war weit fortgegangen.

»War der Per gestern abend da?« – »Ja, er war da.« – »Das kann ich mir denken.« Anders stand da mit dem Ochsenfiesel in der Hand, fuhr sich mit der anderen durchs Haar: »Das war Pech, verflucht noch einmal. He!« Dann sah er Kjersti ein wenig genauer an. Sie schien weder froh noch böse. Er räusperte sich, und auf seinen Wangen flammte es rot auf: »Ich muß einmal den Jungen ein oder zwei Tage herüberschicken, mit den Pferden; hier ist noch nicht viel getan von der Frühjahrsarbeit, soviel ich sehe.«

Anders mußte seine arge Waffe nehmen und wieder heimgehen. Je länger er ging, desto merkwürdiger war es, an Per zu denken: Der mußte aus einem seltsamen Holz geschnitzt sein. Ein Tor und ein Narr, das ist wohl wahr, aber doch auch ein richtiger Kerl; weit über alle anderen in der Gemeinde hinaus. – Ehe Anders heimkam, dankte er dem da oben dafür, daß es so und nicht anders gegangen war. »Ich habe nun einmal das Glück auf meiner Seite, das merke ich« – er war so voller Verwunderung, daß er stehenbleiben mußte.

Auch daß Per nicht Lensmann werden wollte, war ein Beweis dafür: Jetzt war Gjartru versorgt, soviel er sah, und der Per, der würde Bürgermeister in der Gemeinde werden, gleich nach dem Pfarrer würde er seinen Platz haben, auf diesen Punkt hin lief alles zusammen! Und das war es auch, wozu er taugte. Denn er, der die ganze Gemeinde am Zügel führen soll, darf kein Juwiking sein, aber auch kein armer Tropf. Dazu gehörte einer wie der Per. Nicht zu eigenwillig und auch nicht zu schwankend; es mußte ein rechtschaffener Mann sein. Zeigt mir einen, der ein Lensmannsamt zurückweisen kann – den möchte ich sehen!

Anders schien es, als erblicke er etwas Neues vor sich und etwas Fremdes, das ihn förmlich durchkühlte: eine neue Art Menschen, die sich ruhig hinsetzen und darauf warten konnten, daß das Rechte geschehen würde, wenn sie das Ihre getan hatten. Genau so, wie er es vor sich gesehen hatte, als er heute an die Aasel dachte. Er sollte ihnen nur den Weg bahnen, aber mein Gott, welch einen Weg! »Verzeih mir die Sünde!« sagte er, denn er glaubte, er habe jetzt wieder geflucht.

Er machte einen Bogen und kam von Vaagen heim, so daß die daheim nicht wissen konnten, wo er gewesen war.

Und jetzt sollte es geschehen. Diese Haut vor den Augen sollte weg, er mußte notwendig sehen, von nun an. Und jetzt hatte er den rechten Mut dazu. Er blieb stehen und überlegte. Er war ruhig, wie er es früher gewesen war, sein ganzes Leben lang; und dennoch fühlte er, daß es eilte, das Leben stand gleichsam da und wartete auf ihn; das ganze Werk war ungetan und stand noch bevor; es saugte an ihm, aber es beunruhigte ihn nicht. Jaha, jetzt würde er bald die Welt so sehen, wie sie war.

Die Männer schafften draußen auf dem Feld, und die Frauen waren von ihrer eigenen Arbeit in Anspruch genommen, es paßte also gut. Er ging hinüber ins Brauhaus und wärmte sich einen Topf mit Teer, machte ihn ziemlich heiß; dann wärmte er eine kleine Schüssel mit Tran und stellte sie bereit.

Draußen im Hof ringsumher war es feiertäglich still, während er damit beschäftigt war. Die Fliegen sangen an der Wand, und die Vögel zwitscherten das Ihre: der Regenpfeifer schrie unten auf dem Moor, und von Zeit zu Zeit hörte man einen Ruf, wenn die Männer unten auf dem Acker über die Pferde fluchten, alles war so seltsam weit fort, draußen in einer anderen Welt. Anders hob lauschend den Kopf: es war so merkwürdig still. Aber er hatte anderes vor.

