Charles Dickens
Oliver Twist.Aus dem Englischen von Julius Seybt
Charles Dickens

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Einundfünfzigstes Kapitel.

Enthüllung mehr als eines Geheimnisses und ein Heiratsantrag ohne Erwähnung eines Leibgedinges oder Nadelgeldes.

Zwei Tage nach den im vorigen Kapitel erzählten Ereignissen befanden sich Mrs. Maylie und Rose, Oliver und der gute Doktor, Mr. Brownlow und Mrs. Bedwin und noch jemand auf der Reise nach Olivers Geburtsstadt. Oliver vermochte nur schwer seine Gedanken zu sammeln, und den übrigen erging es keineswegs besser. Brownlow hatte ihn und die beiden Damen mit den Monks abgepreßten Aussagen genau bekannt gemacht; und obwohl sie wußten, daß der Zweck ihrer Reise in der Vollendung des so glücklich angefangenen Werkes bestand, so war doch die ganze Sache noch in ein so beträchtliches Dunkel gehüllt, daß die größte Spannung sie folterte, obgleich Brownlow und Losberne die Schreckensauftritte der letzten Tage für jetzt noch verborgen vor ihnen gehalten hatten; und so setzten sie denn ihre Reise schweigend miteinander fort.

Sie gelangten währenddessen auf die Straße, auf welcher Oliver einst entflohen war, und mit Lebhaftigkeit erneuerte sich ihm die Erinnerung an jene Leidenszeit. »Sehen Sie, da, da!« rief er in der höchsten Erregtheit, Roses Hand ergreifend und aus dem Wagenfenster hinauszeigend. »Das ist der Steg, über den ich hinübersprang, und das ist die Hecke, hinter welcher ich fortschlich, und das ist der Fußpfad, der nach dem Hause führt, wo ich mich als kleines Kind aufhielt. O Dick, mein lieber Dick, wenn ich dich doch jetzt auch sehen könnte!«

»Du wirst ihn bald sehen,« sagte Rose; »sollst ihm sagen, wie glücklich du geworden bist und wie dich nichts so sehr freute, als daß du gekommen seiest, um ihn an deinem Glücke teilnehmen zu lassen.«

»Ja, ja! Und wir wollen ihn mit uns fortnehmen, ihn kleiden, und er muß an einen guten Ort, wo er stark und gesund werden kann – nicht wahr?«

Rose nickte bejahend, denn der Knabe lächelte durch so selige Tränen, daß sie keines Wortes mächtig war.

»Sie werden freundlich und liebevoll gegen ihn sein,« fuhr Oliver fort, »denn Sie sind es gegen jedermann. Ich weiß es, Sie werden weinen müssen, wenn Sie hören, was er Ihnen wird erzählen können, aber auch wieder lächeln, wie Sie es bei mir taten, als ich so ganz anders geworden war. Er sagte, als ich fortlief: ›Geh mit Gott, Gottes Segen begleite dich!‹ o, und ich will nun sagen: ›Gottes Segen sei mit dir‹ und ihm zeigen, wie lieb ich ihn dafür habe!«

Als sie endlich durch die engen Straßen der Stadt fuhren, war Oliver wie außer sich. Da war des Leichenbestatters Haus, nur weit kleiner und lange nicht so stattlich, wie es ihm vormals erschienen war, und alle wohlbekannten Gebäude und Läden und Gamfield's Karren wie sonst vor dem Gasthause, und das Armenhaus, das traurige Gefängnis seiner Kinderzeit, mit den düsteren Fenstern, und am Tore stand derselbe hagere Pförtner. Oliver schreckte unwillkürlich zurück, lachte über sich selbst, so töricht zu sein, und weinte und lachte aber- und abermals. So viele Gesichter an den Türen und Fenstern erkannte er wieder; es war ihm, als wenn er die Stadt erst gestern verlassen hätte und als wenn seine letzte Zeit nur ein glücklicher Traum gewesen wäre.

Allein sie und die Gegenwart waren Wirklichkeit. Die Reisenden fuhren vor dem ersten Gasthause vor, das Oliver einst wie einen Palast angestaunt hatte, und Mr. Grimwig empfing sie dienstbeflissen, küßte die alte und junge Dame, und war lauter Lächeln und Freundlichkeit, als wenn er aller Großvater wäre und nicht von fern daran dächte, seinen Kopf aufzuessen, nicht einmal, als er einem sehr alten Postillon widersprach und es besser zu wissen behauptete, welcher Weg der nächste nach London wäre, obwohl er denselben nur ein einziges Mal gekommen, und obendrein im Schlafe. Die Zimmer und das Mittagsessen standen bereit, und alles war wie durch Zauber geordnet.

