Charles Dickens
Oliver Twist.Aus dem Englischen von Julius Seybt
Charles Dickens

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Vierundvierzigstes Kapitel.

Nancy wird verhindert, ihr Rose Maylie gegebenes Versprechen zu erfüllen.

Wie vollkommen eingeweiht Nancy in alle Verstellungskünste auch war, vermochte sie doch die Gemütsbewegungen nicht gänzlich zu verbergen, die das Bewußtsein ihres Schrittes bei ihr hervorbrachte. Sie erinnerte sich, daß sowohl der listige Jude wie der brutale Sikes sie in das Geheimnis von Anschlägen, die sie vor allen andern verborgen hielten, eingeweiht hatten, und zwar im vollkommensten Vertrauen auf ihre Treue und über allen Verdacht erhabene Zuverlässigkeit; und so schändlich jene Anschläge, so ruchlos die Urheber derselben sein mochten, so erbittert sie selbst gegen den Juden war, der sie Schritt für Schritt tiefer und immer tiefer in einen Abgrund von Verbrechen und Elend geführt hatte, aus welchem kein Entrinnen möglich war: es gab doch Augenblicke, wo bei ihr eine mildere Stimmung gegen ihn vorherrschte und der Gedanke ihr Unruhe verursachte, daß ihn endlich infolge der von ihr gemachten Enthüllung sein lange vermiedenes, aber freilich vollkommen verdientes Schicksal ereilen möchte.

Doch waren dies nur vorübergehende Gedanken und Gefühle bei ihr, deren sie sich aus Macht der Gewohnheit nicht gänzlich zu erwehren imstande war; denn ihr Entschluß stand fest, und ihr Charakter war derart, daß sie sich durch keinerlei Rücksichten bewegen ließ, einen einmal gefaßten Entschluß wieder aufzugeben. Ihre Besorgnis für Sikes würde ein noch stärkerer Beweggrund gewesen sein, zurückzutreten, solange es noch Zeit war; allein sie hatte es sich ausbedungen, daß ihr Geheimnis streng bewahrt werden sollte – hatte keinen Faden an die Hand gegeben, der zu seiner Entdeckung führen konnte – hatte um seinetwillen sogar das Anerbieten einer Zuflucht vor allem sie umgebenden Laster und Elend zurückgewiesen – und was konnte sie mehr tun? Sie war und blieb entschlossen.

Obgleich aber alle ihre inneren Kämpfe so endeten, erneuerten sie sich doch fortwährend und ließen auch ihre Spuren zurück. Nach wenigen Tagen sah sie blaß und abgezehrt aus. Bisweilen beachtete sie gar nicht, was um sie her vorging, und nahm an Gesprächen keinen Teil, bei welchen sie sonst die Lebhafteste und Lauteste gewesen sein würde; und bisweilen lachte sie wieder ohne Heiterkeit und lärmte ohne Zweck und Veranlassung. Zu anderen Zeiten – und oft einen Augenblick darauf – saß sie schweigend, niedergeschlagen, hinbrütend, den Kopf auf die Hände gestützt da, während gerade die Anstrengung, womit sie sich dann wieder aufraffte, noch stärker verkündete, daß sie Unruhe empfand und daß ihre Gedanken mit ganz anderen Dingen als denen beschäftigt waren, die von ihren Gesellschaftern besprochen wurden.

Der Sonntagabend war gekommen, und die Glocke der nächsten Kirche schlug elf. Sikes und der Jude unterbrachen ihr Gespräch und horchten – und aufblickend und noch gespannter horchte Nancy.

»'ne Stunde vor Mitternacht,« sagte Sikes, das Fenster öffnend und nach seinem Stuhle zurückkehrend; »auch ist's neblig und finster – 'ne gute Geschäftsnacht.«

»Ah, ja,« sagte Fagin, »'s ist sehr schade, Bill, daß es eben nichts gibt zu tun.«

»Da hast du 'mal recht,« entgegnete Sikes barsch, »'s ist um so mehr schade, da ich obendrein recht in der Laune dazu bin.«

Der Jude schüttelte seufzend den Kopf.

»Wir müssen die verlorne Zeit wieder einzubringen suchen, wenn wieder was Gutes eingefädelt ist,« fuhr Sikes fort.