Jetzt war der Teer warm genug, gerade recht, so wie er ihn zu Wunden gebrauchte. Und jetzt sollte es geschehen. Er tauchte den Finger in die Flüssigkeit und fühlte: so war es nun gerade recht, und es war ein feiner und vertrauenswürdiger Teer. – Wer doch jetzt ein paar gute Sprüche darüber sagen könnte, meinte er. Er lächelte, während er dies sagte, wie blinde Menschen oft tun; aber er wünschte es doch. Denn in dieser Stunde hatte er einen festen Glauben an alles, was es auch sein mochte.

Aber es brach ihm der Schweiß aus.

Er sieht durch die Tür hinaus, ob ihm jemand in die Quere kommen könnte. Nein; es war so, wie er es selbst nicht besser hätte einrichten können, und jetzt nahm er seine Töpfe und lief damit über den Hof und in die Kammer hinein. Wieder fühlt er, wie warm der Teer ist. Steht dann eine Weile am Fenster und blickt hinaus, hinunter über Wiesen und Äcker, wo das Grün schon aus dem moosigen Grund hervorlugt. Die Hügel schwimmen in lichtblauem Nebel unterm Himmel dahin, so sind sie sein ganzes Leben lang gewesen, jeder Rücken und jeder Einschnitt ist zu finden, und der Wind bläst frühlingskalt und streitlustig über sie hin, und sie machen sich rund und sonnen sich und lassen sich die Wärme gefallen; es ist gleichsam, als führe Anders nach rückwärts durch die Zeiten zurück, während er dasteht und hinausblickt. Und nichts als Sonne und Wolken, Sonne und Wolken – es ist die Kindheit selbst, die ihm entgegenscheint.

»Ja, aber jetzt!« sagte er und wandte sich ab. Die Stimme wurde laut und sang: »Wenn ihr mir wohlwollt, dann müßt ihr jetzt nahe sein und mir beistehen!«

Immer wieder mußte er sich den kalten Schweiß von der Stirn wischen. Aber es war leicht zu atmen.

Dann tat er es: Er schmierte den warmen Teer mit den Fingern auf die Augen, auf den Augapfel selbst, so gut er es zuwege brachte; er rollte die Augen nach allen Seiten hin, damit er seiner Sache ganz sicher sein konnte. Der Rücken krümmte sich und die Knie wurden weich, aber er ließ nicht nach, bis er fertig war. Dann setzte er sich auf den Bettrand.

»›Das war mir aber eine Brautnacht‹, sagte das Mädchen«, murmelte er. Na, das konnte man gehörig spüren. »Aber Böses muß mit Bösem vertrieben werden! Ja, ja; das wird schon recht. Wirf dein Brot …«

»Massi, Massi!« stöhnte er eine Weile später, er wußte kaum, was er sagte. Dann war es an der Zeit, den Tran darauf zu schmieren. Er tastete nach dem Lappen und fuhr sich über die Augen. Dies milderte den Schmerz nicht wenig, Anders brachte es sogar fertig, den Topf und das übrige zu verstecken. Schließlich saß er auf der Bettkante und wiegte den Körper hin und her, und dazu flüsterte er in einem fort:

»Wenn ihr mir wohlwollt, dann muß es sich jetzt zeigen!«

Als die übrigen am Nachmittag Anders suchten, war er krank und lag zu Bett, und sie hatten so viel Verstand, ihn in Frieden zu lassen. Gjartru ging am Abend wieder zu ihm und erkundigte sich. Der Kopf tue ihm ein wenig weh.