Man kleidete sich um, kam wieder zusammen, und dieselbe Stille und Zurückhaltung begann wieder zu herrschen. Brownlow erschien nicht beim Mittagsessen; die beiden andern Herren liefen mit wichtigen Mienen aus und ein und flüsterten miteinander, wenn sie im Zimmer waren. Endlich wurde auch Mrs. Maylie hinausgerufen und kehrte erst nach einer Stunde mit rotgeweinten Augen zurück. Dieses alles versetzte Rose und Oliver, die in die neuesten Geheimnisse nicht eingeweiht waren, in große Unbehaglichkeit und Unruhe. Sie saßen stumm da, und wenn sie bisweilen ein paar Worte sprachen, so geschah es flüsternd, als ob sie den Laut ihrer eigenen Stimmen fürchteten.

Es war neun Uhr geworden und sie fingen an zu glauben, daß sie vor Morgen nichts mehr hören würden, als die Herren Losberne, Grimwig und Brownlow mit einem Manne hereintraten, bei dessen Erblicken Oliver im Begriff war laut aufzuschreien. Sie sagten ihm, es wäre sein Bruder, und es war derselbe, den er in dem Städtchen mit Fagin am Fenster seines kleinen Zimmers gesehen hatte. Monks oder Eduard Leeford setzte sich unweit der Tür und konnte sich auch jetzt nicht enthalten, dem erstaunten Knaben einen Blick giftigen Grolls zuzuwerfen. Brownlow trat mit Papieren in der Hand an den Tisch, in dessen Nähe Rose und Oliver saßen.

»Diese in London vor mehreren Herren unterzeichneten Erklärungen,« hub er an, »müssen im wesentlichen hier wiederholt werden, so peinlich es allen Beteiligten auch sein mag. Ich hätte Ihnen die Demütigung gern erspart, allein es ist notwendig, daß wir Ihre Aussage aus Ihrem eigenen Munde hören, und Sie wissen, warum.«

»Fahren Sie fort,« sagte Monks, sich abwendend. »Rasch. Ich habe genug getan. Halten Sie mich nicht auf!«

»Dieser Knabe,« sprach Brownlow weiter, die Hand auf Olivers Kopf legend, »ist Ihr Halbbruder, der Sohn Ihres Vaters, meines teuern Freunds Edwin Leeford, von der jungen Agnes Fleming, der die Geburt des Kindes das Leben kostete.«

»Ja,« sagte Monks, dem zitternden Knaben, dessen Herzschläge er fast zu hören meinte, fortwährend finstergrollende Blicke zuwerfend. »Er ist der Bastard.«

»Der Ausdruck, dessen Sie sich bedienen,« entgegnete Brownlow im Tone strengen Tadels, »enthält einen Vorwurf gegen Verstorbene, die den kurzsichtigen Richtersprüchen dieser Welt längst entrückt sind, und beschimpft keinen Lebenden, Sie selbst ausgenommen. Doch genug davon. Der Knabe ist in dieser Stadt geboren?«

»Im Armenhause dieser Stadt. Sie haben es da aufgezeichnet.«

»Die hier Anwesenden müssen es auch hören.«

»So hören Sie. Als sein Vater in Rom erkrankt war, begab sich seine Frau, meine Mutter, zu ihm – soviel ich weiß, um sein Vermögen an sich zu nehmen, denn sie hatte keine Zuneigung zu ihm, wie er nicht zu ihr. Sie nahm mich mit. Er kannte uns nicht, denn er lag schon ohne Bewußtsein und schlummerte bis zum folgenden Tage fort, an dem er starb. In seinem Schreibtische befand sich ein Päckchen Papiere, datiert vom ersten Tage seiner Krankheit und adressiert an Sie, Mr. Brownlow, mit der Bemerkung, daß es erst nach seinem Tode zu befördern sei. Das Päckchen enthielt ein Schreiben an Agnes Fleming und ein Testament. Das Schreiben war voll von reuigen Bekenntnissen seiner gegen sie angewandten Verführungskünste und Bitten zu Gott um Beistand für sie. Es fehlten zu der Zeit nur noch ein paar Monate bis zu ihrer Entbindung. Er sagte ihr, was er zu tun beabsichtigte, ihre Unehre zu verbergen, wenn er am Leben bliebe, und flehte sie an, falls er sterbe, seinem Andenken nicht zu fluchen, oder zu glauben, daß sein und ihr Vergehen an ihr und ihrem Kinde heimgesucht werden würde, denn die ganze Schuld wäre sein. Er erinnerte sie an den Tag, an welchem er ihr das kleine Schloß geschenkt und den Ring mit ihrem Taufnamen und einem offenen Raume für den Namen, den er gehofft auf sie übertragen zu können; bat sie, das Geschmeide, wie sonst, auf ihrem Herzen zu bewahren, und wiederholte dann das alles aber- und abermals, als wenn er von Sinnen gewesen wäre – was, wie ich glaube, auch wirklich der Fall gewesen ist.«

