Max Dreyer
Ohm Peter
Max Dreyer

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24

Peter Brandt schritt einsam in den Abend hinein. Er hatte Ellen ohne Erklärung gesagt, daß er erst am Morgen wieder nach Hause käme. Sie meinte, er wolle in der Nacht fischen, und machte sich weiter keine Gedanken. Er aber sehnte sich nach ruhigem Schlaf.

Seit vielen Jahren war er kein guter Schläfer mehr. Jede Nacht weckte ihn mehrmals auf, dann lag er eine Zeitlang, sann und träumte, trauerte und lächelte und blickte mit klaren, offenen Augen in das dunkle Leben, bis der Schlummer zurückkam.

Das störte ihn kaum, fast war es ihm zu einer lieben Gewohnheit geworden. Die schwülen Nächte dieses Sommers aber fingen an ihn zu quälen.

Das helle Wachsein tat ihm nichts zuleide, aber hier gab es so viel Halbes und Trübes, ein fahles, krankes Helldunkel, ein Bewußtsein, das gefesselt war, eine Angst, die nicht aufspringen konnte, weil 242 sie gelähmt dalag, hier gab es Träume, die nicht wußten, ob sie nicht lebendig waren, und Gedanken, die sich für tot hielten.

Er hatte so oft, wenn er herzlich müde war von körperlicher Arbeit, sein Bett seinen guten Freund genannt. Jetzt war es zu seinem Feinde geworden, und er haßte es ehrlich. Und heute wanderte er in den Abend und suchte sich eine andre Ruhestatt.

Er kroch durch die verknorrten Eichen und die niedrigen Föhren des Dünenwaldes, einmal trotteten ein paar Dächse unbekümmert über seinen Weg, sonst begegnete ihm kein lebendes Wesen.

Und jetzt blieb das Baumwerk zurück, er trat auf die grasbestandene Höhe, vor ihm lag die See, verdrossen in der Windstille der grauen Dämmerung, nur ein mürrisches Plätschern ließ sie vernehmen.

In die farblose Ferne aber flog ohne Laut eine verspätete Möwe.

Da oben setzte er sich nieder, zog die Knie ans Kinn und hing dem sterbenden Tage nach.

Wieder versank einer ins Meer, einer von diesen Tagen, die er anfing zu zählen, wie die Soldaten in der Kaserne und die Gefangenen in den Strafanstalten es machen. Er war nahe daran, sich 243 Striche zu ziehen wie die und jeden Abend freudig einen auszulöschen.

Wieder ein Tag weniger. Und wenn das neue Jahr einzog, hatte er seine Einsamkeit wieder.

Er, der jetzt der Flüchtling seines eignen Hauses war. Der hier jetzt saß wie ein kauernder Nachtmar. Wenn einer da draußen auf dem Meere vorüberfuhr, der würde durch den Dämmer hier seine Augen als gespenstisch phosphoreszierende Punkte sehen. Er fühlte selbst ihr grünes stechendes Licht.

Und es war ihm, als müßte noch mehr an ihm leuchten, als müßten auf allen seinen Haarspitzen zahllose Elmsfeuer die Spannung der Gewitterwolken ausstrahlen, die in ihm brauten und ihn fast erstickten mit ihrer brodelnden Fülle.

Regungslos saß er da, wie gepreßt von dieser Spannung, und er wartete auf einen Ausbruch seiner selbst, einen wilden Schrei, ein Fluchen, ein Toben. Aber es blieb bei den brodelnden Wolken, in denen die Blitze schliefen. Und es blieb die kauernde Ruhe.

Was bist du, Peter Brandt?

Ein Flüchtling meines Hauses bin ich, ein Flüchtling meiner selbst. Sonst nichts? Das andre ist nicht der Rede wert. 244

Ein Flüchtling meiner selbst – so war mein Leben.

Denn meinem Leben fehlt das Große, darin es ruhen könnte!

Nichts habe ich geschaffen, nichts gefühlt, nichts erduldet, was mich tragen könnte.