War ihm die Sache mit ihr so nahegegangen? Sie wunderte sich darüber, während sie ein Tuch umlegte und hinausging. Draußen blinzelte sie Beret zu und machte sich heimlich auf den Weg nach Osten hinüber. Denn es war solch ein betäubender Vogelsang drüben im Wald, die Drossel saß in jedem Baumwipfel und lockte; dies war kein Abend, an dem man zu Hause sitzenbleiben konnte. – Man konnte heilfroh sein, daß man kein Bauernweib war, trotz allem.

2

Die Muhme Ane auf Paalsnese fiel rasch ab. Als Aasel an jenem Abend von Haaberg heimkam, stand der neue Knecht vor der Türe und wartete auf sie. – »Sie ist wohl elend dran, die Alte da drinnen«, sagte er, »ich hörte, wie sie jammerte, und da ging ich zu ihr hinein. Aber ich bekam keine Antwort von ihr.« Aasel ging rasch ins Haus, erst später wurde es ihr bewußt, daß er hier gestanden hatte.

Für Aasel gab es in dieser Nacht keinen Schlaf, und auch in keiner der nächsten Nächte; denn die Alte ließ ihr keine Ruhe, mußte in einem fort gedreht und gebettet werden und seufzte und jammerte dabei wie ein kleines Kind. Kein anderer als Aasel durfte sie anrühren, und sie duldete auch nicht, daß das Mädchen schlief. Es war übrigens vorher nicht viel besser gewesen in den letzten Jahren, so daß Aasel schon ganz daran gewöhnt war.

Als Ane merkte, daß es mit ihr zu Ende ging, sammelte sie ihre ganze Kraft, nahm Aasel bei der Hand und versuchte, ihr durch den Todesnebel fest in die Augen zu blicken:

»Eines mußt du mir versprechen, Aasel, wenn du Frieden vor mir haben willst.«

»Du weißt, daß ich alles tue, was du willst, Muhme.«

»O nein, darauf ist kein Verlaß! Du hast es ja nur auf mein Geld abgesehen. Aber einen schönen Leichenschmaus sollst du für mich halten, hörst du. Und dann sollst du von meinem Geld dem Pfarrer einen neuen Talar machen lassen, aus reiner Seide – ich habe solche Angst! Versprich mir das, Aasel!« bat sie kläglich.

Aasel mußte es mehrere Male versprechen, und beim letzten Mal sogar, daß sie dicke Seide zu dem Talar verwenden wollte – die Muhme hatte solch unsagbare Angst! – Dann wollte sie, daß Anders käme, und Aasel schickte nach ihm; aber sie bekam zur Antwort, daß es auch um ihn schlecht stünde, er liege zu Bett, habe irgend etwas Schlimmes im Kopf.

Da war Ane bereits so weit, daß sie nichts mehr von sich wußte, und Aasel war davon so in Anspruch genommen, daß ihr kaum zum Bewußtsein kam, was sie über den Vater erfahren hatte. Sie kämpfte eine Nacht zu Ende, die sie nie vergessen würde. Von den Besitzern des Hofes bekam sie nichts zu sehen; die hatten zu Lebzeiten der alten Austräglerin zum Überdruß genug von ihr bekommen und wollten jetzt nicht sehen lassen, wie froh sie waren. Später schien es Aasel, daß sie es nicht mit heilem Verstand hätte überstehen können, hätte sie nicht wenigstens einen Menschen in der Nähe gehabt, und das war der Knecht gewesen. Er kam ein paarmal an die Türe, sagte jedoch kein Wort, sondern war nur da, und in der Zwischenzeit glaubte sie, er säße draußen in der Küche. Gegen Morgen war er wieder da, brachte ihr Kaffee. Aasel trank nie Kaffee, sie fand, er schmecke so schlecht, aber der Knecht zwang sie zum Trinken, und da tat der Kaffee wehmütig gut, wie sie sagte.