»Aber das Testament,« fiel Brownlow ein, da Oliver schmerzliche Zähren über die Wangen hinabliefen, »war in demselben Sinne und Geiste abgefaßt. Er sprach darin von dem Elende, das ihm seine Frau bereitet, von der frühen Bosheit und Ruchlosigkeit seines einzigen in Haß gegen ihn erzogenen Sohnes und vermachte Ihnen und Ihrer Mutter Jahrgelder von je achthundert Pfund. Die Masse seines Vermögens teilte er in zwei gleiche Teile und bestimmte den einen für – Agnes Fleming, und den andern für sein und ihr Kind, wenn es lebendig geboren würde und die Jahre der Mündigkeit erreichte. Wenn es ein Mädchen wäre, so sollte ihm die Erbschaft bedingungslos zufallen; wäre es aber ein Knabe, so sollte sie an die Bedingung geknüpft sein, daß der Erbe bis zu den Jahren der Mündigkeit seinen Namen durch keinerlei öffentliches Vergehen befleckte. Ihr Vater traf diese Bestimmung, wie er sagte, um dadurch sein Vertrauen zu der Mutter und seine, durch den herannahenden Tod nur verstärkte Überzeugung darzulegen, daß ihr Kind ihre Tugenden, ihre edlen Gesinnungen erben würde. Wenn seine Voraussetzung nicht einträfe, sollte das Geld Ihnen zufallen; denn nur wenn beide Kinder einander gleich wären, sollte Ihr früherer Anspruch auf sein Vermögen anerkannt sein, der Sie keine Ansprüche auf sein Herz, und ihm von der frühesten Kindheit an Kälte und Abneigung bewiesen hätten.«

»Meine Mutter,« nahm Monks, und zwar mit lauterer Stimme wieder das Wort, »tat, was einer Mutter zukam – sie verbrannte dieses Testament. – Das Schreiben gelangte nie an seine Adresse, sie bewahrte es aber nebst anderen Dokumenten auf, falls die Flemings den Versuch machen sollten, den Makel abzuleugnen. Agnes' Vater vernahm die Wahrheit über sie mit jeder Übertreibung und Vergrößerung, die ihr bitterer Haß – wofür ich sie jetzt liebe –, hinzuzufügen vermochte. Sein verletztes Ehrgefühl bewog ihn, sich mit seinen Kindern nach einem entlegenen Orte in Wales zu begeben, und um desto gewisser selbst seinen Freunden verborgen zu bleiben, sogar seinen Namen zu verändern. Er wurde nicht lange darauf tot in seinem Bette gefunden. Die Tochter war einige Wochen zuvor heimlich entwichen. Er hatte selbst die Umgegend nach ihr durchstreift, war aber mit der Überzeugung zurückgekehrt, daß sie sich den Tod gegeben, und überlebte seinen Kummer nur wenige Stunden.«

Es trat ein kurzes Stillschweigen ein, bis Brownlow den Faden der Erzählung wieder aufnahm. »Nach Jahren,« sagte er, »erschien dieses jungen Mannes – Eduard Leefords – Mutter bei mir. Er hatte sie in seinem achtzehnten Jahre verlassen, sie ihrer Juwelen und ihres Geldes beraubt, hatte gespielt, vergeudet, gefälscht und war nach London gegangen, wo er sich dem schlechtesten Gesindel zugesellte. Sie litt an einer schmerzhaften und unheilbaren Krankheit und wünschte ihn vor ihrem Tode noch wiederzusehen. Es wurden die genauesten Nachforschungen angestellt, welche endlich Erfolg hatten. Er ging mit ihr nach Frankreich zurück.«

