Charles Dickens
Oliver Twist.Aus dem Englischen von Julius Seybt
Charles Dickens

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechsundzwanzigstes Kapitel.

In welchem eine geheimnisvolle Person auftritt und viel von der Erzählung Untrennbares geschieht.

Der alte Mann hatte die Straßenecke erreicht, bevor er anfing sich von dem Schrecken wieder zu erholen, den ihm Tobys Mitteilungen eingejagt hatten. Er eilte soviel wie möglich durch Nebenstraßen und Gassen fast sinnlos immer vorwärts, so daß er beinahe von einem Mietswagen überfahren worden wäre, und langte endlich auf Snow-Hill an, wo er seine Schritte noch beschleunigte, bis er in eine lange und enge Gasse eingebogen war. Jetzt schien er sich auf seinem Terrain zu fühlen und freier zu atmen, denn er lief nicht mehr, sondern verfiel in seinen gewöhnlichen halb trippelnden, halb schlürfenden Gang.

Nicht weit von der Stelle, wo Snow-Hill und Holborn-Hill zusammenstoßen, öffnet sich rechter Hand, wenn man aus der City kommt, eine nach Saffron-Hill führende enge und erbärmliche Straße – Field-Lane – mit zahllosen schmutzigen Läden, in welchen die Taschentücher feilgeboten werden, welche die Ladenbesitzer von den Taschendieben erhandelt haben. Die Straße hat ihren eignen Barbier, ihr Kaffeehaus, ihre Bierstube und ihre Garküche. Sie bildet eine eigne Handelskolonie, ist der Stapelplatz für die tausenderlei Artikel, die Industriefrüchte der kleineren Diebe, und wird am frühen Morgen und in der Abenddämmerung von schweigsamen Handelsleuten besucht, die in finsteren Hinterzimmern ihre Geschäfte abmachen und auf so absonderliche Art gehen, wie sie kommen.

In Field-Lane lenkte der Jude ein. Er war den Bewohnern sehr wohl bekannt, von denen einer nach dem andern dem Vorübergehenden vertraulich zunickte. Er erwiderte ihre Begrüßungen auf dieselbe Weise, hielt sich indes nirgends auf, bis er den Ausgang der Straße erreicht hatte, wo er einen Handelsmann von sehr kleiner Statur anredete, der in seinem Laden saß und behaglich seine Pfeife rauchte. Er fragte ihn, wie er sich befände.

»Vortrefflich! Aber in aller Welt, Mr. Fagin, wie, bekommt man Euch einmal wieder zu sehen?« erwiderte das Männchen.

»Die Nachbarschaft hier war zu heiß ein wenig, Lively!« sagte Fagin, die Augenbrauen emporziehend und die Hände über der Brust kreuzend.

»Hm! ich habe wohl schon ein paarmal darüber klagen hören; sie kühlt sich indes bald wieder ab – findet Ihr das nicht auch?«

Fagin nickte, wies nach Saffron-Hill und fragte, ob dort zu Abend jemand wäre.

»In den Krüppeln?« fragte der kleine Handelsmann.

Der Jude bejahete.

»Wartet mal,« fuhr der Handelsmann nachsinnend fort. »Ja, es ist ein halbes Dutzend hineingegangen, soviel ich gesehen habe. Ich glaube aber nicht, daß Euer Freund dort ist.«

»Ist Sikes nicht da?« fragte Fagin mit der Miene getäuschter Erwartung.

»Nein,« erwiderte der Kleine, mit einem unsagbar schlauen Ausdruck den Kopf schüttelnd. »Habt Ihr nichts zu handeln heute?«

»Heute nicht,« erwiderte der Jude im Fortgehen.

»Geht Ihr in die Krüppel, Fagin?« rief ihm der kleine Handelsmann nach. »Ich will mitgehen und 'nen Tropfen mit Euch trinken.«

Fagin winkte ihm mit der Hand, ihm bedeutend, daß er allein zu bleiben wünsche, und die Krüppel wurden somit für dieses Mal der Ehre des Besuchs Mr. Livelys beraubt, zumal der kleine Mann nicht leicht von seinem Geschäfte abkommen konnte. Während er sich erhoben hatte, war der Jude verschwunden, und nachdem Mr. Lively sich vergebens auf die Zehen gestellt hatte, um ihn nochmals zu Gesicht zu bekommen, mußte er sich notgedrungen wieder auf seinen Stuhl setzen und nahm nach einem bedenklichen und mißtrauischen Kopfschütteln seine Pfeife wieder zur Hand.