»So ist's recht mein Lieber,« erwiderte Fagin, sich erdreistend, ihn auf die Schulter zu klopfen. »Es freut mich herzinnig, Euch reden zu hören so.«

»Freut Euch herzinnig – so! Meinetwegen,« sagte Sikes.

»Ha, ha, ha!« lachte der Jude, als wenn ihm schon dies sehr geringe Zugeständnis Freude gewährte. »Ihr seid heute abend der echte, wahrhaftige Bill – wieder ganz Ihr selber mein Lieber.«

»Mir ist's, als wär ich ein ganz anderer, wenn du mir die alte welke Tatze auf die Schulter legst – runter damit!« rief Sikes, die Hand des Juden zurückschleudernd.

»Wird Euch schlimm dabei, Bill – erinnert's Euch ans Gefaßtwerden?« fragte der Jude, entschlossen, keine Empfindlichkeit zu zeigen.

»Ja – aber ans Gefaßtwerden vom Teufel, nicht von 'nem Häscher. Von Adam her ist kein Mensch gewesen mit 'nem Gesicht wie das deinige, müßte denn sein dein Vater, und dem wird wohl jetzund sein grauer Bart versengt, sofern nicht Satan selber dein Vater ist, was mich eben nicht wundern würde.«

Fagin erwiderte nichts auf diese Schmeichelei, sondern zupfte Sikes am Ärmel und wies nach Nancy hin, die ganz in der Stille den Hut aufgesetzt hatte und eben hinausgehen wollte.

»Heda, Nancy!« rief Sikes. »Wohin will die Dirne bei dieser Nachtstunde?«

»Nicht weit.«

»Was ist das für 'ne Antwort! Wohin willst du?«

»Ich sage, nicht weit.«

»Und ich sage, wohin? Hast du gehört?«

»Ich weiß nicht, wohin.«

»Dann weiß ich's,« sagte Sikes, mehr aus Eigensinn, als daß er einen bestimmten Grund gehabt hätte, sich Nancys Ausgehen, wohin es ihr beliebte, zu widersetzen. »Nirgend. Setz' dich wieder hin.«

»Ich bin unwohl, wie ich Euch schon gesagt habe, und muß frische Luft schöpfen.«

»Steck' den Kopf aus 'm Fenster 'naus, das ist ebensogut.«

»Das ist's nicht; ich muß Bewegung haben.«

»So – du sollst aber keine haben.« entgegnete Sikes, stand auf, verschloß die Tür, zog den Schlüssel aus, riß dem Mädchen den Hut vom Kopfe und warf ihn auf einen alten Schrank. »Willst du jetzt ruhig dableiben, wo du bist, oder nicht?«

»Ich kann auch ohne Hut gehen,« sagte Nancy erblassend. »Was soll dies bedeuten, Bill? Wißt Ihr auch, was Ihr tut?«

»Ob ich weiß, was – Fagin, sie ist von Sinnen, denn sie würde sich's sonst nicht herausnehmen, solche Worte zu mir zu sprechen!«

»Ihr macht's danach, daß ich etwas Verzweifeltes tue,« murmelte Nancy, beide Hände gegen die Brust pressend, als wenn sie einen heftigen Ausbruch gewaltsam zurückdrängen wollte. »Laßt mich hinaus – in dieser Minute – diesem Augenblicke –.«

»Nein!« schrie Sikes.

»Fagin, sagt ihm, daß er mich gehen läßt. Ich rat's ihm. Hört Ihr?« rief Nancy, mit den Füßen stampfend.

»Ob ich dich höre? Ja,« rief Sikes zurück; »und wenn ich dich noch ein paar Augenblicke höre, so soll dich der Hund dermaßen an der Kehle packen, daß er dir die kreischende Stimme herausreißt. Was fällt dir ein, Weibsbild – was steckt dir im Kopfe?«

»Laßt mich gehen,« sagte Nancy flehend, setzte sich an die Tür auf den Boden nieder und fuhr fort: »Bill, laßt mich gehen; Ihr wißt nicht, was Ihr tut – wißt's wahrlich nicht. Nur eine – nur eine einzige Stunde.«

»Ich will mich vierteln lassen,« rief Sikes, sie sehr unsanft beim Arm fassend, »wenn ich nicht glaube, daß die Dirne verrückt – toll und verrückt geworden ist. Steh' auf!«

»Ich stehe nicht eher auf, als bis Ihr mich gehen laßt – nicht eher!« schrie Nancy.

