Charles Dickens
Oliver Twist.Aus dem Englischen von Julius Seybt
Charles Dickens

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Vierunddreißigstes Kapitel.

In welchem ein junger Herr auftritt und Oliver ein neues Abenteuer erlebt.

Es war fast zu viel Glück, um es tragen zu können. Oliver war durch die unverhoffte Kunde ganz betäubt; er konnte nicht weinen, nicht sprechen, nicht bleiben, wo er war. Er wußte sich erst wieder zu fassen suchen, um was er gehört, zum klaren Bewußtsein zu bringen, als er sich nach einem langen Umherschweifen in der stillen Abendlandschaft durch einen Tränenstrom erleichtert und von der fast nicht mehr zu ertragenden Last befreit fühlte, die ihm gleich einem Alp auf dem Herzen gelegen hatte.

Es dunkelte, als er nach Hause zurückkehrte, beladen mit Blumen, die er mit ungewöhnlicher Sorgfalt zur Ausschmückung des Krankenzimmers gepflückt hatte. Als er der Wohnung Mrs. Maylies rasch zuschritt, hörte er hinter sich auf der Straße das donnernde Geräusch eines Wagens. Er sah sich um: es war eine Postchaise, und da die Straße ziemlich schmal war und der Postillon im Galopp fuhr, so trat er dicht an ein Gartentor, um nicht in Gefahr zu geraten. Die Chaise näherte sich, und nun erblickte er ein unter einer Nachtmütze fast verstecktes Gesicht, das ihm bekannt schien; er begann nachzusinnen, wem es angehören möchte, als er angerufen wurde und der Postillon den Befehl zum Halten erhielt.

»Oliver, wie steht es – wie steht es mit Miß Rose, Oliver?« rief ihm Mr. Giles zu.

»Ohne Umschweife – besser oder schlimmer?« rief ein junger Herr, der Giles zurückzog und sich selbst aus dem Schlage herausbeugte.

»Besser – viel besser!« erwiderte Oliver mit freudiger Hast.

»Gott sei Dank!« rief der junge Herr aus. »Ist's auch gewiß?«

»Sie können sich fest darauf verlassen, Sir,« sagte Oliver; »die Besserung trat vor ein paar Stunden ein, und Mr. Losberne hat gesagt, daß alle Gefahr vorüber sei.«

Der junge Herr sagte kein Wort mehr, sondern sprang aus dem Wagen, zog Oliver zur Seite und fragte ihn mit bebender Stimme: »Ist es auch ganz gewiß? – irrst du auch nicht, Kleiner? Täusche mich nicht, indem du Hoffnungen in mir erweckst, die am Ende nicht in Erfüllung gehen.«

»Das möcht' ich um keinen Preis, Sir,« erwiderte Oliver. »Sie können mir in der Tat glauben. Mr. Losbernes Worte waren, sie würde leben und uns alle noch viele Jahre beglücken. Ich hab' es ihn selbst sagen hören.«

In seinen Augen standen Tränen, während er sich an die Worte erinnerte, die ihn so unaussprechlich glücklich gemacht hatten, und der junge Herr wandte das Gesicht ab und war einige Minuten stumm. Oliver glaubte ihn schluchzen zu hören und wagte es nicht, seinen Bericht fortzusetzen; er stand da und tat, als wenn er mit seinem Blumenstrauße beschäftigt wäre.

Mr. Giles hatte unterdes auf dem Kutschtritte, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und die Augen trocknend, gesessen, und die Röte der letzteren, als der junge Herr ihn anredete und als er aufblickte, bewies, daß seine Bewegung keine erkünstelte war.

