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1.

Ein grauer Novemberabend.

Trüb flackern die fahlen Lichter durch die schweren Nebel. Die Pflastersteine glänzen feucht.

Unsichtbare Lasten liegen schwer auf allen Seelen.

Marianne Hartenthurn kommt vom Begräbnis ihres Vaters.

Frierend, müde und verhungert klettert sie keuchend und mit versagenden Kräften die drei Stockwerke zu der kleinen Vorstadtwohnung empor, in der sie von jetzt ab allein mit der alten Fanny hausen soll – vorausgesetzt natürlich, daß Fanny nicht doch nach Böhmen zurückkehrt, wo sie zu Hause ist und wo es ihr jedenfalls besser gehen würde als im hungernden Wien, das derzeit von den Almosen mitleidiger Ausländer lebt.

Marianne findet Fanny, den Rosenkranz zwischen gichtigen Fingern, eingeschlafen vor.

Wenn ihr schon die alten Beine nicht mehr erlaubten, ihrem lieben Baron Franz die letzte Ehre zu erweisen, wollte Fanny wenigstens beten, während sie ihn draußen begruben.

Und jetzt war sie eingeschlafen.

»Einheizen, Fanny, im Kabinett vom Papa ... und einen Tee mit Rum und ein paar Deka amerikanisches Schinkenfleisch.«

Fanny war emporgefahren und schien verlegen, weil sie statt zu beten geschlafen hatte.

Vor allem wollte sie wissen, ob viele Leute da gewesen wären und ob es schöne Kränze gegeben hätte.

Aber Marianne war ungeduldig.

»Später, Fanny, später«, und sie ging ins Kabinett. »Jetzt nur ein bißchen Ruhe.«

Der schwarze Hut mit dem langen Kreppschleier flog achtlos zu Boden und sie selbst warf sich angekleidet, so wie sie gekommen war, auf das schmale Feldbett, das bisher ihrem Vater als Nachtlager gedient hatte.

Sie zog die Beine hoch, krümmte sich fröstelnd zusammen und zerrte die schwere, mit Schaffell gefütterte Decke über sich. Ihr Vater hatte, als er noch im Felde war und dann auch später zu Hause, unter ihr geschlafen, um die teure Kohle zu sparen.

Mit einem tiefen Seufzer schlief Marianne ein.

Übermüdet von den Erschütterungen der letzten Tage, hörte sie nicht das geräuschvolle Hantieren Fannys in der anstoßenden Küche, hörte nicht das Anmachen des Feuers und das Gerassel der Kohlenschaufel. Sie wurde erst wach, als Fanny sie rief und zum alten Maria-Theresia-Schreibtisch mit der aufgeschlagenen Tischplatte hinwies.

So wie sie es vom Baron Franz her gewohnt war, hatte es Fanny auch bei seiner Tochter gehalten. Sie hatte das frugale Abendbrot einfach auf die Schreibtischplatte neben die Lampe hingestellt.

Marianne setzte sich an den Schreibtisch, trank den heißen Tee, verschlang das Konservenfleisch, und Fanny stand daneben und fragte sie aus. Es kränkte sie sehr, daß man den lieben, guten Baron Franz so still und einfach begraben hatte, daß es gar keine richtige »Generalsleich« mit Trauermusik und Gewehrsalven gewesen war. Sie schüttelte nur immer wieder den alten, grauen Kopf und verstand nichts von einer Zeit, die so anders geworden war, und wollte immer wieder erfahren: Wieso dürfen sie denn das? Wer erlaubt es ihnen?

»Sie«, das waren für Fanny die Menschen von heute, die zu Macht und Ansehen gekommen waren, die ihrem Baron Franz den Adel aberkannt, ihn in Pension geschickt und ihn jetzt auch noch wie den nächstbesten Menschen begraben hatten, nachdem er zwei Jahre grenzenloser Verbitterung und vornehm verhüllten Elends ausgehalten hatte.

