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4.

Das eleganteste und stillste Ringstraßencafé verliert seinen Charakter – soweit es noch einen hatte.

Früher war das »Café Imperial« der Treffpunkt einer vornehmen Auslese der Wiener Gesellschaft gewesen. Während des Krieges ergreifen die Fett- und Marmeladeschieber, die Valutenkäufer, die Kohlenhändler, die Agenten der auswärtigen Missionen, die mit Ex- und Importerlaubnissen einen wüsten Handel treiben, davon Besitz. Dazwischen sitzen zweideutige Kuriere kleinerer Staaten, die Geld und Juwelen für entsprechende Provisionen ins Ausland schmuggeln, um sie vor dem Zugriff der einheimischen Behörden in Sicherheit zu bringen. Mit falschen und echten Pässen wird ein schwunghafter Handel getrieben. Personen erscheinen und verschwinden nach geheimnisvollem Flüstern. Versiegelte Pakete wechseln hin und her. Manchmal erhebt sich ein wüster Skandal, der sich bis zu Tätlichkeiten steigert. Dazwischen drängt sich allerhand Weibliches, teils mit erotischen, teils mit politischen Absichten. Dirnen und Damen in engster Nachbarschaft.

Das eine Zimmer des »Café Imperial« wird zum Sowjetzimmer.

Nach der Überflutung Wiens mit den aus Rußland und der Bukowina ausgewiesenen Ostjuden brechen die ungarischen Emigranten über die Stadt herein und setzen sich fest.

Und fast über Nacht ändert sich der Charakter der Stadt, immer mehr kommt die Mentalität der »Zugereisten« zum Ausdruck. Wien wird balkanisiert und verzigeunert.

Ernö Kalmar findet im Sowjetzimmer selbstverständlich seine Heimat und alle landsmännische Unterstützung, die er braucht, um nicht zu verhungern.

Da sitzt der letzte Gesandte der ungarischen Räterepublik, der es vom Mechaniker und Agenten für Schreibmaschinen bis zum Oberkommandanten der Roten Armee gebracht hatte. Da sitzt, aufrecht und charakterfest, der ehemalige Handelsminister der Karolyi-Zeit, den die Roten gezwungen hatten, als Propagandachef für sie in die Schweiz zu gehen, der aber die Mission benützt hatte, um seinem Vaterland ein für allemal den Rücken zu kehren, nachdem er die erhaltenen Propagandagelder getreulich zurückgeschickt hatte. Da sitzt der Maler, der am ersten Mai die Hauptstadt in ein rotes Farbenmeer getaucht hatte. Da sitzen der rote Theaterintendant, daneben der Komponist der roten Hymne und Vorstand aller Musikschulen aus den Tagen der Räterepublik. Da sitzen sie, die Leute aller Regierungsperioden, die von den Tagen des Umsturzes bis zur Horthyregierung einander gefolgt waren. Sogar der schwarze Riese, von dem es heißt, er sei der geistige Urheber der Ermordung Tiszas, weilt unter ihnen.

Und wenn sie auch streiten, einander verachten und bekämpfen, im Hasse gegen die Horthyregierung sind sie alle einig. Und sie schreien und toben und gestikulieren und gründen Zeitungen: Die Zukunft, Der freie Mensch, Diogenes.

Im Vorraume des Sowjetzimmers sitzen die Spione und Vertrauten der weißen Regierung, die ihre Wiener Filiale gegenüber im »Grand Hotel« hat, und notieren emsig, wer im Sowjetzimmer zu sehen ist; und sie inszenieren Überfälle und Entführungen roter Politiker, um sie nach Budapest zu verschleppen und dort vors Gericht zu stellen oder verstümmelt und zerstochen in der Donau verschwinden zu lassen, wenn das Material nicht genügt, sie offiziell an den Galgen zu bringen.

Ernö Kalmar findet eine Anstellung bei der Zeitung Der freie Mensch. Er muß gleichzeitig Artikelschreiber, Inseratenagent und Austräger sein. Die Not der Emigranten ist groß und Wien ist arm und teuer. Geld ist nur bei den Kriegsgewinnern und ihrem Anhang zu finden.

Aber noch ist nicht alle Hoffnung geschwunden, daß in Ungarn der rote Terror noch einmal aufflammt – diesmal von Österreich aus. Die ungarischen Terroristen in Verbindung mit den russischen Sowjetagenten, die Wien überschwemmen, arbeiten fieberhaft. Die Kommunistenpartei verfügt über große Beträge zu Agitationszwecken, zwei rote Bataillone der Volkswehr stehen zu ihrer Verfugung. Ein Plan ist ausgearbeitet. Man wird sich Wiens bemächtigen und die sozialistische Regierung stürzen. Die Rollen und Ämter sind im voraus verteilt. Für den Ostermontag ist der große Kommunistenputsch angesetzt, der auch in Wien den roten Terror aufrichten soll.