Die Krüppel waren das Gasthaus, in welchem Sikes und sein Hund bereits figuriert haben. Fagin gab einem Manne am Schenktische nur ein stummes Zeichen und ging geradewegs die Treppe hinauf, öffnete eine Tür, trat sacht hinein und blickte ängstlich suchend und die Augen mit der Hand beschattend umher.

Das Zimmer war durch zwei Gasflammen erleuchtet, man hatte aber die Fensterläden verschlossen und die Vorhänge dicht zugezogen. Die Decke war geschwärzt, damit ihre Farbe unter dem Qualm der Lampen nicht litte, und der ganze Raum dergestalt mit Tabaksrauch angefüllt, daß Fagin anfangs kaum einen Gegenstand zu unterscheiden vermochte. Allmählich erkannte er jedoch die zahlreiche Gesellschaft, deren Anwesenheit ihm zuerst nur durch verworrenen Lärm kund geworden war. Oben an der Tafel saß mit einem Präsidentenhammer der Wirt, ein plumper, vierschrötiger Mann, der, als ein munteres Lied gesungen wurde, sich gänzlich der allgemeinen Heiterkeit hinzugeben schien, die Augen und Ohren aber – und zwar sehr scharfe Augen und Ohren – offen und überall hatte. Ihm gegenüber an einem verstimmten Fortepiano saß ein Musiker mit bläulicher Nase und Zahnschmerzen halber verbundener Wange. Die Sänger ließen sich ihre Gläser noch weit besser als die ihnen gespendeten Lobsprüche behagen, und die Gesichter ihrer Bewunderer drückten fast jedes Laster in jeglicher Abstufung aus und waren unwiderstehlich anziehend, weil grenzenlos abstoßend. Man sah überall die mannigfachsten und wahrhaftesten Bilder der Verschmitztheit, Brutalität und Trunkenheit, und die – sämtlich noch mehr oder minder jugendlichen – Frauenzimmer trugen die abschreckendsten Spuren der Ausschweifung an sich, während in ihrem wüsten Aussehen keine Spur edler Weiblichkeit mehr zu entdecken war – so daß sie die schwärzeste und betrübendste Schattenpartie des Gemäldes bildeten.

Fagin ließ sich jedoch durch Gedanken solcher Art keineswegs beunruhigen. Seine Blicke schweiften gespannt von einem Gesicht zum andern, schienen aber vergebens zu suchen. Er winkte endlich unbemerkt dem vorsitzenden Wirte und schlich so sacht wieder hinaus, wie er hineingeschlichen war.

»Was wünscht Ihr von mir, Mr. Fagin?« fragte der Wirt leise, sobald er beim Juden draußen an der Treppe stand. »Wollt Ihr Euch nicht zu uns setzen? Die ganze Gesellschaft würde sich sehr freuen.«

Der Jude schüttelte ungeduldig den Kopf und flüsterte: »Ist er hier?«

»Nein.«

»Keine Nachricht von Barney?«

»Nein. Er wird sich auch nicht rühren, bis alles sicher ist. Verlaßt Euch drauf, sie sind ihm auf der Spur, und wenn er sich blicken ließe, würde er die ganze Geschichte verraten. 's ist alles ganz richtig mit ihm: ich hätte sonst von ihm gehört. Laßt ihn nur zufrieden; ich stehe dafür, daß er sich mit großer Klugheit benimmt.«

»Wird er nicht kommen heut' abend?«

»Meint Ihr Monks?« lautete des Wirts zögernde Gegenfrage.