Nicht lange darauf war es zu Ende. Aasel war bis in die Haarwurzeln hinauf eiskalt und fühlte nicht mehr den Boden unter sich, aber sie biß die Zähne zusammen, legte den Finger auf die toten Augenlider und drückte diese zu, schob der Toten das Gesangbuch unters Kinn, und dann lief sie, von Entsetzen gejagt, zur Stube hinaus und geradeswegs in die Arme des Knechtes, der in der Küche draußen gesessen und geschlafen hatte. Sie erfaßte seine beiden Hände und wußte es nicht.

Sie standen draußen vor der Tür in dem hellen Frühlingsmorgen, und die Sonne ging auf, und die Stare pfiffen oben auf dem Dach, und die Drosseln drüben am Waldrand fingen an, eine über der anderen, bis es ein rieselnder Bach von Frühlingslauten war.

Aasel bekam es nicht viel leichter, als sie endlich ausgeschlafen hatte. Sie arbeitete so, daß ihr schwarz vor den Augen wurde. Aber sie achtete dessen nicht. Es war eine sechzehnjährige Gefangenschaft gewesen, der sie jetzt entronnen war. Sie hatte ihre Last getragen, hatte alles verloren, was sie verlieren konnte, so schien es ihr – an all die Mühe dachte sie nicht einmal –, und jetzt war sie frei und fertig. In diesen Tagen dachte sie nicht an das Geld, obwohl dies nicht wenig für sie zu sagen hatte. Erst als sie das Schlimmste geregelt und in Ordnung gebracht hatte, fiel es ihr ein, und jetzt wollte sie sich daran machen und den Schlüssel hervorsuchen; jetzt war es doch wohl nicht mehr zu früh? Aber da trifft sie wieder auf diesen Knecht, er ist draußen im Holzschuppen und hackt Holz für sie. Er umarmte sie ohne jede Umschweife, so wie sie wußte, daß sie es trieben, die jungen Burschen. Sie wurde wütend und riß sich von ihm los, da aber blieb er stehen, so ratlos und verzagt, daß sie sich nicht zu helfen wußte und wieder ins Haus hineinlief.

An diesem Abend kamen Per und Gjartru zu ihr, und jetzt erst wurde es ihr klar, daß diese lange damit gezögert hatten. Nicht wegen der Hilfe: Aasel hatte nie daran gedacht, sie um Rat zu fragen, wie alles getan und geordnet werden sollte; aber es mußte doch wohl daheim etwas nicht ganz in Ordnung sein, wenn sie jetzt erst kamen. Sie fragte nicht.

Ja, es war also der Vater. »Es steht nicht recht gut um ihn, nein«, sagte Per. »Er hat Schmerzen in den Augen. Gott mag wissen, was mit ihm ist.« – »Aber es vergeht wohl wieder, wie alles andere auch«, meinte Gjartru, sie war so jung und froh.

»Und jetzt bist du ja ein reiches Mädchen, du«, sagte sie und blickte Aasel von oben bis unten an; sie freute sich darüber.

»Ja, wer weiß. Reich werde ich wohl nicht gerade sein, aber …«

Hatte sie denn noch nicht nachgesehen? – Nein, wahrhaftig, das hatte sie noch nicht. Sie lächelte, war ein wenig rot geworden und griff zum Wandbrett hinauf; dort hatte sie jetzt den Schlüssel liegen. Sie kletterten alle drei in den Dachraum, und Per mußte die Kiste öffnen; denn Aasel war zu schwach, so schwer war das Schloß. Im Seitenfach lag ein aufgerissener Briefumschlag, und in dem waren vierzehn Silbertaler; die stammten von Jens in der Finnmark. Ein Wäschestück nach dem anderen räumten sie heraus, und Gjartru fühlte genau nach, ob etwas drinnen verborgen sei. Endlich sind sie auf dem Boden angelangt. Da liegt das Fußstück von einem alten grauen Strumpf. – »Hier liegt das Schwein selber«, sagte Per. Aasel hob den Strumpf ein wenig hastig heraus und stülpte ihn um. Es war ein ganz netter Haufen Silbergeld; aber als sie nachzählten, wollten es nicht mehr als drei Taler werden. Keines sah das andere an. – »Na, so ganz wenig ist es ja schließlich nicht«, tröstete Gjartru. – »Hier gibt es schon noch mehr, irgendwo«, meinte Per. Aber Aasel schüttelte den Kopf. Sie hatte in jeder Ecke und in jedem Winkel aufgeräumt, und die Muhme hatte mehr als einmal gesagt, wenn diese Kiste verbrenne, dann würde alles verbrennen, was sie besitze.