»Und sie starb dort,« fiel Monks ein, »nachdem sie lange auf dem Siechbette gelegen; kurz vor ihrem Tode vermachte sie mir diese Geheimnisse, samt ihrem unauslöschlichen und tödlichen Hasse gegen alle in diese Angelegenheit Verwickelten, was jedoch unnötig war, denn er lebte schon seit langer Zeit in mir. Sie wollte es nicht glauben, daß das Mädchen sich und dem Kinde den Tod gegeben, sondern hielt sich überzeugt, daß ein Knabe geboren und am Leben wäre. Ich schwur ihr, wenn je das Dasein eines solchen zu meiner Kunde gelangte, ihm nachzuspüren, ihm nimmer Ruhe zu lassen, ihn mit der bittersten, unversöhnlichsten Feindschaft zu verfolgen, allen Haß an ihm auszulassen, dessen mein Innerstes fähig war – ihn, den hochtrabenden Worten des beleidigenden Testaments zum Hohne, an den Galgen zu bringen. Sie hatte recht gehabt. Er kam mir endlich in den Weg; ich machte einen guten Anfang – und würde – ja, würde geendet haben, wie begonnen, wenn nicht eine schwatzmäulige Trulle meine Anschläge vereitelt hätte!«

Der Schändliche schlug sich mit der Hand vor die Stirn, murmelte in der Wut ohnmächtiger Bosheit Verwünschungen über sich selbst; Brownlow wandte sich unterdessen zu seinen entsetzten Freunden und sagte ihnen, daß der Jude, der Leefords alter Vertrauter und Helfershelfer gewesen wäre, eine große Belohnung von ihm für Olivers Umstrickung erhalten hätte. Es sei ausbedungen gewesen, daß er einen Teil der gezahlten Summe zurückerstatten solle, falls Oliver wieder frei würde, und ein Streit über diesen Punkt habe beide auf das Land geführt, welche Reise den Zweck gehabt, zu erkunden, ob der von Mrs. Maylie aufgenommene Knabe wirklich Oliver sei.

»Was haben Sie von dem Schlosse und Ringe zu sagen?« fragte Brownlow, Monks wieder anredend.

»Ich kaufte sie den Leuten ab, von welchen ich Ihnen gesagt habe. Sie hatten sie der Wärterin entwandt, die sie der Leiche abgenommen hatte,« erwiderte Monks, ohne die Augen aufzuschlagen. »Sie wissen, was daraus geworden ist.«

Brownlow gab Grimwig einen Wink, dieser eilte voller Eifer hinaus und kehrte nach wenigen Augenblicken mit dem widerstrebenden Ehepaare aus dem Armenhause zurück.

»Trügen mich meine Augen, oder sehe ich den kleinen Oliver wirklich vor mir?« rief Mr. Bumble mit schlecht erkünsteltem Entzücken. »Ach, Oliver, wenn du wüßtest, wie bekümmert ich um dich gewesen bin!«

»Schweig, Dummkopf!« murmelte seine Ehehälfte.

»Frau, kann ich meinen Gefühlen wehren,« entgegnete er, »wenn ich, der ich ihn kirchspielmäßig erzogen habe, ihn sitzen sehe zwischen den allerangenehmsten Damen und Herren? Ich hatte den Knaben immer so lieb, als wenn er mein eigner – eigner Großvater gewesen wäre,« sprudelte Mr. Bumble heraus, nachdem er mühsam dem passendsten Vergleiche nachgesonnen hatte. »Master Oliver, mein guter Oliver, erinnerst du dich noch des lieben braven Herrn mit der weißen Weste? Ach, er schied vorige Woche von der Erde in den Himmel, in einem eichenen Sarge mit plattierten Griffen, Oliver.«

»Seien Sie so gut, Ihre Gefühle für sich zu behalten, Sir,« fiel Grimwig bissig ein.

»Ich will mein möglichstes tun, Sir,« erwiderte Bumble, und wandte sich zu Brownlow: »Wie befinden Sie sich, Sir? Hoffentlich sehr wohl.«

Brownlow beachtete seine Frage nicht, trat dicht vor das Ehepaar, wies nach Monks und fragte seinerseits: »Kennen Sie den Mann?«

»Nein,« antwortete Frau Bumble keck.