»Fahren Sie nach meiner Mutter Hause, Giles,« sagte der junge Herr. »Ich will langsam nachkommen, um mich erst ein wenig zu sammeln, bevor ich ihr unter die Augen trete. Sie können ihr sagen, daß ich käme.«

»Bitt' um Vergebung, Mr. Harry,« erwiderte Giles, »aber Sie würden mir einen großen Gefallen erzeigen, wenn Sie sich durch den Postillon anmelden lassen wollten. Die Damen dürfen mich wirklich so nicht sehen, Sir; ich würde alles Ansehen bei ihnen verlieren.«

»Nach Ihrem Belieben, Giles,« entgegnete der junge Herr lächelnd. »Lassen Sie ihn mit dem Gepäck vorausfahren, und Sie können mit uns nachfolgen, nur vertauschen Sie jetzt sogleich Ihre Nachtmütze mit einer angemessenen Kopfbedeckung, damit wir nicht für Wahnwitzige gehalten werden.«

Giles erinnerte sich mit Schrecken seines unziemlichen Aufzugs, steckte seine Nachtmütze in die Tasche, setzte statt derselben einen Hut auf, der Postillon fuhr weiter, und Giles, Mr. Maylie und Oliver folgten zu Fuß nach.

Oliver blickte den jungen Herrn von Zeit zu Zeit mit ebensoviel Neugier wie Interesse von der Seite an. Mr. Maylie schien etwa fünfundzwanzig Jahre alt zu sein und war von Mittelgröße; in seinem wohlgeformten Gesicht drückte sich Offenheit aus, und sein Benehmen war äußerst gewandt und gewinnend. Trotz der Altersverschiedenheit sah er der alten Dame so sprechend ähnlich, daß ihn Oliver sogleich als einen nahen Anverwandten derselben erkannt haben würde, wenn er sie auch nicht seine Mutter genannt hätte.

Mrs. Maylie erwartete ihn mit großer Sehnsucht und Ungeduld, und das Wiedersehen der Mutter und des Sohnes fand nicht ohne Bewegung statt.

»O Mutter, warum schrieben Sie mir nicht früher?« flüsterte er.

»Ich schrieb allerdings,« erwiderte sie, »beschloß aber nach reiflicher Überlegung, den Brief zurückzuhalten, bis ich Mr. Losbernes Ausspruch gehört haben würde.«

»Aber warum setzten Sie sich einer Gefahr aus, deren Eintreten so sehr möglich war? Wenn Rose – ich kann das Wort jetzt nicht aussprechen – wenn Roses Krankheit eine andere Wendung genommen, wie hätten Sie sich jemals selbst verzeihen können – wie hätte ich je wieder ruhig werden sollen?«

»Wenn das Schlimmste eingetreten wäre, Harry, so fürchte ich, daß deine Ruhe sehr wesentlich gestört worden und daß es von nur sehr geringer Bedeutung gewesen sein würde, ob du hier einen Tag früher oder später eingetroffen wärest.«

»Sie müssen es am besten wissen, und jedenfalls leidet das keinen Zweifel, daß meine Ruhe, wenn das Schlimmste eingetreten wäre –«

»Rose verdient die echteste, reinste Neigung, die das Herz eines Mannes nur bieten kann. Ihr Seelenadel und ihr liebendes, hingebendes Gemüt rechtfertigen den Anspruch auf eine nicht gewöhnliche, sondern tiefe und dauernde Gegenliebe. Wenn ich davon nicht überzeugt wäre und nicht außerdem wüßte, daß ein verändertes Benehmen von seiten eines Anverwandten, den sie liebt, sie bis zum Tode betrüben würde, so würde mir meine Aufgabe nicht so schwierig erscheinen, oder ich hätte nicht so viele Kämpfe mit mir selbst zu bestehen, indem ich tue, was mir die Pflicht schlechterdings zu gebieten scheint.«

»Ist das nicht unrecht, Mutter? Halten Sie mich noch für so jung, daß ich mein Herz nicht kennte, imstande wäre, meine innersten, lebhaftesten, besten Gefühle zu mißdeuten?«