»Pst! Ja doch!«

»Ich hab' ihn schon erwartet, und wenn Ihr nur zehn Minuten verweilen wollt –«

»Nein, nein,« unterbrach ihn der Jude hastig, als ob es ihn beruhigt hätte, zu hören, daß der Mann, nach welchem er gefragt, nicht anwesend sei, so begierig er, wie es schien, gewesen war, ihn zu sehen. »Sagt ihm, daß ich ihn gesucht hätte hier, und daß er noch heute abend müßte kommen zu mir – doch nein, sagt morgen. Da er einmal nicht hier ist, wird's auch morgen noch sein Zeit genug.«

»Gut! Habt Ihr noch ein Anliegen?«

»Nein, gute Nacht!« erwiderte Fagin im Hinuntergehen.

»Holla!« rief ihm der Wirt flüsternd nach, »was dies für 'ne Gelegenheit zu 'nem Geschäftchen sein würde! Ich hab' da den Phil Barker drinnen so sternigbetrunken., daß ihn ein Kind brennenbetrügen. könnte.«

»Ah so! 's ist aber noch nicht für Phil Barker die Zeit,« rief der Jude ebenso leise zurück. »Phil hat noch zu tun etwas, bis wir können ihn entbehren. Geht also wieder zu Eurer Gesellschaft, mein Lieber, und sagt den Leuten, daß sie lustig möchten leben – solange sie noch am Leben sind. Ha, ha, ha!«

Der Wirt stimmte in das heisere Lachen des alten Mannes ein und kehrte zu seinen Gästen zurück. Sobald der Jude allein war, wurden auch seine Mienen wieder nachdenklich und besorgt. Nach einem kurzen Besinnen rief er einen Mietskutscher an, befahl ihm, nach Bethnal Green zu fahren, stieg einige tausend Schritte von Sikes' Wohnung wieder aus und eilte zu Fuß weiter.

»Jetzt wird sich's schon zeigen, mein Mädchen,« murmelte er vor sich hin, als er an die Haustür klopfte; »führst du was Geheimes im Schilde, so will ich's bald haben heraus, so listig du auch bist.«

Er schlich leise hinauf und trat, ohne anzuklopfen, in Nancys Zimmer. Sie war allein und lag mit dem Kopfe, um den das Haar unordentlich herumhing, auf dem Tische. »Sie hat getrunken,« dachte er gleichgültig, »oder ist vielleicht bloß unwirsch.«

Der alte Mann drückte die Tür wieder zu, während er diese Betrachtung anstellte, und das dadurch hervorgebrachte Geräusch weckte sie aus ihrem Schlummer oder Hinbrüten; sie begegnete ruhig seinen forschenden Blicken, fragte, was es Neues gäbe, und er erzählte ihr, was er von Toby Crackit vernommen hatte. Sie hörte ihm zu, legte, ohne ein Wort zu sprechen, den Kopf wieder auf den Tisch, stieß dann das Licht ungeduldig von sich und scharrte mit den Füßen; dies war jedoch alles.

Der Jude blickte unruhig umher, als ob er sich überzeugen wollte, daß Sikes nicht insgeheim zurückgekehrt wäre. Befriedigt, wie es schien, durch sein Umherspähen, hustete er ein paarmal und machte ebensoviele Versuche, ein Gespräch anzuknüpfen; allein das Mädchen beachtete ihn nicht mehr, als wenn er eine Bildsäule gewesen wäre. Endlich nahm er sich zusammen und sagte händereibend und im freundlichsten Tone: »Was meinst du denn, liebes Kind, wo wohl sein mag Bill?«

Das Mädchen murmelte in kaum verständlichen Worten, sie könne es nicht sagen, und es schien ihm, als ob sie leise schluchze.

»Und wo wohl mag sein der kleine Oliver?« fuhr er fort, die Augen anstrengend, um etwas von ihrem Gesichte zu erspähen. »Das arme Kind – denk' nur, Nancy – wie sie's haben lassen liegen in einem Graben!«

»Da ist ihm wohler als unter uns,« sagte das Mädchen, plötzlich aufblickend; »und wenn für Bill nichts Schlimmes daraus entsteht, so will ich hoffen und wünschen, daß der Kleine tot im Graben liegt und daß seine jungen Gebeine darin verfaulen.«

Den Lippen des Juden entfloh ein Ausruf des Erstaunens.