»Vielleicht kennen Sie ihn, Mr. Bumble?«

»Ich habe ihn nie in meinem Leben gesehen.«

»Ihm auch nichts verkauft?«

»Nein,« sagte Frau Bumble.

»Hatten Sie nicht einmal ein goldenes Schloß und einen Ring?«

»Behüte. Sind wir denn bloß hier, um so läppische Fragen zu beantworten?«

Brownlow gab Grimwig abermals einen Wink, und abermals enteilte Grimwig mit ungemeinem Eifer und kehrte mit zwei alten, wankenden, gichtischen Frauen zurück.

»Sie verschlossen die Tür an dem Abend, da die alte Sally starb, konnten aber die Ritzen nicht verstopfen,« sagte die eine, ihre welke Hand emporhebend, und die andere stimmte bei.

»Wir hörten,« fuhr die erste fort, »daß sie Ihnen sagen wollte, was sie getan hatte, und sahen, daß Sie ihr etwas in Papier aus der Hand nahmen, und am anderen Tage, daß Sie zum Pfandleiher gingen.«

»Ja,« fügte die zweite hinzu, »und wir spürten auch aus, daß in dem Papiere ein goldenes Schloß und ein Ring gewesen war.«

»Und wissen noch mehr,« sprach die erste weiter. »Die alte Sally hat uns oft erzählt, die junge Frauensperson hätte ihr gesagt, daß sie gefühlt hätte, sie würde es nicht überleben, und wäre zur Zeit, da sie den Knaben geboren, auf dem Wege gewesen, um am Grabe des Vaters ihres Kindes zu sterben.«

»Wollen Sie den Pfandleiher sehen?« fragte Grimwig, mit der Hand auf dem Türgriffe.

»Nein,« antwortete Frau Bumble. »Da er –« sie wies nach Monks – »so memmenhaft gewesen ist, zu bekennen, wie ich sehe, daß er es gewesen, und da Sie aus all' den alten Hexen die rechten herausgespürt, so habe ich nichts mehr zu sagen. Ja, ich verkaufte die alten Scharteken; sie liegen, wo Sie sie nimmer wiederfinden werden, und was nun mehr?«

»O, nichts weiter,« sagte Brownlow, »als daß es jetzt unsere Sache ist, Sorge zu tragen, daß man Ihnen und Ihrem Manne kein Vertrauen als Beamten mehr schenkt. Sie können gehen.«

»Ich will doch hoffen,« nahm Bumble bestürzt das Wort, als Grimwig die beiden alten Frauen hinausführte, »daß mich dieser unglückliche kleine Umstand meines Kirchspieldienstes nicht berauben wird?«

»Das wird er allerdings,« erwiderte Brownlow, »und Sie können sehr froh sein, wenn Sie noch so davonkommen.«

Frau Bumble entfernte sich, und sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, erklärte ihr Eheherr, daß sie alles getan und sich davon nicht hätte zurückhalten lassen wollen.

»Das ist keine Entschuldigung,« sagte Brownlow. »Sie waren gegenwärtig bei dem Verkaufe und sind vor dem Gesetze der noch schuldigere Teil, da Ihre Frau gemäß demselben unter Ihrer Leitung handelt.«

»Wenn das Gesetz so lautet,« sagte Bumble, seinen Hut pathetisch zusammendrückend, »so ist es ein Esel – ein Einfaltspinsel. Wenn es so kurzsichtig ist, so ist's ein bloßer Junggesell, und ich wünsche ihm das Allerärgste – nämlich, daß ihm die Augen durch Erfahrung geöffnet werden mögen – ja, durch Erfahrung!«

Er folgte nach diesen Worten seiner Ehehälfte mit verzweifelter Resignation, und Brownlow wandte sich zu Rose.

»Mein liebes Fräulein, reichen Sie mir Ihre Hand. Zittern Sie nicht; Sie können die wenigen Worte, welche wir noch zu sagen haben, ohne Furcht hören.«

»Ich weiß nicht, ob sie Bezug auf mich haben können,« sagte Rose, »aber wenn – wenn es der Fall ist, so lassen Sie sie mich ein andermal hören. Ich habe jetzt nicht die Kraft dazu.«

»Sie sind stärker, als Sie glauben,« wandte Brownlow ein; »ich weiß es. Kennen Sie diese junge Dame, Sir?«

Monks bejahte.

»Ich sah Sie nie,« sagte Rose mit bebender Stimme.

»Ich habe Sie oft gesehen,« versetzte Monks.