Das schmale Kabinett war leidlich geworden, der Hunger gestillt.

Marianne schlüpfte in den abgeschnittenen Generalsmantel, der ihrem Vater als Hausrock gedient hatte, breitete außerdem noch die warme Decke über die Knie und begann, Laden und Lädchen des alten Tabernakelkastens zu öffnen. Vielleicht fanden sich irgendwo doch noch so etwas wie ein letzter Wille oder ein paar Zeilen ihres Vaters, die für sie geschrieben waren.

 

Rechnungen, Bilder und Briefe quollen ihr ungeordnet und in bunter Fülle entgegen. Kinderbilder ihres Vaters. Eines: der kleine Franz auf einem Pony. Aufnahmen aus der Theresianischen Militärakademie mit Jahrgangskollegen, das erste Bild des jungen Leutnants, ein Aquarell des Schlosses Hartenthurn, das noch den Großeltern gehört hatte, ehe es von den Erben verjubelt und verschleudert worden war. Aber auch ein Bild der Mutter kam zum Vorschein, das Marianne nie gesehen hatte. Offenbar von einem Provinzphotographen aufgenommen. Pardubice-Pardubitz stand darauf. Und die Mutter! Wie sah sie so merkwürdig aus auf diesem Bild! Eine Bauernmadonna in einem fragwürdigen, überdekolletierten Salongewand. Auf der Rückseite des Bildes stand eine Widmung: »Hochgeboren Herrn Oberleutnant Baron Franz von seiner geliebten Arabella.« Und daneben in Klammern: »Vozelka Anna, Pardubice 1899, 1. August.«

 

Vozelka Anna, gut, das war der Name der Mutter, ehe sie der Vater geheiratet hatte, damals, als er von der Ostfront im September 1915 plötzlich auf Urlaub nach Hause gekommen war. Aber Arabella? Das war doch sonderbar.

Und auch ein Brief lag in demselben vergilbten Umschlag. Unbeholfen, mit ungelenker Hand geschrieben und voller Fehler.

Und dann las Marianne den ersten Brief, den ihr Vater von seiner damaligen Geliebten, ihrer Mutter und seiner späteren Frau, erhalten hatte.

»Lieber Frantz,

wo du erlaubst, das ich Euer Hochgeboren ›du‹ nennen darf, theile ich dir mit, das ich bei meiner Mutter eingetrofen bin und sie gesunt und voler Freuden gefunten habe, weil ich mein Glick gemacht habe. Lieber Frantz, meine Mutter weiß nichts davon, wo ich gewesen binn, Sie glaubt, ich war im Dienst bei guten Menschen. Lieber Frantz, ich kan dir gar nicht genug danken, weil du mich wegenohmen hast aus den schrecklichen Haus, wo ich sovil mittgemacht habe und wo ich durch meine grose Dumheit und meine bittere Nott heineingeratten. Das werd ich dir nie vergessen und will ich dich ewig lieben und dir danken auf den Knien und du brauchst mich nur behandeln wie einen gewöhnlichen Dienstbotten, wenn ich nur immer bei dir sein kann. Jeden Wunsch wil ich dir von dein lieben augen ablesen. Du hast mich gerettet von der Schande hir auf Erden und von der ewigen Verdamnis in der Hölle.

Ewig deine liebende Vozelka Anna.«

Jetzt begriff Marianne vieles. Also das war ihre Mutter einmal gewesen. Deswegen hatte der Vater, trotz aller Liebe für die Mutter, so lange gezögert und hätte sie vielleicht nie geheiratet, wenn nicht der Krieg mit seinen Ungewißheiten hereingebrochen wäre.