»Ja, das hoff' und wünsch' ich,« fuhr Nancy, seinen Blicken begegnend, fort. »Ich freue mich, daß er mir aus den Augen, und zu wissen, daß das Schlimmste vorüber ist. Ich kann ihn nicht um mich haben; ich verabscheue mich selbst und euch alle, wenn ich ihn sehe.«

»Pah!« fiel der Jude verächtlich ein. »Du bist betrunken, Mädchen.«

»So – betrunken!« höhnte Nancy. »Eure Schuld ist's freilich nicht, wenn ich's nicht bin. Ich wäre niemals nüchtern, wenn's nach Eurem Willen ginge, jetzt ausgenommen! – Meine Laune scheint Euch nicht zu behagen.«

»Nein, durchaus nicht!« sagte der Jude wütend.

»So ändert sie,« fuhr das Mädchen mit Lachen fort.

»Sie ändern!« schrie der Jude, durch die unerwartete Hartnäckigkeit des Mädchens und die Verdrießlichkeiten des Abends über alle Maßen erbittert. »Ja, ich will sie ändern! Hör', was ich werde dir sagen, du liederliches Weibsbild! ich, der ich nur zu sprechen brauche sechs Worte, und Sikes wird zugeschnürt die Kehle so gewiß, wie ich würde ihn dämpfen, hätt' ich jetzt zwischen meinen Fingern seinen Stierhals. Kommt er zurück, ohne mitzubringen den Knaben – kommt er glücklich davon und bringt mir nicht ihn, lebendig oder tot, Mädchen, so morde deinen Bill selbst, wenn du willst, daß er entgehen soll dem Galgen, und tu' es ja, sobald er den Fuß hier setzt hinein ins Zimmer; denn merk', es wird sonst sein zu spät!«

»Was sagt Ihr da?« rief das Mädchen unwillkürlich aus.

»Was ich sage?« fuhr der Jude, vor Wut fast von Sinnen, fort. »Dies sag' ich! Wenn das Kind ist wert viele hundert Pfund für mich, soll ich verlieren, was mir zugewürfelt hat der Zufall, durch die Tollheiten einer betrunkenen Bande, deren Leben in meiner Gewalt ist – und indem ich obenein gesellt bin mit 'nem eingefleischten Teufel, der nur braucht zu wollen und hat die Macht, zu . . . zu . . .« –

Er keuchte atemlos, sprudelte vor Wut, bemühte sich vergebens, Worte zu finden; plötzlich aber bezwang er seinen Zorn und nahm ein ganz anderes Wesen an. Er sank zusammengekrümmt auf einen Stuhl nieder und bebte vor Angst, geheimste Schurkereien selbst offenbart zu haben. Nach einem kurzen Stillschweigen wagte er es, nach Nancy hinzublicken, und schien etwas ruhiger zu werden, als er sie wieder in derselben achtlos gleichgültigen Stellung sah, in welcher er sie gefunden hatte.

»Nancy, liebes Kind,« krächzte er in seinem gewöhnlichen Tone, »hast du gehört, was ich habe gesagt?«

»Laßt mich jetzt in Ruhe, Fagin,« antwortete sie, den Kopf matt und schläfrig emporrichtend. »Wenn es Bill diesmal nicht getan hat, so wird er's ein andermal tun; er hat manch schönes Geschäft für Euch ausgerichtet und wird Euch noch viele ausrichten, wenn er kann; kann er's aber einmal nicht, so kann er's nicht. Und nun sprecht nicht mehr davon.«

»Aber was anbelangt den Oliver, Kind?« sagte der Jude, indem er sich unruhig die Hände rieb.

»Er muß das Schicksal der anderen teilen,« fiel Nancy hastig ein; »und ich sag' es noch einmal, ich hoffe, daß er tot ist und vor Schaden und vor Euch sicher ist – das heißt, wenn Bill nichts Schlimmes begegnet; und ist Toby gut davongekommen, so wird er's ohne Zweifel auch sein, denn was der kann, kann Bill tausendmal.«

»Und was anbelangt das, was ich sagte, Kind?« sagte der Jude, sie doppelt scharf in das Auge fassend.

