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3.

Bis nahe an sein sechsunddreißigstes Jahr hatte sich Ernö Kalmar in der ungarischen Provinz herumgeschlagen.

Was war er nicht alles gewesen!

Das Klausenburger Gymnasium hatte er gerade noch mit Ach und Krach absolviert. Aber ehe es dazu kam, daß er die Universität bezog, starb der alte Getreidehändler, sein Vater, und so mußte er plötzlich sich und seine Mutter erhalten.

Zuerst versuchte er es jahrelang mit der Schauspielerei, ohne es zu irgendetwas Nennenswertem zu bringen. Dann war er nacheinander: Automobilagent, Juwelenhändler, Klavierspieler in zweideutigen Lokalen, Zeitungskolporteur, Inseratenagent und landete schließlich als Hauptmacher in der Redaktion eines oppositionellen Winkelblättchens, das in wüstem Chauvinismus und in nationaler Verhetzung schamlos arbeitete.

So war er sechsunddreißig Jahre alt geworden, ohne jemals mehr als seinen notdürftigsten Lebensunterhalt verdient zu haben.

Den Krieg hatte er nicht mitgemacht. Als einziger Sohn und Erhalter seiner Mutter und überdies als unentbehrlich für sein Blättchen war er natürlich enthoben gewesen.

Als der Zusammenbruch der Front kam und in den Tagen des Umsturzes der König aus dem Lande verschwand und Graf Karolyi Präsident der Volksrepublik wurde, das Unterste sich zum Obersten kehrte, als heimliche Sowjetemissäre anfingen, das Land zu überschwemmen und das feste Gefüge alter Machthaber sich lockerte, da empfand auch er: Jetzt ist meine Zeit gekommen! Jetzt oder nie!

Er verkaufte seine armseligen Möbel und was sonst entbehrlich schien – packte seine alte Mutter, von der er sich nie getrennt hatte, zusammen und fuhr mit ihr nach Budapest, einen Posten zu ergattern.

Er kam gerade in dem Augenblick an, als Graf Karolyi, der Regent Ungarns, die Macht in die Hände Bela Kuhns, des roten Terroristen, legte, der aus Ungarn eine Räterepublik machen wollte.

Bela Kuhn, der Mann mit dem weißen Negerkopf, war sein Jugendfreund und Schulkollege noch von Klausenburg her.

Ernö Kalmar wurde freundlich aufgenommen. Er wurde als Arbeiter erster Klasse qualifiziert und erhielt die Aufgabe, die Begeisterung der Massen für Bela Kuhn zu schüren und wach zu erhalten. Und da er einmal Schauspieler gewesen war, zog er von Lokal zu Lokal und deklamierte das Gedicht vom »roten Heiland«, überall stürmischen Beifall von der ängstlichen Menge erzwingend.

 

Das war Ernö Kalmars große Zeit.

Sie dauerte kaum ein halbes Jahr. Dann stürzte der rote Diktator Ungarns und Ernö Kalmar mußte mit ihm vom Schauplatz verschwinden.

Eile tat not. Denn der weiße Terror begann den roten abzulösen. Ernö Kalmar mußte darnach trachten, so rasch wie möglich aus Budapest zu flüchten und im benachbarten Österreich ein Asyl zu finden.

Eine abenteuerliche Fahrt, um Wien zu erreichen, beginnt. Eine Reise, die früher vier Stunden dauerte, nimmt jetzt schon über eine Woche in Anspruch. Und jeder Tag erhöht die Gefahr.

Vereinzelte Bahnstrecken sind aufgerissen und unpassierbar. Auf anderen wieder lauern die Pronay-Husaren, die Soldaten des weißen Terrors.

Der Lastzug, den er bisher benützt hatte, ist stecken geblieben, Maschinengewehrschüsse aus dem Hinterhalt haben die Lokomotive unbrauchbar gemacht.

Er ist gezwungen, seine alte Mutter in der Nähe eines Dorfes allein zu lassen – hinein wagt er sich nicht, denn die Bauern sind weiß gesinnt und mobilisiert. Er muß einen Wagen besorgen, um die nächste Bahnstation zu erreichen, da die alte Frau nicht gehen kann.

Als er nach einer Stunde zurückkommt, findet er seine Mutter erschlagen und ausgeplündert, halbnackt in ihrem Blute am Straßenrand liegend.

Die Augen kann er ihr noch zudrücken, die müden Augen, die so tief in die Höhlen versunken sind und die soviel Jammer gesehen haben.

Dann küßt er ihr noch einmal die verrunzelten Hände und den eiskalten Mund – und flieht. Er hat keine Zeit, sie begraben zu lassen. Die Bauern werden ihn als Roten erkannt und gesucht haben. Die Mutter hat den Tod erlitten, der ihm bestimmt war von den Weißen, die vom Plattensee her gegen die Hauptstadt anrücken.

In der Morgendämmerung eines Augusttages hat er auf Feld- und Waldwegen den Grenzfluß, die Leitha, erreicht. Er ballt sein Gewand zu einem Bündel, schnürt es fest und zerrt es schwimmend an einer Schnur mit sich hinüber. Ein paar Schüsse von einer Grenzpatrouille sausen über seinen Kopf weg – aber er ist gerettet. Er ist in Österreich und dem weißen Terror entronnen.

Die prominenten Häupter der ungarischen Sowjetregierung sind einstweilen ebenfalls in Österreich gelandet. Ein Geheimvertrag, den die ungarischen Revolutionäre mit den österreichischen geschlossen hatten, sicherte ihnen gegenseitige Asylfreiheit und Hilfe, wenn ihre Anschläge mißlingen sollten. Die Ungarn berufen sich auf den Vertrag und verlangen Aufnahme.

Bela Kuhn und die Seinigen sind auf einem Schloß, fern von Wien, interniert worden, wo sie auf die Weiterfahrt nach dem befreundeten Sowjetrußland warten.

Um Ernö Kalmar kümmert sich niemand. Dazu ist er viel zu unbedeutend und politisch harmlos.

Aber auch die Mitglieder der sozialistischen Regierung, die Bela Kuhns Erbe angetreten haben, sind bereits aus Ungarn geflohen und in Wien. Horthy hat die Rumänen ins Land gerufen, um die alte Ordnung herzustellen.

Der weiße Terror wütet.


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