»Der unglücklichen Agnes Vater hatte zwei Töchter,« fiel Brownlow ein. »Was war das Schicksal der anderen – der jüngsten?«

»Als ihr Vater starb,« antwortete Monks, »an einem fremden Orte, unter angenommenem Namen, ohne das mindeste zu hinterlassen, was zur Auffindung ihrer Verwandten hätte führen können, nahmen arme Leute sie zu sich und erzogen sie. Der Haß spürt nicht selten auf, was der Liebe verborgen bleibt. Meine Mutter fand das Kind nach Jahresfrist. Die Leute waren arm und fingen an, ihrer aufopfernden Großmut müde zu werden. Zum wenigsten war es bei dem Manne der Fall. Meine Mutter ließ ihnen das Mädchen daher, gab ihnen ein unbedeutendes Geschenk an Geld und versprach mehr, was sie aber nie zu schicken gedachte. Die Armut und Unzufriedenheit der Leute verhießen, daß das Kind unglücklich genug werden würde, schienen meiner Mutter indes noch nicht ganz zu genügen. Sie erzählte ihnen daher die Geschichte der Schwester mit angemessenen Veränderungen und sagte ihnen, sie möchten auf das Kind sorgfältig achten, denn es stamme von bösem Blute her, wäre unehelich geboren und würde früher oder später auf üble Wege geraten. Die Umstände schienen das alles zu bestätigen, die Leute glaubten es und behandelten das Kind so hart, wie wir es nur wünschen konnten, bis der Zufall wollte, daß eine damals in Chester wohnende verwitwete Dame aus Mitleid es mit sich fortnahm. Es war, als wenn ein Höllenspuk uns genarrt hätte, denn trotz all' unserer Anstrengungen blieb des alten Fleming Tochter bei der Dame und war glücklich; ich verlor sie vor ein paar Jahren aus den Augen und sah sie erst vor wenigen Monaten wieder.«

»Sehen Sie die junge Dame jetzt?«

»Ja – sie lehnt an Ihrem Arme.«

Rose war einer Ohnmacht nahe. Mrs. Maylie schloß sie in die Arme und rief aus: »Du bist und bleibst meine liebe Nichte – mein über alles teures Kind. Ich möchte dich um alle Schätze der Welt nicht verlieren.«

»Sie sind die einzige Freundin, die ich jemals hatte,« schluchzte Rose, »sind mir stets die liebreichste, beste Mutter gewesen. O wie soll ich dieses alles ertragen!«

»Du hast mehr erduldet und hast dich unter jeglichem Leid als das beste, herrlichste Mädchen gezeigt und von jeher alle froh und glücklich gemacht, die dich kannten. Aber schau' hier, wer es ist, der sich sehnt, dich in die Arme zu schließen.«

»O, ich werde sie niemals Tante nennen,« rief Oliver. »Meine Schwester, meine liebe Schwester. Es war etwas in meinem Herzen, das mich von Anfang trieb, sie so innig zu lieben. O Rose, meine beste Rose!«

Mögen die Tränen, welche geweint, die abgebrochenen Worte, die in der Umarmung der beiden Waisen gewechselt wurden, geheiligt sein! Ein Vater, eine Schwester und Mutter waren in demselben Augenblick gewonnen und verloren; Freude und Schmerz gemischt in der Schale; doch war keine Zähre eine bittere, denn auch der Schmerz war so gemildert, und so süße, wonnige Gedanken gesellten sich ihm, daß er in eine hohe Freude verwandelt wurde und ganz seinen Stachel verlor.

Sie waren eine lange, lange Zeit allein. Endlich wurde leise geklopft, Oliver öffnete die Türe, schlich hinaus und Harry Maylie stand im Zimmer.

»Ich weiß alles,« sagte er, neben der lieblichen Jungfrau Platz nehmend. »Teuere Rose, ich weiß alles, – wußte es gestern schon – und komme, dich an ein Versprechen zu erinnern. Du gabst mir die Erlaubnis, jederzeit innerhalb eines Jahres auf den Gegenstand unserer letzten Unterredung zurückzukommen – nicht in dich zu dringen, deinen Entschluß zu ändern, dich ihn wiederholen zu hören, wenn du wolltest. Ich sollte dir zu Füßen legen dürfen, was ich besäße, nur ohne den Versuch zu machen, wenn du bei deinem Entschlusse beharrtest, ihm untreu zu werden.«