»Ihr müßt's alles noch einmal wiederholen, wenn Ihr wollt, daß ich etwas tun soll,« entgegnete Nancy, »und sagt mir es lieber morgen. Ihr hattet mich auf 'nen Augenblick aufgestört, aber ich bin jetzt wieder so müd' und dämlich wie vorher.«

Der Jude legte ihr noch mehrere andere Fragen in derselben Absicht vor, um zu erfahren, ob sie die ihm in einem unbewachten Augenblicke entschlüpften Andeutungen beachtet und verstanden hätte; allein sie antwortete und hielt seine forschenden Blicke so unbefangen aus, daß er seinen ersten Gedanken, daß sie zuviel getrunken, vollkommen bestätigt zu sehen glaubte. Und Miß Nancy war allerdings nicht frei von der unter Fagins Zöglinginnen gewöhnlichen Schwäche, der Neigung zum übermäßigen Genuß geistiger Getränke, in der sie in ihren zarteren Jahren eher bestärkt wurden, als daß man sie davon zurückgehalten hätte. Ihr wüstes Aussehen und der das Gemach anfüllende starke Genevergeruch dienten zum bekräftigenden Beweise der Richtigkeit der Annahme des Juden; und als sie endlich zu weinen und gleich darauf wieder zu lachen anfing und wiederholt rief: »Heisa, wer wollte den Kopf hängen lassen!« so zweifelte er, der in Sachen dieser Art seiner Zeit große eigene Erfahrungen gemacht hatte, nicht mehr und freute sich höchlich der Gewißheit, daß ihre Trunkenheit in der Tat schon einen hohen Grad erreicht hatte.

Er empfand infolge dieser Entdeckung eine große Erleichterung und entfernte sich sehr zufrieden, seinen doppelten Zweck erreicht zu haben, dem Mädchen zu hinterbringen, was ihm von Toby mitgeteilt worden war, und sich mit eigenen Augen zu überzeugen, daß Sikes nicht zurückgekehrt wäre. Es war eine Stunde vor Mitternacht und bitterlich kalt; er säumte daher nicht, seine Wohnung baldmöglichst zu erreichen. Als er an der Ecke der Straße, in welcher sie lag, angelangt war und schon in der Tasche nach dem Hausschlüssel suchte, trat plötzlich und unhörbar ein Mann hinter ihn und flüsterte seinen Namen dicht an seinem Ohre. Er wendete sich rasch um und sagte: »Ist das –«

»Ja, ich bin's« unterbrach ihn der Mann barsch. »Hab' hier seit zwei Stunden aufgepaßt. Wo zum Teufel seid Ihr gewesen?«

»Beschäftigt mit Euren Angelegenheiten, mein Lieber,« erwiderte der Jude, ihn unruhig anblickend und einen langsameren Schritt annehmend. »Den ganzen Abend beschäftigt mit Euren Angelegenheiten.«

»Ei, natürlich,« sagte der andere höhnisch. »Was habt Ihr denn ausgerichtet?«

»Nicht viel Gutes,« antwortete Fagin.

»Ich will hoffen, nichts Schlimmes,« fiel der Vermummte stillstehend und den Juden wild ansehend ein.

Fagin schüttelte den Kopf und stand im Begriff, ihm eine Antwort zu geben, als ihn der Vermummte unterbrach und sagte, er wolle lieber drinnen im Hause anhören, was er würde hören müssen, denn er wäre halb erfroren. Der Jude sah ihn mit einer Miene an, die offenbar genug verkündete, daß er des Besuches zu einer so späten Stunde gar gern überhoben wäre, und murmelte, daß er kein Feuer habe, und Ähnliches; allein der unwillkommene Gast wiederholte seine Erklärung, mit ihm gehen zu wollen, mit großer Bestimmtheit, und Fagin schloß die Haustür auf und sagte ihm, er möge sie leise wieder verschließen, während er selbst Licht holen wolle.

»'s ist hier so finster wie im Grabe,« bemerkte der Besucher, ein paar Schritte vorwärts tappend. »Macht geschwind, ich kann solche Dunkelheit nicht leiden.«

»Verschließt die Tür,« flüsterte Fagin unten auf der Hausflur, und während er sprach, wurde die Tür mit donnerndem Schalle zugeworfen.

