Max Dreyer
Ohm Peter
Max Dreyer

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Nach dieser Austreibung einer geschminkten Seele blieb in Ellen gleichwohl etwas wie eine Lücke. Und wenn die Erinnerung die ausfüllen wollte, dann war sie mit Ewald nicht in dieser letzten dumpfen, schwülen und trüben Stunde. Dann streiften sie durch die Dünen, sein Lachen war rein und gesund, und in seinen großen Augen war nichts weiter als die Schönheit.

Ganz andre Gedanken aber waren es, die jetzt in Ellen die Herrschaft führten. Sie mußte ihr Bündel schnüren. Sie sollte von Mönchgut Abschied nehmen.

Der Ohm tröstete sie, so gut er's vermochte. »Nicht die Ohren hängen lassen, kleine Ellen! Freue dich doch! Kommst doch jetzt 'raus in die schöne Welt.«

»Die schöne Welt – die ist hier.«

»Ja, wenn du es sagst, du weltbefahrene Dame. 302 Laß dir erst mal von den Firnen des Montblanc Gute Nacht wünschen, du mein kleines Heimchen, du!«

»Aber du bist doch auch lieber hier als in Genf. Und den Montblanc – den mag ich nicht, der macht sich so wichtig. Von dem muß man immer wissen, wie hoch er ist. Er kann mir gewogen bleiben mit seinen viertausendachthundert Metern – oder sind es achttausendvierhundert?«

Der Ohm legte mit komisch gewichtigem Ernst die Hand auf ihren Scheitel. »Sieh mal, Kind, es ist doch auch höchste Zeit, daß etwas Ernstliches für deine mit Recht sogenannte Bildung geschieht.«

»Ach nein.«

»Und Tante Amalie wird das schon in ihre bewährte Hand nehmen.«

»Ich halt' es nicht aus – ich weiß es, daß ich es bei ihr nicht aushalte – ich laufe weg – auf die Montblancgletscher lauf' ich – oder nein –«

»Nein?«

»Hierher zu dir!« Ihr Kopf suchte seine Schulter.

»Sei so gut.« Der Klang seiner Stimme wurde fester und kühler. »Die Sache ist doch ernst. Und du bist ein großes Mädchen.« 303

Sie senkte den Kopf. »Ja. Ich will vernünftig sein,« sagte sie mit weher Gefaßtheit.

Da sprach er ihr wieder freundlich zu. »Wenn du brav bist, besuche ich dich vielleicht einmal.«

»Das – das willst du! Das willst du tun! O Ohm!« Sie schlug in die Hände und rang sie mit freudigem Entzücken.

»Ich führ' dich auf den Montanvert und zeig' dir die Mer de Glace, und wenn du ein tapferes kleines Mädchen bist, führ' ich dich hinein in das Eismeer und hinüber.«

»Ja, ja! Das sollst du! Du sollst sehen, daß ich tapfer bin. Und jetzt wird mir der Abschied nicht so schwer!«

Sie kramte heute, am Vorabend der Reise, an ihren kleinen Habseligkeiten ohne Seufzen und ohne Tränen.

Dann lief sie zu Vater Wittmüs in sein Laboratorium und erzählte ihm von der Schweiz und dem Montblanc: das wär' ein Berg, der wär' viele Meilen hoch, über die Wolken ginge er, und wenn man da oben stände, könnte man nach den Sternen greifen. Und der Ohm würde hinkommen, und dann stiegen sie beide hinauf und griffen nach den Sternen. 304

»Das is recht,« sagte der Alte. »Un wenn du da oben büst, denn straak man den alten Mond mal von mir über. Un sag ihn man, Johann Wittmüs ließ' ihn sagen, daß er einglich in den letzten Jahren reichlich viel geschienen hätte, un davon wär' bei uns die Aalfischerei ümmer schlechter geworden. Un er sollte man dreist 'n bischen weniger scheinen.«

»Ich will's bestellen!« sagte die Kleine munter.