Plötzlich fängt Aasel an zu lachen. Sie lacht laut und hart, aber herzlich, so daß ihr die Tränen in die Augen kommen. Die beiden anderen sind fast erschreckt, denn das war ein seltsames Lachen von Aasel.

Und dann erzählt sie von dem Leichenschmaus, der wohl über zehn Taler kosten würde, und von dem Talar für den Pfarrer, der aus dicker Seide sein mußte; was meint ihr, was der wohl kosten würde? – Per zog die Augenbrauen hoch: Weniger als zehn Taler würde er wohl kaum kosten, wenn er es offen sagen solle. Aber sie hatte ja auch die Einrichtung! Die war an die zwanzig Taler wert oder wenigstens beinahe.

»Tod und Teufel!« rief Aasel, sie brach wieder in Lachen aus. »Da leg ich drauf und kauf auch noch eine neue Krause für den Pfarrer. Dann haben wir einen niegelnagelneuen Pfarrer in der Kirche, und dann habe ich gar nichts bekommen!« Sie gingen wieder hinunter, und Aasel kochte einen tüchtigen Kaffee.

Aber sie sollten die Sache mit der Erbschaft nicht dem Vater erzählen, bat sie; nicht ehe er wieder gesund sei. Und erst recht nicht jemand anderem; denn die Schande sei das Schlimmste an der ganzen Geschichte. – »Ich glaube, ich grabe mich lebendig in die Erde ein«, sagte sie, aber sie sah nicht so aus. Sie war lebenslustiger, als die anderen sie je früher gesehen hatten.

Als die beiden gegangen waren, wurde es ihr ganz klar und deutlich, wie es in der Schrift geschrieben stand.

»– so wirst du es finden auf lange Zeit.«

Am Tag darauf kam der Knecht und bat, sie solle ihm nicht böse sein. – »Unsinn!« sagte sie. Sie danke ihm vielmals für alle Hilfe, die sie an ihm gehabt habe. Dabei ließ sie sich Zeit und sah ihn an. Er war groß und schlank und hatte weiches, braunes Haar, das er sich in die Stirne kämmte, so etwas hatte sie noch nie gesehen, und dann schlug er bisweilen die Augen so versonnen nieder. Er hieß Kristen Folden, und das war ein so vornehmer Name, dünkte es sie; und seine Kleider waren heil und rein, wie sie es noch nie an einem Knecht gesehen hatte. Und so war er durch und durch: man mußte über ihn staunen.

Sie sei jetzt ein reiches Mädchen, sagte er. Seine Stimme klang ganz traurig.

Aasel stand da und wurde lustig wie am Abend zuvor: »Für mich ist kein Heller übriggeblieben!« Sie sah ihn offen an, es tat so gut, dies sagen zu dürfen. Erst als er gegangen war, stieg es ihr heiß in die Wangen, und sie biß sich in die Lippe – denn so etwas sagte man doch nicht zu einem Fremden!

Am Abend war sie im Begriff, nach Haaberg hinüberzugehen und sich nach dem Vater umzusehen. Sie befürchtete mehr als irgendeines von den anderen, daß es etwas Ernstliches bei ihm sein könne. Wie ein Klumpen steckte es ihr in der Brust, es könnte die gleiche schwere Hand sein, die auf ihm laste wie auf ihr, und um ihn tat es ihr leid; denn er hatte sich nie etwas Böses erwartet. Aber sie kam nicht fort vom Hof. Es gab zu vielerlei, wonach sie sehen mußte; und dann würde er doch wohl zum Leichenschmaus hierherkommen. Sie wußte nicht, daß sie sich schämte, zu ihm zu gehen.