Sikes blickte sie eine Weile an, ersah den rechten Augenblick, faßte plötzlich ihre beiden Hände, zog die Sträubende in ein anstoßendes Gemach, setzte sich auf eine Bank, warf sie auf einen Stuhl und hielt sie gewaltsam nieder. Sie bat und suchte sich ihm abwechselnd mit Gewalt zu entziehen, gab endlich, als es zwölf geschlagen hatte, ganz erschöpft ihre Versuche auf, und Sikes verließ sie mit einer durch mehrfache kräftige Beteuerungen unterstützten Warnung, um zu Fagin zurückzukehren.

»Was für'n sonderbares Geschöpf die Dirne ist!« sagte er, sich den Schweiß abwischend.

»Das mögt Ihr wohl sagen – mögt Ihr wohl sagen, Bill,« versetzte der Jude nachdenklich.

»Was meinst du denn, was ihr im Kopfe gesteckt hat, noch so spät mit Gewalt ausgehen zu wollen? Du mußt sie besser kennen als ich – was meinst du, Jude?«

»Eigensinn, glaub' ich – Weibertrotz und Eigensinn, mein Lieber,« antwortete Fagin achselzuckend.

»Glaub's auch. Ich dachte, daß ich sie zahm gemacht hätte, sie ist aber so schlimm wie je.«

»Noch schlimmer, Bill. Ich habe so etwas erlebt noch niemals an ihr, und um solch' 'ner geringen Ursach.«

»Ich auch nicht. Es scheint, mein Fieber steckt ihr im Blut und will nicht 'raus – was?«

»Mag wohl sein, Bill.«

»Ich will ihr 'n bissel Blut abzapfen, ohn' den Doktor zu bemühn, wenn sie's wieder so macht.«

Der Jude nickte beistimmend.

»Sie war Tag und Nacht um mich,« fuhr Sikes fort, »als ich auf der Seite lag, während du wie 'n falscher Kujon, der du bist, dich fern hieltst. Wir hatten die ganze Zeit nichts zu beißen und zu brechen, und ich glaub', es hat sie verdrießlich gemacht, und sie ist unruhig geworden, weil sie so lang' hat im Haus sitzen müssen – he?«

»Ganz recht, mein Lieber,« erwiderte Fagin flüsternd. »Pst!«

In diesem Augenblick trat Nancy wieder herein und setzte sich an ihren gewohnten Platz. Ihre Augen waren rot und geschwollen: sie wiegte sich hin und her, warf den Kopf empor, und brach nach einiger Zeit in ein Gelächter aus.

»Was ist denn dies nun wieder?« rief Sikes, erstaunt zu Fagin sich wendend, aus.

Der Jude gab ihm einen Wink, sie für den Augenblick nicht weiter zu beachten, und nach einigen Minuten saß sie wieder da wie vorhin. Er flüsterte Sikes zu, sie würde von nun an ganz ruhig bleiben, nahm seinen Hut und sagte ihm gute Nacht. An der Tür stand er still, drehte sich noch einmal um und bat, daß ihm jemand auf der dunkeln Treppe leuchten möchte.

»Leucht' ihm 'nunter,« sagte Sikes, der eben seine Pfeife füllte, »'s wäre schade, wenn er hier selbst den Hals bräche und den Hängezuschauern nichts zu gaffen gäbe.«

Nancy geleitete den alten Mann mit dem Lichte hinunter. Auf der Hausflur angelangt, legte er den Finger auf den Mund und flüsterte ihr in das Ohr: »Was hattest du, liebes Kind?«

»Wieso?« erwiderte sie, gleichfalls flüsternd.

»Warum du ausgehen wolltest mit Gewalt. Wenn er,« sagte Fagin, mit dem knöchernen Finger nach oben zeigend, »wenn er ist so barbarisch gegen dich – er ist ein Tier, Nancy, ein unvernünftiges wildes Tier – warum –«

»Nun?« fragte sie, als er, den Mund dicht an ihrem Ohre und die Augen dicht vor den ihrigen, innehielt.