Nichts habe ich erworben, was ich wahrhaft besitzen könnte mit der Freude des Besitzes, die aller Freuden höchste ist.

Vom Kleinen zum Kleinen bin ich gezogen und geworfen, verschmähte das eine und flog zum andern und vergaß es schon, kaum daß ich es hielt.

Die Menschen haben ein Wort für jenes Große: sie nennen es Liebe. Ein Wort, das er ohne Grauen nicht hören konnte, denn es versündigt sich mit seinen fünf Buchstaben an dem, was unsagbar ist. Und er hatte es wissentlich nie mehr im Munde geführt. Jetzt sprach er es bewußt vor sich hin, hart, wie zerstörend, und zerriß es in seine zwei Silben: Lie–be. Lie–be – –

Und er mußte an Pastor Willers denken, der dieses Wort täglich an die zehnmal und Sonntags zwanzigmal und darüber brauchte – das macht im Jahr – im Jahr an die fünftausend. Auf zweimalhunderttausend würde er es in seinem voraussichtlich gesegneten Leben schon bringen. 245

Und hätte Pastor Willers ihm eben zugehört, wie er das Wort – eine taube Nuß – in zwei Hälften zerknackte, der Mann hätte es fertig gebracht zu glauben, daß über Peter Brandt die Stunde der Erleuchtung gekommen sei. Ich weiß, du bist ein guter Kerl, Karl Christian, und meinst es gut. Aber deine Erleuchtung ist nicht meine Erleuchtung.

Ich glaube nicht an deine Erleuchtung, die von außen kommen soll.

Glaube vielmehr, daß die Ichvernichtung, die der Inbegriff dessen ist, was du predigst, daß gerade die nichts weiter ist als pure Gotteslästerung.

Mit welcher heiligen Glut sprichst du den tiefsinnigsten Unsinn aller Völker und Zeiten nach, der sich in der wehmütigen Frage drapiert: Wer vermag sich selbst zu erkennen?

Lieber Karl Christian, niemand vermag irgend etwas andres zu kennen und zu erkennen als sich selbst!

Mit mir bin ich unausgesetzt zusammen – mit dir nicht, Gott sei Dank! (nimm's nicht übel) – und darum kenn' ich mich, und dich erst durch mich. Und alles andre erst durch mich.

Und sich selbst so kennen, daß man sich nichts 246 mehr verschweigen, sich nicht mehr belügen kann – und sich nicht mehr zu belügen braucht, das ist die Vollendung. Das ist die Gottähnlichkeit. Das ist die Gottheit. Wer dahin strebt, übt der nicht Gottesdienst?

Darfst du also die Selbstbetrachtung verachten, die dir als höchst verwerfliche Faulheit erscheint, Karl Christian? Darfst du mich als Nichtstuer verketzern, weil ich keinen »Beruf« habe, weil ich nicht Rechtsanwalt bin, nicht mit Buckskin handle oder Schnaps brenne?

Du darfst es, natürlich. Du darfst noch viel mehr. Und was ich jetzt sage, wird unfehlbar deinen ganzen christlichen Zorn aufwecken.

Erkenntnis – so etwas läßt euch verhältnismäßig kalt. Aber nun kommt es, nun kommt die zweimalhunderttausendmalige Lie–be. Und nun versuch es, dich zu beherrschen.

Ich sage nämlich und sag' es dir ins Gesicht, daß es mit der Liebe nicht anders ist als mit der Erkenntnis.

Nur da ich mich selbst erkenne, vermag ich die andern zu erkennen.

Erst wenn ich mich selbst liebe, kann ich die andern lieben. 247

Jetzt würdest du mich totschlagen, wenn das nicht im Katechismus und – der Ausführlichkeit und Sicherheit halber – auch im Strafgesetzbuch verboten wäre.

Aber ich kann mir nicht helfen, und es muß nun schon dabei bleiben: die Eigenliebe, die ihr verflucht, gegen die ihr wettert und stürmt als gegen den alt bösen Feind, ohne sie wäre es nichts, wäre es nichts mit der Gottesliebe, der Nächstenliebe und all den verschiedenen Arten Liebe, die ihr kennt und nennt.