 

1901 war sie zur Welt gekommen. Knapp zwei Jahre nach dem Pardubitzer Bild. Achtzehn Jahre also hatte die Mutter mit ihrem geliebten Franz gelebt. Die letzten Jahre sogar als seine richtige Frau, ehe sie im Frühling vor dem Umsturze plötzlich hatte sterben müssen, von einer »Hamsterfahrt« krank zurückkehrend; sterben, ohne ihren geliebten Franz – nach dem sie bis zum letzten Augenblick schrie – noch einmal gesehen zu haben!

Marianne hielt das Bild ihrer Mutter näher zur Lampe. Aber das genügte ihr noch immer nicht. Sie stand auf und hob die Lampe gegen die Wand. Dort hing ein anderes Bild der Mutter aus ihren Jugendtagen.

Gelb leuchtete das Haar in schweren Zöpfen, wie eine Krone in die niedrige Stirn gelegt. Der rote, brutale und doch so reizvolle Mund war lachend geöffnet und ließ die breiten, starken Zähne hervorblitzen. Und die klaren, glasgrünen Augen starrten fast unheimlich und zwingend aus den bräunlichen Schatten, die sie umrahmten.

Es war das Bild der Mutter – und auch ihr eigenes, wenn sie sich damit im Spiegel verglich.

Wie zart und zierlich war doch der Vater im Vergleiche mit seiner wilden böhmischen Bauernmadonna gewesen.

Bauernmadonna, ein Wort, das die Mutter immer wütend gemacht hatte und das sie nicht hören konnte, denn sie wollte eine feine Dame sein und kein Mensch sollte das Bauernblut in ihr ahnen. Sie wollte ihrem Franz ebenbürtig werden – wenigstens äußerlich. Das war immer ihr brennender Ehrgeiz gewesen.

»Weiß Gott, wieviel Blut vom böhmischen Uradel in meinen Adern fließt. In unserer Gegend waren sie alle begütert, die großen Herren des Landes, die heimlichen, ungekrönten böhmischen Könige. Vielleicht bin ich überhaupt selber eine heimliche böhmische Gräfin und du nur ein kleiner steirischer Baron.«

Und wieder saß Marianne an dem Schreibtisch. Aber sie wühlte nicht mehr in den alten Papieren. Erinnerungen waren aufgewacht. Gelb-rot wogende Kornfelder sah sie vor sich und ein Häuschen, mit Stroh gedeckt, halb in den Boden versunken. Und eine alte Frau saß auf der Bank vor der Türe, zu der sie Großmutter sagen sollte und deren Sprache sie nicht verstand.

Plötzlich abends, als die Sonne glühend über die Ebene herabsank, die in grau-violettem Dunst sich weithin erstreckte, kam ein großes braunes Pferd in kurzem Trabe herangesprengt. Ein junger Offizier glitt aus dem Sattel – und die Mutter schrie auf und lachte und weinte, und der Mann hob sie empor, trug sie hinein und küßte das gelbe Haar, den roten Mund und die lichten Augen. Und dann nahm er sie selbst, die kleine Marzi – wie er sie rief – auf den Arm, ganz leise und behutsam, und streichelte sie und flüsterte immer wieder: »Mein liebes, kleines Mäderl.«

 

Ein heißer, trüber Schleier sank über Mariannens Augen, und ein wildes, fassungsloses Schluchzen brach aus ihr heraus.

»Armer Papa? Liebe Mama! Niemand, niemand ist mehr da, der mich lieb hat und der sich um mich kümmert. Arm und schutzlos stehe ich einer feindseligen Welt gegenüber, die mir und den Meinen alles genommen hat und nur darauf lauert, auch mich ganz in den Staub zu treten. Was soll mit mir geschehen? Was soll aus mir werden?«

Und sie fühlte, wie sie tiefer und tiefer im dumpfen Elend der Massen versank. Wie eine Ertrinkende reckte sie die Arme hilfeheischend empor. Aber alles blieb stumm, und nur die kleine Uhr tickte eilig und gleichmütig weiter durch die Trostlosigkeit dieser langen Nacht.


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