3

Genau so dachten sie auf Haaberg: Anders mußte doch wieder so gesund werden, daß er zum Leichenschmaus kommen konnte. Wie eine Last und eine Unruhe lag es über ihnen all die Tage her, so daß zum Schluß keiner mehr davon zu reden wagte. Als aber nur noch ein Tag bis zum Begräbnis war, faßte Gjartru sich ein Herz und sagte es ihm. Er lag da und drehte sich der Wand zu; so hatte er jetzt fast immer getan, seit er krank war, und es murmelte in ihm, er sei gesund, er habe nur ein wenig Schmerzen in dem einen Auge. – »Laßt mich doch in Frieden!« bat er. Genau so sagte er auch, wenn sie ihm zu essen brachten.

Am Nachmittag schickte er nach Per. Per ging langsam und still hinein; es brachte so einen Schauder mit sich, wenn man in die Kammer gerufen wurde. Der Vater wandte sich ihm zu, mit einer Binde vor den Augen und rings um den Kopf.

»Ich bin schlimm daran, ich«, sagte er, »krank, sehr krank noch dazu.«

Per räusperte sich ein paarmal. Anders hob die Hände und ließ sie schwer wieder aufs Bett fallen:

»Ja, jetzt bin ich blind, Per! – – Doch, ich bin es, du. Und bleib es auch, ja, mein Lebtag lang. Aber du sollst es wissen: Ich habe es mir selber angetan!« Dann erzählte er, wie es sich zugetragen hatte und wie es gegangen war. Der Grund war wohl, daß der Teer zu heiß war. Denn sonst war Teer das einzige, das gegen Krankheit half: »Der ist galant, Per.« Dann sagte er, er wolle am nächsten Morgen aufstehen und zum Leichenbegängnis gehen, oh, red nur keinen Unsinn! So krank sei er nicht, und sie könnten gern sehen, daß er blind sei, einmal müßte es ja doch sein. Aber wie ist es mit der Aasel? Hat sie am Ende nichts bekommen? Da er nichts von ihr gehört hatte.

Per wich mit den Blicken aus, gleichsam als könne der Vater durch die Binde sehen: Nein, viel war es nicht, und wenn möglich noch weniger. Es fraß sich selbst auf.

»Ja, das kann ich mir denken.« Es fehlte nicht viel, daß auch Anders gelacht hätte. – – »Aber ein anständiges Leichenbegängnis gibt es doch?«

»Mein Gott, freilich! Wie sich's gehört, das ist sicher.«

»Ja, die Aasel, die Aasel! – – Hm – hm! Die Welt ist oft merkwürdig, ja oft.«

Als Per wieder gehen wollte, sagte Anders:

»Per, wir sagen den anderen einfach, ich hätte Kalk in die Augen bekommen. Hm?«

»Ja, ja. Es wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben.«

Die Geschwister, die daheim waren, versammelten sich in der Küche, und dort erzählte Per, wie die Sache stand. Denn es ist ihm Kalk in die Augen geraten, sagte er. Gjartru weinte, und Beret war auch nahe daran. Ihnen schien es, als seien sie mutterseelenallein in der Wildnis, nun, seitdem der Vater sein Augenlicht nicht mehr hatte, es war, als sei er ihnen entschwunden. Ola ging in die Oststube und holte seine Ziehharmonika hervor; dort saß er oft und spielte und fügte Worte zusammen, und das tat er auch jetzt. Er wünschte fast, daß er nicht mehr auf diesen Hof gehöre. Per stand da und pfiff eine Weile vor sich hin, und dann ging er hinaus. Vor der Tür sagte er zu sich selber, laut und gleichsam wie zu einem anderen, wie er immer tat, wenn er sich etwas überlegte:

»Es kommt so, wie ich gesagt habe, ja. Es geht dorthin, wo es selber will. Wie sehr wir uns auch plagen und schinden.«

Es war ein klarer Abend, Birkhähne kollerten, und alle Vögel sangen – so war es an vielen Abenden in diesem Frühjahr: der Bach toste und floß dahin, daß man es bis hierher hörte; er war da, er gab nicht nach. Per stand eine Weile da und witterte in die Luft hinaus. Dann grub er in der Erde nach Würmern, nahm die Angelrute und ging fort. Das tat er oft, wenn die Welt so schwer zu übersteigen war. Es war etwas so Seltsames um die erste Forelle, die zappelnd neben einem im Grase lag; der Fischgeruch machte einen mit einemmal zu einem kleinen Buben, man sprang barfuß herum und war froh, erinnerte sich nicht einmal, daß man Per hieß.

Auch Anders empfand den Abend. Der lag vor dem Haus, so schön er nur sein konnte, er war für Anders geschaffen und lag da und wartete geduldig. Das war die eine Sache. Schlimmer war es mit dem Leichenbegängnis, denn dorthin mußte er; er sammelte seine ganzen Gedanken und all seine Kraft, und da mußte die Zeit wieder einsetzen und wieder gehen.

Jaha, dorthin mußte er. Er kam wie ein Häuptling, fuhr auf seinem eigenen Weg, und die Leute blickten ihm nach, wie sie es immer getan hatten, und wunderten sich darüber, was seinen Augen fehlte – er konnte es beinahe vor sich sehen. Es war ein wenig kindisch, mag sein, so auf den Hof zu kommen und seinen Platz einzunehmen; aber so war man eben, so war man sein Lebtag gewesen. Und wenn es nun auch vorbei war mit dieser Zeit, dann sollten sie doch einen vor sich haben, der vortrat und sie ansah, selbst wenn er blind war; es sollte ein Spaß sein, sie zu meistern, wie er es auch sonst getan hatte, erst jetzt würde er richtig der Anders sein. Wartet nur eine kleine Weile noch, dann sollten sie sehen, wie ein Blinder die Kirche versetzte!

So saß er da und nahm sich ein Ding nach dem anderen vor, wie in alten Tagen; er lächelte ihnen zu und packte sie an und war gleich wieder mit etwas Neuem von derselben Art beschäftigt. Aber womit sich auch seine Gedanken befaßten, das Schwerste lag doch unter allem verborgen, und das war bei weitem nicht das verlorene Augenlicht. Nein, es waren die Worte, die er sagte, damals, als er seine Augen heilen wollte: Wenn sie ihm wohlwollten, dann mußten sie ihm beistehen!

Wie sicher und ruhig hatte er nach diesen Worten gegriffen. Jetzt wandte er sich jäh ab, als er es vor sich sah. Sein Brot aufs Wasser werfen, das sollte man wohl kaum tun. Aber, sagte er zu sich selber, noch zweifle er nicht daran, daß er es auf die eine oder andere Weise zuwege bringen würde. Er hatte schon früher einmal einen Schlag bekommen und hatte sich wieder erholt.

Die Schmerzen in den Augen waren im übrigen bisher wie eine Hilfe gewesen. Sie ließen einen armen Kerl wie ihn nicht daliegen und in Verzweiflung hingrübeln; sie hielten einen auf dem richtigen Weg. Es war schon genug, daß man liegen mußte.

– – – Als Gjartru am Abend mit dem Gabenkorb für den Leichenschmaus nach Paalsnese kam, erzählte sie Aasel, daß der Vater blind geworden war. Aasel arbeitete, während sie zuhörte, fast, als habe sie dies schon früher gewußt. Erst als Gjartru wieder gehen wollte, wurde diese gewahr, daß Aasels Gesicht erstarrt und fahlblaß war. Aber gerade als Gjartru äußern will, daß es vielleicht wieder vergehen würde, sagt Aasel, um sie zu trösten:

»Mit dem Vater hat es keine Gefahr; er hält mehr aus als nur das, wirst du sehen.«

So war es immer, schien es Gjartru, neben Aasel wurde sie zu einem kleinen Mädchen. Im übrigen war sie zu glücklich, um länger darüber nachzudenken. Sie stand gleichsam im Begriff, aus dieser Welt fortzuziehen.