»Dieselben Gründe, welche mich damals bestimmten, bestimmen mich noch jetzt,« erwiderte Rose mit Festigkeit. »In welchem Augenblicke könnte ich lebhafter empfinden, was ich der edlen Frau schuldig bin, die mich von einem leiden- und vielleicht schmachvollen Leben errettet hat? Ich habe einen Kampf zu kämpfen, bin aber stolz darauf, ihn zu bestehen; er ist ein schmerzlicher, aber mein Herz wird nicht erliegen.«

»Die Enthüllungen dieses Abends –«

»Lassen mich in bezug auf dich in derselben Lage.«

»Du verhärtest dein Herz gegen mich, Rose.«

»O Harry, Harry,« sagte Rose, in Tränen ausbrechend, »ich wollte, daß ich es könnte, um mir diese Pein zu ersparen.«

»Warum aber fügst du sie dir selber zu?« entgegnete Harry, ihre Hand ergreifend. »Denk' doch an das, was du heute abend vernommen, Rose!«

»Ach, was habe ich vernommen! Daß mein Vater den ihm zugefügten Schimpf tief genug empfand, um sich in gänzliche Verborgenheit zurückzuziehen – o Harry, wir haben genug gesagt.«

»Noch nicht, noch nicht,« rief er, die Aufstehende zurückhaltend. »Meine Hoffnungen, Wünsche, Entwürfe, Gefühle – alles in mir ist anders geworden, nur meine Liebe nicht. Ich biete dir jetzt keine Auszeichnung, keine glänzende Stellung mehr in einer verkehrten, trugvollen Welt, in welcher alles beschimpft, nur das wahrhaft Schandbare nicht; nein, nur einen stillen, bescheidenen häuslichen Herd, liebste Rose, mehr habe ich nicht zu bieten.«

»Was willst du damit sagen?« stammelte die junge Dame.

»Als ich das letzte Mal von dir schied, verließ ich dich mit dem festen Entschlusse, alle eingebildeten Schranken zwischen dir und mir niederzureißen – deine Welt zur meinigen zu machen, wenn die meinige nicht die deine sein könnte – und dem Geburtsstolze den Rücken zu wenden, damit er nicht hochmütig auf dich herabzuschauen vermöchte. Ich habe es getan. Die mich an sich zogen, entfernten sich von mir – die mich anlächelten, zeigen mir frostige Mienen. Wohl! es gibt lachende Gefilde und schattige Bäume in Englands schönster Grafschaft, dort neben einer Dorfkirche – der meinigen, Rose, steht ein ländliches Haus, auf das du mich stolzer machen kannst, als es alle die Hoffnungen und Aussichten vermögen, denen ich entsagt habe, entsagt haben würde, und wenn sie noch tausendmal lockender gewesen wären. Das ist jetzt mein Besitztum und mein Stand, meine Stellung in der Welt – und ich lege alles vor dir nieder.«


»'s ist 'ne Geduldsprobe, mit dem Abendessen auf Verliebte zu warten,« sagte Grimwig, aus einem Schläfchen erwachend.

Die Wahrheit zu sagen, das Abendessen ließ ungebührlich lange auf sich warten, und weder Mrs. Maylie noch Harry oder Rose (die zugleich erschienen) wußten auch nur ein Wort zur Entschuldigung zu sagen.

»Ich dachte ernstlich daran, heute abend meinen Kopf aufzuessen,« sagte Grimwig, »denn ich fing an zu glauben, daß ich weiter nichts bekommen würde. Wenn Sie erlauben, so nehme ich mir die Freiheit, die angehende Braut zu küssen.«

Er verlor keine Zeit, seine Ankündigung bei dem errötenden Mädchen zur Ausführung zu bringen, und sein Beispiel ermunterte den Doktor und Brownlow zur Nachfolge. Einige wollen wissen, Harry Maylie hätte es selbst in einem anstoßenden dunkeln Zimmer gegeben, was jedoch von den besten Autoritäten für arge Verleumdung erklärt wird, da er jung und ein Geistlicher gewesen wäre.

»Mein lieber Oliver, wo bist du gewesen, und warum siehst du so traurig aus?« fragte Mrs. Maylie. »Wie – Tränen in diesem Augenblicke?«

Wir leben in einer Welt der Täuschungen. Wie oft sehen wir unsere liebsten – die am meisten uns ehrenden Hoffnungen vereitelt!

Der arme kleine Dick war tot.

 


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