Jetzt aber wurde der Alte wissenschaftlich betriebsam. »Was ich von der Schweiz gelesen habe, da soll es so schnurrige Dierter geben – Murmeltiere heißen sie. Wenn du mir davon einen greifen könnst oder so, das wär' fein.«

»Das mach' ich, Vater Wittmüs.«

»Denn greif man lieber gleich zwei. Aber 'n Bock un 'ne See muß es sein.«

Da schwand doch ein wenig der Kleinen Zuversicht. »Ich will's versuchen.« Dann aber lehnte sie sich auf gegen diesen verkniffenen Weltverbesserer. »Wer weiß, was du mit den armen Tieren anstellst. Du bist imstande und bringst sie mit Meerschweinchen zusammen.«

Da leuchteten die Augen des Alten listig auf. Ja ja, so ein Meerwurmelschweintier! Das wäre aller Schöpfungen Krone! 305

Der nächste Tag gehörte den Abschiedsbesuchen. All den Menschen, die sie kannte, wollte sie Lebewohl sagen, und all den Stätten, die ihr lieb geworden waren.

Ins Pfarrdorf begleitete sie der Ohm. Aber er trat nicht bei den Pastorsleuten mit ein. Er ging inzwischen an den Strand des Boddens und untersuchte das Eis, ob es zum Schlittschuhlaufen trug. Er dachte, daß Jum und Jim sich hier bei ihm einfinden müßten. Aber sie kamen nicht.

Ellen erzählte ihm, die beiden hätten wohl Miene gemacht, zu ihm hinauszulaufen, dann aber hätte die ärgerliche Verwunderung der Eltern darüber, daß er draußen geblieben war, sich auch den Jungen mitgeteilt, und sie hätten geradezu förmliche Gesichter aufgesetzt.

Ja, ja, daß er das vergessen konnte! Jum und Jim – die gab es doch nicht mehr!

Auch sei der ganze Abschied kühl und klanglos verlaufen. Nur der Pastor hätte ihr – auch er indessen mehr lebhaft als warm – mit kräftigem, ehrlichem Händedruck christliche Ermahnungen auf den Weg gegeben.

»Er ist ein guter Kerl. Und gut meinen sie's alle. Aber – na ja. Und die beiden Kleinen, 306 der – der – Kurt und der Fritz, so heißen sie, glaub' ich, paß auf, jetzt ist es entschieden, die werden über kurz und lang geradeso wie Hermann.«

»Glaubst du das?«

Der Ohm nickte mit unverhohlener Wehmut. »Im Pastorenhaus hab' ich jetzt nicht viel mehr zu suchen. Und dir blutet das Herz auch nicht gerade nach ihm.«

»O nein,« sagte Ellen und hängte sich an seinen Arm.

In der Dorfstraße trafen sie Fine, Lehrer Karstens altes buckliges Dienstmädchen. Die erzählte ihnen ungefragt, daß Ewald schon am Tag nach dem Fest wieder abgereist sei, Herr Karsten aber wäre heute nach Putbus gefahren.

»Schade,« meinte die Kleine. »Vater Karsten hätt' ich gerne Adieu gesagt.«

Der Gedanke an Ewald kam und ging.

Und nun schritten sie über die Wiesen, denselben Weg, der sie das erstemal zusammen ins Pfarrhaus geführt hatte.

»Hier bin ich damals beim Rüberspringen mit dem Fuß ins Wasser geraten.« Jetzt war der Graben zugefroren.

Und hier war dies und hier war das. All 307 die Erinnerungen zog Ellen herbei und umkleidete damit geschäftig den Abschied, der sie immer härter und kälter an die Hand nahm.

Je enger aber die Notwendigkeit sie einspannte, um so ruhiger wurde sie, um so klarer und ergebener. Sie reiste in dieser Stunde. Und wie sie beide in der Halle sich gegenübersaßen, sah Peter so viel fraulichen Ernst auf ihrem Scheitel liegen, daß er in scheuer Verwunderung aufzitterte. Und der Schrecken einer Sehnsucht durchfloß ihn in stoßenden Wellen.

Als sie dem Abschied widerstrebt hatte, wie hell und fest waren seine Gedanken darauf losgesteuert! Und nun, da ihr eigner Wille sich auf diesen Weg begab, wie zog es ihn kreuz und quer in Nebel und Irre!

Was wollte dieser letzte Abend nur von ihm!

Er fühlte das Entbehren, er fühlte all die Träume voraus, welche die Entfernte wieder herbeiziehen wollten in die Freude, in die Wünsche seiner Blicke – Er suchte ihre Augen, ihre Kinderaugen und fand ihre Lippen, die rot waren und so anders als die Augen –

Bei ihm war die Qual. Und sie wuchs, so wie letzte Stunden mit all ihrer dunkeln Furchtbarkeit die Qual ernähren. 308

 


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