»Mein lieber Harry, die Jugend hegt viele edle Gefühle, welche nicht von Dauer und bisweilen, wenn befriedigt, um so flüchtiger sind. Und was noch mehr ist, mein Sohn: – besitzt ein enthusiastischer, feuriger, ehrgeiziger junger Mann eine Gattin, auf deren Namen ein Flecken haftet, der, obwohl nicht ihre Schuld, von kalten und gemein denkenden Leuten ihr und vielleicht auch ihren Kindern, und zwar um so mehr zum Vorwurfe gemacht wird – um deswillen sie wie er um so mehr Spott und Hohn zu erdulden haben – je erfolgreicher oder glänzender seine Laufbahn ist, so kann ihn – und wenn er noch so gut und edel ist – im späteren Leben die Verbindung reuen, die er in seiner Jugend geschlossen, und sie selbst den Schmerz und die Pein erfahren, es zu wissen.«

»Mutter,« entgegnete der junge Mann ungeduldig, »ein solcher Mann wäre ein elender Egoist, unwürdig des Namens eines Mannes und einer Frau, wie Sie sie geschildert haben.«

»So denkst du jetzt, Harry!«

»Und ich werde stets so denken! Die Herzensqual, die ich in den beiden letzten Tagen erduldet, dringt mir das offene Geständnis einer Leidenschaft ab, die, wie Ihnen wohl bekannt, weder von gestern, noch eine jugendlich-leichtsinnige und unbedachte ist. Meine Neigung zu dem lieben, herrlichen Mädchen ist so tief und fest begründet, wie es die Neigung eines Mannes nur sein kann. Ich habe keinen Gedanken, keinen Lebensplan, keine Hoffnung außer ihr, höher als sie, und wenn Sie sich meiner Liebe zu ihr widersetzen, so vernichten Sie meine Ruhe, mein ganzes Glück für immer. O Mutter, überlegen Sie noch einmal und denken Sie besser von mir; mißachten Sie die heißen Gefühle nicht, auf welche Sie einen so geringen Wert zu legen scheinen.«

»Harry,« entgegnete Mrs. Maylie, »ich halte vielmehr so viel von warmen und gefühlvollen Herzen, daß ich ihnen eine Enttäuschung ersparen möchte. Doch wir haben für jetzt genug und mehr als genug von der Sache geredet.«

»So überlassen Sie Rose die Entscheidung; und Sie werden sicher Ihren zu strengen Ansichten nicht so viel Macht einräumen, daß Sie mir Hindernisse in den Weg legen.«

»Das nicht: allein ich wünsche, daß du wohl überlegst –«

»Ich habe überlegt – jahrelang überlegt – fast so lange, wie ich mit Ernst zu überlegen fähig bin. Meine Gefühle sind unverändert geblieben – werden stets unverändert bleiben, und warum sollte ich die Pein des Aufschiebens und Wartens erdulden, was ja schlechterdings keinen Nutzen haben kann. Ja, Rose muß mich anhören, bevor ich wieder abreise!«

»Sie soll es,« sagte Mrs. Maylie.

»Ihr Ton scheint fast anzudeuten, daß sie mich kalt anhören wird, Mutter,« sagte der junge Mann angstvoll.

»Nichts weniger als dies,« erwiderte die alte Dame; »weit entfernt davon.«

»Hegt sie auch wirklich keine andere Neigung?«

»Nein; ich müßte sehr irren, wenn du ihr Herz nicht bereits in nur zu hohem Maße besäßest. – Höre mich an,« fuhr sie fort, als ihr Sohn im Begriff stand, zu antworten; »ich will nur noch dieses sagen. Bedenke, ehe du dein Alles auf diesen Wurf setzest, ehe du dich zur höchsten Hoffnungsstufe emportragen lässest, bedenke Roses Lebensgeschichte, mein lieber Sohn, und überlege, welche Wirkung es auf ihre Entscheidung haben kann, wenn sie von ihrer zweifelhaften Herkunft in Kenntnis gesetzt wird; – denn sie ist uns mit aller Innigkeit ihres edlen Gemüts ergeben, und die vollkommenste Selbstaufopferung in großen wie in geringen Dingen bezeichnet stets ihre Denkart.«

»Was wollen Sie damit sagen, Mutter?« fragte der junge Mann.