Und wenn du's wissen willst, woran es liegt, daß ich andern nicht Liebe genug gebe: daran, daß ich mich selbst nicht lieb genug habe.

Ja, ja, das ist so. Wenn deine Augen sich auch noch so wild gebärden. Wenn deine zornigen Hände mir auch an die Kehle möchten.

Sei gut. Es bleibt so etwas wie eine Hoffnung: Vielleicht komme ich doch auch noch einmal auf euern richtigen Weg der Nächstenliebe, nur anders herum, auf einem besonderen Fußpfad, den ich dir eben gezeigt habe. Denn je mehr ich mich selbst erkenne, um so mehr muß ich mich doch eigentlich liebgewinnen. So ein Kerl wie ich! Und auf diese Weise, wie gesagt – 248

Sein altes Lachen strich wieder leuchtend durch seine Qual. Und dabei kam die Ruhe des wohlgerundeten Systems über ihn.

Das war doch etwas – man konnte darauf klopfen, man konnte es streicheln, man konnte die Hände darüber falten wie über einem soliden Bäuchlein.

Mochte immerhin Peter der Spötter und Nihilist dem ehrlich erworbenen philosophischen Eigentum des Herrn Brandt spitzig zu Leibe gehen, so ein richtiges System ist dauerhaft, sein Besitz gibt festes Selbstgefühl und gleichmütige Würde. Er hatte sein System, er konnte ruhig schlafen.

Und diese graue Lauheit der Nacht nebelte ihn ein.

Das System stopfte die Gewitterwolken seiner Seele zu einem flaumigen Kopfkissen zusammen. Das System zog ihm die Schlafmütze über die Ohren.

So fand er für ein paar Stunden die Ruhe, um die er ausgegangen war.

Aber das tastende Spiel des ersten Morgenscheins, den ein leichter, krauser Wind über das Wasser trug, bebte mit Traumbewegungen in seinen Schlummer hinüber. 249

Die Stimmen der Frühe pflegten ihn auch sonst zu wecken. Hier aber, wo er ihnen näher war als sonst, spielten sie noch lebendiger auf den Saiten seines Schlafes.

Was er hörte, war Ellen, das Kind. Wie sie mit schwebender Hausfrauenwürde durch die Halle trippelte, das auf den Tisch zu tragen, was sie selbst gekocht hatte. Wie sie mit lustiger Zerknirschung lachte zu ihren geographischen Verirrungen. Wie sie sehnsüchtig nach den Sternen fragte und klagend dem Rätsel der Dreieinigkeit nachging. Und jetzt hörte er deutlich ihr Herz klopfen, da er sie ins Wasser trug, sie schwimmen zu lehren.

Damit wachte er auf. Er hatte noch das Zittern ihres Leibes in der Hand, aber das Gefühl ihrer Nähe erregte ihn nicht, er hielt ein Kind auf dem Arm, so wie es damals war.

Das machte ihn froh, und er sprang frisch auf die Beine. Dann zog er sich aus und rannte in die See und zerriß mit seinem Rufen und Plätschern die letzten Schleier, die die Nacht über sie hinschleppen ließ.

Und nun schwamm Peter in mächtigen Stößen nach Osten. Dorthin, wo durch einen feinen 250 rosafarbenen Spalt der Morgen in die graue Welt hinauslugte, noch verschlafen und im Zweifel, ob es lohne aufzustehen, dann aber gab er sich doch einen Ruck, und jetzt war das erste Morgenrot vor dem Schwimmer, dann über ihm, dann um ihn.

Und Peter jauchzte dem Schein entgegen, hob sich in die Höhe, daß der seine geweitete Brust traf, und tauchte dann unter, bis dahin, wo das rote Licht nicht mehr atmen konnte.