»Das hab' ich nicht getan,« sagte Fagins Peiniger, sich vorwärts fühlend. »Der Wind schlug sie zu, oder sie schloß sich von selber. Macht geschwind, daß Ihr Licht bekommt, oder ich stoße mir in diesem verwünschten Loche den Kopf noch ein.«

Fagin schlich in die Küche hinunter und kehrte bald darauf mit einem angezündeten Lichte und der Kunde zurück, daß Toby Crackit unten im Hinter- und die Knaben im Vorderzimmer schliefen. Er winkte seinem ungebetenen Gaste und führte ihn die Treppe hinauf in ein Zimmer des oberen Stockwerks.

»Wir können sagen hier die paar Worte, die wir haben zu sagen,« begann er, als sie eingetreten waren, »und ich will das Licht setzen draußen an die Treppe, denn in den Fensterläden sind Löcher, und wir lassen niemals sehen die Nachbarn, daß wir Licht haben.«

Er stellte den Leuchter der Tür des Zimmers gegenüber, in welchem sich nur ein gebrechlicher Sessel und hinter der Tür ein altes Sofa ohne Überzug befand, auf das sich der müde Fremde warf. Der Jude setzte sich vor ihn in den Sessel. Da die Tür halb offen stand, so war es im Zimmer nicht ganz finster, und das draußen stehende Licht warf einen schwachen Schein auf die Wand gegenüber.

Sie flüsterten einige Zeit so leise miteinander, daß ein Horcher von ihrer Unterredung nur etwa soviel hätte verstehen können, um daraus zu entnehmen, daß sich Fagin gegen Beschuldigungen des Fremden verteidigte und daß sich dieser in einer sehr gereizten Stimmung befand. Sie mochten etwa eine Viertelstunde geflüstert haben, als Monks – denn so hatte der Jude seinen Besucher mehrere Male genannt – etwas lauter sagte: »Ich wiederhol's Euch, es war schlecht ausgedacht. Warum habt Ihr ihn nicht hier behalten bei den anderen und ohne weiteres 'nen jämmerlichen Taschendieb aus ihm gemacht?«

»Hör' einer an!« rief der Jude achselzuckend aus.

»Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr's nicht gekonnt hättet, wenn Ihr gewollt?« fragte Monks unwillig. »Habt Ihr's nicht bei hundert anderen Knaben verstanden? Hättet Ihr höchstens zehn bis zwölf Monate Geduld gehabt, so wär's Euch doch ein Leichtes gewesen, zu machen, daß er verurteilt und vielleicht auf Lebenszeit deportiert wurde.«

»Wem würde dabei gewesen sein gedient, mein Lieber?« fragte der Jude im demütigsten Tone.

»Mir!«

»Aber mir nicht,« fuhr Fagin fast noch unterwürfiger fort. »Wenn zwei Leute sind beteiligt bei einem Geschäft, so ist's doch nur billig, daß berücksichtigt wird der Vorteil beider.«

»Was weiter?«

»Ich sah, daß es nicht leicht war, ihn zu erziehen zum Geschäft; er hatte nicht denselben Charakter wie andere Knaben.«

»Hol' ihn der Satan, nein! denn er wäre sonst schon längst ein Spitzbube gewesen.«

»Ich hatte kein Mittel in Händen, ihn zu machen schlimmer,« fuhr der Jude, angstvoll Monks Mienen beobachtend, fort: »er hatte in nichts die Hand drin; ich konnt' ihm mit gar nichts einjagen Furcht und Schrecken, und wir arbeiten immer vergeblich, wenn das nicht angeht. Was konnt' ich tun? Ihn ausschicken mit dem Baldowerer und Charley? Es geschah, und wir hatten genug an dem einen Male, mein Bester; ich mußte zittern für uns alle.«

»Das war meine Schuld nicht,« bemerkte der finstere Monks.