– – – Anders kam wie ein Herr zum Leichenbegängnis gefahren und ging sogar mit in die Kirche. Das Gerücht, daß er das Augenlicht verloren habe, hatte sich schon verbreitet, und sie drängten sich alle dicht an ihn heran. Er schob es hinaus, bis sie beim Essen saßen; da erst erzählte er, daß ihm ungelöschter Kalk in die Augen gekommen sei und daß er sie mit Tran gereinigt habe, der vielleicht zu heiß gewesen sei, denn er habe gerade Schuhschmiere kochen wollen; so hatte er sich den Augapfel verbrannt. He, traurig? Woher doch! Denn er hatte es ja selbst getan. – »Aber das muß doch wohl wieder gut werden?« meinte ein Weib erstaunt. – »Ja, glaubst du denn, ich werde blind, du?« – »Nein, wo denkst du hin!« – »Ja, es ist kein Spaß, blind zu werden«, sagte einer, »wenn einer noch so jung ist.« – Mein Gott! Das sei die schwerste Sündenstrafe, die der Herrgott einem auferlege. Ja, wie er sie dem auferlegt hatte und jenem! Sie erinnerten sich jetzt an nicht wenige. Und in der Juwikingsippe waren doch auch ein paar gewesen? – »Aber du weißt, das hier ist etwas anderes; wenn man es selbst getan hat.« Sie alle hatten eine Stimme so weich wie Butter.

Nie hatte Anders sie so nahe bei sich gehabt wie jetzt. Nie auch hatte er sie so richtig gesehen wie jetzt. So sahen sie aus, ja. Und so sah er für sie aus. Trocken und armselig waren sie im Gesicht, und kalt wie der Luftzug im Türspalt – er war wie ein neues Boot für sie, und es tat ihnen wohl, einen Fehler daran zu finden. Sie wollten ihm zu Leibe, darauf hatten sie seit langem gewartet.

»Ich bin übrigens für Lebzeiten blind!« sagte er; er sagte es gleichgültig, tastete auf dem Tisch herum und aß.

Das sei doch nicht wahr? So etwas dürfe er nicht sagen! klang es rings um den Tisch, und noch mehr dergleichen.

»Doch, so ist es schon. Aber darüber braucht ihr euch gar nicht zu freuen. Und mir braucht es auch gar nicht leid zu tun. Es ist eben so gekommen.«

Sie schwiegen, daß es eine wahre Lust war. Aber trotzdem bereute er es. Er sollte doch eigentlich zu alt dazu sein, um sie seines Verstandes zu würdigen. Er sollte ein wenig mehr vertragen. Einen Augenblick lang sah er es vor sich: nicht er war groß gewesen; nein, sondern die anderen waren klein gewesen. Da kam einer und legte ihm die Hand auf die Schulter, schwer: »Ich will dir nur eines sagen, Anders Haaberg, und das muß ich jetzt tun: Du hast das zuwege gebracht, was du solltest und noch mehr dazu, ehe du hingingst und dich zur Ruhe setztest. Du hat viel getan. Ich muß es sagen, wie es ist.«

Das war Kristian Lauvset, sein alter Gegner.

Anders lächelte unter seiner Binde, aber nicht zu dem, was hier gesagt worden war. Es war nur so neu für ihn, daß ein anderer Mann kommen und einem solche Freude machen konnte. Und als eine Frau sagt: »Es muß uns alles zum Besten gereichen«, da lächelt er auch dazu und sagt:

» Daran hab ich nie gezweifelt, Kind!«


 << zurück weiter >>