Aber die sozialistische Regierung ist wachsam. Sie hat von den Plänen Wind bekommen und trifft Gegenmaßregeln. Die Kasernen, aus welchen die roten Bataillone ausrücken sollen, um die Besetzung Wiens durchzuführen, bleiben im entscheidenden Moment von außen gesperrt und bewacht. Der neuerliche Umsturz mißlingt. Ein Verzweiflungssturm auf die Polizeizentrale wird abgewehrt und auf den Straßen liegen die Kommunisten in ihrem Blut.

Der Putsch ist gescheitert – Wien ist der Bolschewikengefahr entronnen und atmet auf.

Die letzte Hoffnung der emigrierten Ungarn, von Wien aus die Heimat wieder erobern zu können, ist begraben. Wien entledigt sich vor allem der russischen Sowjetemissäre. Die ungarischen Emigranten werden zwar geschont, aber sie müssen sich mit den Tatsachen abfinden und dem roten Idealismus abschwören. Es heißt, sich an Wien anpassen und Existenzmöglichkeiten zu finden. Der politische Rausch weicht dem Selbsterhaltungstrieb und dem angeborenen Geschäftssinn.

Ernö Kalmar ist der erste, der die neue Situation begreift und sich auf sie einstellt. Ein befreundeter ungarischer Apotheker versorgt ihn mit Kokain.

An dunklen Ecken gewisser Straßen ist er zu bestimmten Stunden zu treffen. Auch in gewissen berüchtigten Cafés. Den Gewinn teilt er mit dem Apotheker.

Auch an heruntergekommene Aristokraten, die sich ihrer Armut schämen, macht er sich heran und vermittelt den Verkauf von Familienschmuck an Leute, die mehr zahlen als die offizielle Münze, die kategorisch alle Goldsachen einfordert, Safes und Tresore heimtückisch öffnen läßt, die Ausfuhr der Wertsachen verbietet und im Inland den Kaufpreis des Goldes tief unter der Weltparität hält, um es möglich zu machen, in Holland Fett, Reis, Getreide und Zucker für den ausgesogenen Staat anzukaufen.

Nach und nach gelingt es Ernö Kalmar, wieder bessere Kleider anzuschaffen, die ihm weder zu groß noch zu klein sind und nicht von Spenden für die herabgekommenen Emigranten stammen.

Bisher hat er nur ungarisch geschrieben. Jetzt beginnt er auch deutsch zu schreiben und seine Reporterfähigkeiten für Wiener Tageszeitungen zu verwerten.

Noch wohnt er in seiner elenden Kammer im schmutzigsten Viertel Wiens. Noch ißt er in der Gemeinschaftsküche – aber es geht vorwärts.

 

Der August 1920 bringt eine neue Teuerungswelle.

Der Hollandgulden steigt von 58 auf 80 Kronen.

Die Börse verzeichnet eine Katastrophenhausse auswärtiger Valuten. Aber Kalmar verdient bei dieser Gelegenheit zum ersten Male, denn er hat sich selbst nur das Allernotwendigste gegönnt und jede ersparte Krone in Franken und Hollandgulden angelegt, die er im Schleichhandel erworben hat. Er braucht vor dem kommenden Winter nicht mehr zu zittern wie die anderen – er wird nicht hungern und nicht frieren – er hat sich versorgt.

Er denkt sogar daran, sich ein besseres Quartier, näher der Stadt und ihren Kaffeehäusern, zu suchen, in denen sich derzeit das »unterseeische« Geschäftsleben zweideutiger Existenzen abwickelt.

Er ist der erste von den ungarischen Kommunisten, der dem roten Idealismus definitiv abgeschworen hat und sich zur Devise: verdienen, um jeden Preis verdienen, bekennt.

Die Stammgäste des Sowjetzimmers beginnen auf ihn aufmerksam zu werden und ihn mit einer gewissen Hochachtung zu behandeln. Dieser Kalmar versteht's!, ist die allgemeine Meinung, die sich langsam durchzusetzen beginnt. Der wird es zu etwas bringen! Mit diesem Kalmar muß man sich verhalten.

Ab und zu wagt Kalmar bereits in den eleganten Schieberlokalen aufzutauchen, wo nächtlicherweile die Tausender fliegen. Wo die Offiziere auswärtiger Missionen ihren Sold verprassen und Rosenschlachten mit Wiener Mädeln ausfechten, die der Hunger, der Leichtsinn und die Lebensgier in die Hände der Zahlungskräftigen treibt, die auswärtige Valuten besitzen. Denn Wien gehört bis auf weiteres den Schiebern, die im Gefolge der diversen Missionen aufgetaucht sind, die sich in den Hotels, Palästen, Cafés und Nachtlokalen breit machen, Stadt und Land ausräubern und von der Not der Stadt zehren und profitieren.

Wie eine Wolke von Geiern kreisen sie über Wien, immer bereit, herabzustoßen und ihre Beute wegzuschleppen. Der große Ausverkauf ist im vollen Gange. Alles ist am Markte zu haben. Kommerzwaren und Kunstschätze, die Ehre der Frauen und die Gesinnung der Männer.

Die Not bändigt alle.


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