»Ich will es dir zu erraten überlassen,« versetzte Mrs. Maylie. »Ich muß wieder zu Rose gehen. Gott sei mit dir!«

»Werde ich Sie heute abend noch wiedersehen?«

»Ja, sobald ich Rose verlasse.«

»Werden Sie ihr sagen, daß ich hier bin?«

»Natürlich.«

»Und auch, welche Herzensangst ich um ihretwillen ausgestanden und wie mich verlangt, sie zu sehen? Sie werden mir diesen Liebesdienst nicht verweigern?«

»Nein, auch das will ich ihr sagen,« erwiderte Mrs. Maylie, drückte dem Sohne zärtlich die Hand und ging.

Losberne und Oliver hatten während dieser flüchtigen Unterredung am fernsten Ende des Zimmers geweilt. Der erstere begrüßte jetzt Harry Maylie auf das herzlichste und mußte ihm sofort den umständlichsten Bericht über die Krankheit und das Befinden der Patientin erstatten. Giles hörte mit begierigem Ohre zu, während er mit dem Gepäcke beschäftigt war.

»Haben Sie kürzlich etwas Besonderes geschossen, Giles?« fragte der Doktor nach dem Schlusse seiner Mitteilungen.

»Nein, Sir, Besonderes eben nicht,« erwiderte Giles, hoch errötend.

»Auch keine Diebe gefangen oder Räuber ausfindig gemacht?« fuhr Losberne ein wenig boshaft fort.

»Nein, Sir,« antwortete Giles sehr ernst.

»Das tut mir leid, da Sie sich auf dergleichen so vortrefflich verstehen. Wie geht es denn Brittles?«

»Der junge Mensch befindet sich sehr wohl und läßt sich Ihnen ganz gehorsamst empfehlen, Sir.«

»Schön,« sagte der Doktor. »Doch da ich Sie hier treffe, fällt mir's ein, Giles, daß ich in den Tagen, wo ich so eilig abgerufen wurde, aufgefordert von Ihrer gütigen Herrschaft, einen kleinen Auftrag zu Ihren Gunsten übernahm. Treten Sie doch auf einen Augenblick mit mir an das Fenster!«

Giles trat ziemlich verwundert zu ihm, und der Doktor beehrte ihn mit einer kurzen heimlichen Unterredung, nach deren Beendigung er eine große Menge Verbeugungen machte und mit ungewöhnlicher Wichtigkeit wieder zurückging. Der Gegenstand des so leise geführten Gesprächs wurde im Zimmer nicht bekannt gegeben, wohl aber sofort in der Küche; denn dahin lenkte Mr. Giles augenblicklich seine Schritte und verkündete, nachdem er sich einen Krug Ale hatte reichen lassen, daß es seiner Herrschaft, in Anbetracht seines mutvollen Benehmens bei dem Einbruche, gefallen habe, die Summe von fünfundzwanzig Pfund in der Sparkasse für ihn niederzulegen. Die Köchin und das Hausmädchen hoben die Hände und Augen empor und meinten, daß Mr. Giles jetzt ganz stolz werden würde, worauf Mr. Giles, an seiner Hemdkrause zupfend, erwiderte, daß sie sich in einem großen Irrtume befänden und daß er ihnen dankbar sein wollte, wenn sie, falls sie dergleichen jemals gewahrten, ihn aufmerksam darauf machen würden, daß er sich hoffärtig gegen Geringere erwiese. Er verbreitete sich darauf weitläufig über seine Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit, wofür ihm großes Lob gezollt wurde, wie es bei bedeutenden Personen in solchen Fällen zu geschehen pflegt.