Und wie er dann langsam wieder in die Höhe ging, mit weiten Augen, die nach den letzten leisesten Spuren des Rosenroten forschten, da zeigte ihm die Flut über ihm in gedämpften milchigen Tönen ein so zartes Farbenleben, wie noch keines Sterblichen Blicke es entdeckt hatten. Und er fühlte, daß er ein Begnadeter war.

Und er lachte sich aus ob seiner Not und seiner Heimatlosigkeit. Und daß er vor einem kleinen Mädchen sich fürchtete und flüchtete. Vor einem kleinen Mädchen, das noch dazu niemand anders war, als die kleine Ellen, sein Ellenkind.

Wie kam es nur, daß sie nicht bei ihm war! Hier, wo der Morgen Ungesehenes zeigte. Wie war es möglich, daß ihre Kinderaugen hier fehlten, die einzigen, die es sehen durften neben ihm? Und 251 denen er dies alles doch zeigen mußte, mußte, so wahr sie sein Ellenkind war.

Schon lief er zu seinen Kleidern. Im Gehen zog er sich vollends an. Wenn er sich beeilte, die Kleine zu holen, wartete das Morgenrot noch auf sie.

Mit schnellen, festen Schritten trat er in sein stilles, schlafendes Haus, ging an Ellens Tür und klopfte, sie zu wecken.

Drinnen rührte sich nichts. War sie schon aufgestanden und fortgegangen?

Er öffnete das Zimmer. Sie lag in tiefem Schlaf, aber es mußten wohl Träume bei ihr sein, die ihr nicht wohltaten, eine trotzige Kinderfalte lag zwischen ihren Brauen, und die Hände hatte sie geballt, so wie es die Kleinsten im Schlummer machen. Doch es war noch ein mehr dabei, denn um ihre halbgeöffneten Lippen ging es wie hilflose Klage.

Es ward ihm nicht schwer, diese Ruhe zu stören.

Er nahm ihre Faust in seine beiden Hände und rieb sie leise, da hoben sich ihre Lider, leer starrten ihre Augen, dann aber füllten sie sich gleich mit hellster Freude.

Sie faßte seinen Arm, richtete sich an ihm auf und schüttelte ihn. »Du bist ja hier –« 252

»Das scheint mir auch so.«

»Du bist ja gar nicht auf dem fremden Stern!«

»Wollte ich das?«

»Ich hab' es ja gesehen, wie du schwammst und immer schwammst über das gräßliche Wasser. Nach dem Morgenstern wolltest du.«

»Wann war das?«

»Jetzt. Mochtest du denn gar nicht mehr hierbleiben? Und mich bei dir haben?«

Er setzte sich nieder zu ihr auf die Bettkante. Es war für ihn nichts Geheimnisvolles darin, nichts, was ihn erschrecken konnte, daß so ihre Träume sie zu ihm trugen. Nichts, was in die Ferne wies, nichts, was im Jenseits seine dunkeln Quellen hatte. Vielmehr war es ihm eine enge und warme Selbstverständlichkeit, ein heimatliches, fast hausbackenes Gefühl des Zusammengehörens, das sich nicht durch Fragen Wunderbares schuf.

Sie war ja sein Kind. Der Mensch, in dem die Klänge seines eignen Lebens zitterten. Und er empfand hier nichts weiter, als daß sie sein Kind war.

Das traumwirre Haar strich er ihr aus der Stirn und fragte sie, ob sie nicht mit ihm wollte. Neues vom Morgen hätte er ihr zu zeigen. 253

Erst wollte sie. Dann aber reckte sie sich an ihm hin und sagte gähnend: »Ach Ohm, ich hab' mich so müde geträumt. Jetzt weiß ich, daß du hier bist – jetzt bin ich so froh, daß ich nichts weiter als schlafen möchte.«

»Tu das, mein Kind.«

»Bist du mir auch nicht böse?«

»Schäfchen!«

»So schön müde –«

Ohm Peter hatte heute einen guten Tag. Die Schwüle tat ihm nichts zuleide. Er machte sich daran, seine Gerste zu mähen. Seine Sense hatte einen Schlag, wer ihm zusah, mußte an die Menschheit glauben. 254

 


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