»Freilich; nein, o nein, mein Lieber, und ich mache Euch auch keinen Vorwurf deshalb; denn wär's nicht geschehen, so wären Eure Blicke vielleicht nicht gefallen auf den Knaben, und wir hätten vielleicht niemals gemacht die Entdeckung, daß er es war, den Ihr suchtet. Nun gut; ich bracht' ihn wieder in meine Gewalt durch die Nancy, und jetzt fängt sie an und wirft sich auf zu seiner Freundin.«

»Schnürt ihr die Kehle zu!« sagte Monks ungeduldig.

»Geht jetzt eben nicht an, mein Lieber,« versetzte Fagin lächelnd; »und außerdem machen wir in dergleichen keine Geschäfte, sonst wär' mir's schon lieb, wenn es geschähe über kurz oder lang. Monks, ich kenne diese Dirne, sobald anfängt der Knabe verhärtet zu werden, wird sie sich nicht kümmern um ihn mehr, als um 'nen Holzblock. Ihr wollt, daß er werden soll ein Dieb; ist er noch am Leben, so kann ich ihn jetzt dazu machen; und wenn – wenn – 's ist freilich nicht wahrscheinlich – aber wenn sich das Schlimmste hat ereignet, und er ist tot –«

»Wenn er's ist, so ist's meine Schuld nicht!« unterbrach ihn Monks mit bestürzter Miene und mit bebender Hand den Juden beim Arme fassend. »Merkt wohl, Fagin! ich habe keine Hand dabei im Spiel gehabt. Ich hab's Euch von Anfang an gesagt, alles – nur nicht, daß er sterben sollte. Ich mag kein Blut vergießen – es kommt stets heraus und peinigt einen außerdem! Ist er totgeschossen, so kann ich nichts dafür; hört Ihr, Fagin? – Was – ist der Teufel in dieser verwünschten Spelunke los? – was war das?«

»Was – in aller Welt?« schrie der Jude, Monks mit beiden Armen umfassend, als derselbe plötzlich im höchsten Schrecken emporsprang. »Was – wo?«

»Dort!« erwiderte der bebende Monks, nach der Wand gegenüber hinzeigend. »Der Schatten – ich sah den Schatten eines Frauenzimmers in 'nem Mantel und Hute, wie 'nen Hauch an dem Täfelwerke dahingleiten.«

Der Jude ließ ihn los, und beide stürzten aus dem Zimmer hinaus. Das vom Zugwinde flackernde Licht, das an der Stelle stand, wo es Fagin hingestellt hatte, zeigte ihnen nur die leere Treppe und ihre erbleichten Gesichter. Sie horchten mit der gespanntesten Aufmerksamkeit, allein die tiefste Stille herrschte im ganzen Hause.

»'s ist nichts gewesen, als Eure Einbildung,« sagte der Jude, das Licht aufhebend und zu Monks sich wendend.

»Ich will darauf schwören, daß ich's wirklich sah,« versetzte Monks, fortwährend heftig zitternd. »Es beugte sich vor, als ich's erblickte und verschwand, als ich zu Euch davon zu sprechen anfing.«

Der Jude warf ihm einen verächtlichen Blick zu, forderte ihn auf, ihm zu folgen, wenn es ihm beliebe, und ging voran die Treppe hinauf. Sie schauten in alle Gemächer hinein, begaben sich wieder hinunter auf den Hausflur, in die Keller, durchsuchten jeden Winkel, allein vergebens. Es war im ganzen Hause öde und still wie der Tod.

»Was meint Ihr nun, mein Guter?« sagte der Jude, als sie wieder auf dem Hausflur standen, »'s ist im Hause kein lebendiges Wesen außer uns und Toby Crackit und den Knaben, und die sind wohl verwahrt. Schaut!«

Er nahm zwei Schlüssel aus der Tasche und fügte hinzu, daß er, als er zuerst hinuntergegangen, Toby, Dawkins und Charley eingeschlossen habe, um jede Störung des Gesprächs unmöglich zu machen. Monks wurde wankend in seinem Glauben und erklärte endlich, daß ihm seine erhitzte Einbildungskraft einen Streich gespielt haben müsse, wollte die Unterredung jedoch für diesmal nicht fortsetzen, erinnerte sich plötzlich, daß ein Uhr vorüber sei, und das liebenswürdige Freundespaar trennte sich.

 


 << zurück weiter >>