Oben verging der Rest des Abends sehr heiter, denn der Doktor befand sich in der fröhlichsten Stimmung, und so ermüdet oder nachdenklich Harry Maylie anfangs gewesen sein mochte, er konnte der guten Laune des wackeren Mannes nicht widerstehen. Losberne scherzte und erzählte, und Oliver glaubte nie in seinem Leben so drollige Dinge gehört zu haben, so daß er zur großen Freude des Doktors fortwährend lachte, wie der Doktor selbst und endlich auch Harry; denn auch das Gelächter hat ja seine ansteckende Kraft. Mit einem Worte, sie waren so vergnügt, wie sie es unter den obwaltenden Umständen nur irgend hätten sein können, und es war spät geworden, als sie mit leichtem und dankerfülltem Herzen die Ruhe aufsuchten, deren sie nach der Ungewißheit und Angst, in der sie in den letzten Tagen geschwebt hatten, so sehr bedurften.

Oliver ging am folgenden Morgen mit mehr Hoffnung und Freude, als er, wie ihm schien, seit langer Zeit gekannt hatte, an seine gewöhnlichen Beschäftigungen. Die Betrübnis war von seinem Antlitze wie durch Zauber verschwunden; es war ihm, als wenn die Blumen mit doppeltem Glanze im Tau funkelten, die linde Luft in den Blättern lieblicher säuselte, der Himmel reiner und blauer als je wäre. Das ist die Wirkung unserer inneren Stimmung auf unsere Anschauung des Äußeren um uns her. Die auf die Natur und ihre Mitmenschen blicken und wehklagen, daß alles schwarz und finster sei, sie haben recht; allein die düsteren Farben sind Widerspiegelungen ihrer gelbsüchtigen Augen und Herzen. Die wahren und wirklichen sind zarte Tinten und bedürfen eines schärferen Gesichts.

Eine bemerkenswerte Beobachtung entging auch Oliver nicht, nämlich, daß er seine Morgenausflüge nicht mehr allein zu machen brauchte. Nachdem ihn Harry Maylie zum erstenmal mit einer Blumenladung hatte heimkehren sehen, wurde er von einer solchen Leidenschaft für Blumen ergriffen, und er entwickelte so viel Geschmack im Ordnen derselben, daß er Oliver weit hinter sich zurückließ, der dagegen wußte, wo die schönsten Blumen zu finden waren. Sie durchstreiften Tag für Tag die Umgegend miteinander und brachten die köstlichsten Sträuße mit nach Hause. Roses Fenster wurde jetzt geöffnet, denn die balsamische Sommerluft erquickte sie, und auf der Fensterbank stand jeden Morgen ein frischer, mit großer Sorgfalt geordneter Blumenstrauß. Oliver bemerkte, daß die welken Blumen nie weggeworfen wurden und daß der Doktor, wenn er durch den Garten ging, stets hinaufblickte und bedeutsam lächelnd den Kopf hin- und herwiegte. So verflossen die Tage, und Roses Herstellung ging rasch und glücklich vonstatten.

Auch unserm Oliver verging die Zeit nicht langsam, obwohl die junge Dame ihr Zimmer noch nicht verlassen hatte und obwohl es keine Spaziergänge wie sonst mehr gab, ausgenommen dann und wann ganz kurze mit Mrs. Maylie. Er verdoppelte seinen Fleiß in den Lehrstunden des silberhaarigen alten Mannes, so daß ihn seine raschen Fortschritte fast selbst wundernahmen. Eines Abends, als er seine Aufgaben für den folgenden Tag lernte, begegnete ihm ein so unerwarteter wie Besorgnis erregender Vorfall.

Das kleine Zimmer, in welchem er bei seinen Büchern zu sitzen pflegte, befand sich im Erdgeschosse und lag nach hinten hinaus. Das Fenster ging in den Garten, aus welchem man durch eine Tür auf einen eingehegten Wiesengrund gelangte, und aus diesem auf den Anger und in ein Gehölz. Es fing an zu dämmern, Oliver hatte fleißig gelesen und auswendig gelernt, es war noch immer sehr warm, auch wohl ein wenig schwül, und er schlummerte über einem Buche ein.

Uns beschleicht bisweilen eine Art von Schlummer, der, während er den Leib gefangen hält, der Seele ein Halbbewußtsein der Umgebung und die Fähigkeit, nach Belieben umherzuschweifen, läßt. Er ist Schlaf, sofern eine überwältigende Schwere, eine Lähmung der Willenskraft und eine gänzliche Unfähigkeit, unsere Gedanken und Vorstellungen zu beherrschen, Schlaf genannt werden kann; dennoch aber wissen wir in diesem Zustande, auch wenn wir träumen, was um uns her vorgeht, schauen es, hören, was gesprochen wird, oder welche wirkliche Laute sonst an unser Ohr dringen mögen, und Wirklichkeit und Einbildung vermischen sich endlich so wunderbar, daß es nachgehends fast unmöglich ist, sie wieder voneinander zu trennen. Es ist Tatsache, obwohl unsere Gefühls- und Gesichtsorgane für die Zeit gleichsam tot sind, daß die im Schlummer uns kommenden Gedanken und die in der Einbildung geschauten Dinge bestimmt, und zwar wesentlich bestimmt werden durch die bloße stumme Gegenwart eines wirklichen Gegenstandes, der uns, als wir die Augen schlossen, nicht nahe zu sein brauchte und von dessen Herannahen oder Anwesenheit wir kein eigentliches Bewußtsein haben.

Oliver wußte genau, daß er sich in seinem kleinen Zimmer befand, daß seine Bücher vor ihm auf dem Tische lagen und daß der Abendwind in dem Blätterwerke vor dem Fenster rauschte – und schlummerte dennoch. Plötzlich trat eine gänzliche Umwandlung seiner Umgebung ein, die Luft wurde heiß und drückend, und er glaubte sich unter Angst und Schrecken wieder im Hause des Juden zu befinden. Da saß der fürchterliche alte Mann in dem Winkel, in welchem er zu sitzen pflegte, wies mit dem Finger nach ihm und flüsterte einem andern, neben ihm sitzenden Manne, der das Gesicht abgewendet hatte, etwas zu.

»Pst! mein Lieber!« glaubte er den Juden sagen zu hören; »er ist's, ist's ohne Zweifel. Kommt – laßt uns gehen!«

»Meint Ihr, daß ich ihn nicht erkannte?« schien der andere zu antworten. »Und wenn eine Rotte von Teufeln seine Gestalt annähme, und er stände mitten zwischen ihnen, so würd's mir mein Sinn zutragen, welcher er wäre, und ich fände ihn heraus. Wenn Ihr ihn fünfzig Schuh tief begrübet und brächtet mich über sein Grab, so würd' ich wissen, und wenn auch kein Merkmal oder Zeichen es andeutete, daß er darunter begraben läge. Möge sein Fleisch und Bein verfaulen, ich würd's!«

Der Mann schien die Worte in einem so tödlichen Haß verkündenden Tone zu sprechen, daß Oliver bebend aufschreckte.

Gütiger Himmel, welcher Anblick war es, der ihm das stockende Blut zum Herzen zurücktrieb und ihn der Stimme wie der Bewegungskraft beraubte! Dort – dort am Fenster – nur zwei Schritte von ihm entfernt – so nahe, daß er ihn fast hätte berühren können, ehe er zurückschreckte – stand, in das Zimmer hereinlugend, der Jude, dessen Blicke den seinigen begegneten, und neben ihm gewahrte Oliver denselben Mann, der ihm vor einiger Zeit im Hofe des Gasthauses ein solches Entsetzen eingejagt; und der Fürchterliche war blaß vor Wut oder Grauen oder welcher inneren Bewegung sonst, und seine Augen schossen drohende, zornige Blicke nach Oliver!

Doch sie standen da, und Oliver sah sie nur einen einzigen flüchtigen Augenblick: dann waren sie verschwunden. Sie hatten indes ihn und er hatte sie erkannt, und ihr Hereinlugen nach ihm und ihre Mienen drückten sich seinem Gedächtnisse so fest und tief ein, als wenn sie in Stein ausgehauen und ihm von Kindheit an stets vor Augen gewesen wären. Er stand einen Augenblick wie angewurzelt da, sprang darauf aus dem Fenster in den Garten und rief laut nach Hilfe.

 


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