»Laß jetzt gut sein,« fuhr der Jude fort, »wollen ein andermal sprechen davon. Du hast einen Freund an mir, Kind, einen treuen Freund. Ich hab' auch die Mittel – wenn du willst dich rächen an ihm, der dich behandelt wie einen Hund – schlimmer als einen Hund, dem er schmeichelt bisweilen doch – so komm zu mir; komm zu mir, was ich dir sage. Er ist ein Tagesfreund; aber mich kennst du von alters her, Nancy – von alters her.«

»Ich kenne Euch sehr wohl,« antwortete das Mädchen, ohne die mindeste Bewegung zu zeigen. »Gute Nacht.«

Sie trat zurück, als er ihr die Hand reichen wollte, sagte ihm aber noch einmal mit fester Stimme gute Nacht, erwiderte den Blick, den er ihr zum Abschiede zuwarf, mit einem hinlängliches Verstehen andeutenden Zunicken und verschloß die Tür hinter ihm.

Fagin kehrte gedankenvoll nach seiner Wohnung zurück. Er war schon seit einiger Zeit der Ansicht, in welcher ihn das soeben Vorgefallene bestärkte, daß Nancy der schlechten Behandlung, welche sie von dem brutalen Sikes erfuhr, müde geworden sei und eine Neigung zu einem neuen Freunde gefaßt habe. Ihr verändertes Wesen, daß sie so häufig allein ausging, ihre verhältnismäßige Gleichgültigkeit gegen den Vorteil oder Schaden der Bande, für welche sie vormals so großen Eifer bewiesen hatte, und dazu ihr so heftiges Verlangen, an diesem Abende und gerade zu einer bestimmten Stunde das Haus noch verlassen zu wollen: dieses alles unterstützte eine Annahme und überzeugte ihn fest von der Richtigkeit derselben. Der Gegenstand dieser neuen Liebschaft des Mädchens befand sich unter den Leuten seines Anhangs nicht. Er mußte mit einer Alliierten wie Nancy eine schätzbare Erwerbung sein, die es sobald wie möglich zu machen galt.

Auch war noch ein anderer und finsterer Zweck zu erreichen. Sikes wußte zu viel, und seine plumpen, beleidigenden Reden hatten Fagin darum nicht minder verletzt und gereizt, weil er es sich nicht merken ließ. Nancy konnte es nicht entgehen, daß sie, sobald sie sich von ihm trennte, vor seiner Wut nicht sicher war und daß er dieselbe ohne allen Zweifel auch an ihrem neuen Liebhaber auslassen würde, so daß die gesunden Gliedmaßen, ja das Leben desselben in offenbarer Gefahr schwebten. Fagin glaubte, sie würde sich leicht bereden lassen, ihn zu vergiften. »Weiber,« dachte er, »haben so etwas und noch Schlimmeres wohl schon getan, um die Ziele zu erreichen, die das Mädchen jetzt verfolgt. Tut sie es, so werde ich von dem gefährlichen Halunken, dem Menschen, den ich hasse, befreit – erhalte einen Ersatzmann für ihn, und mein Einfluß über Nancy ist, bei meiner Kenntnis dieses Verbrechens, fortan ganz unbegrenzt.«

Dies waren seine Gedanken gewesen, während ihn Sikes allein gelassen, und er hatte deshalb beim Fortgehen das Mädchen auszuforschen gesucht. Sie hatte keine Überraschung gezeigt, sich nicht angestellt, als ob sie ihn nicht verstände, vielleicht bewies der Blick, mit welchem sie ihm zum zweitenmal gute Nacht gesagt, klar, daß sie seine Meinung sehr wohl verstanden hatte.

Aber sie weigerte sich vielleicht, in einen Anschlag auf Sikes' Leben einzugehen, worauf es hauptsächlich ankam. »Wie kann ich meinen Einfluß bei ihr vergrößern?« dachte der Jude auf seinem Heimwege. »Welche neue Gewalt über sie kann ich mir verschaffen?«

Ein Gehirn, wie das seinige, ist fruchtbar an Hilfsmitteln. Sollte er sie nicht seinen Plänen fügsam machen können, wenn er sie, sofern kein Geständnis von ihr zu erlangen war, von einem Kundschafter beobachten ließ, den Gegenstand ihrer neuen Leidenschaft entdeckte und Sikes (vor dem sie sich in hohem Maße fürchtete) alles zu enthüllen drohte, falls sie nicht einwilligte, zu tun, was er von ihr verlangte.

»Es wird angehen,« sagte er fast laut; »hab' ich nur erst ihr Geheimnis, so darf sie mir's nicht abschlagen – so gewiß ihr an ihrem Leben liegt. Ich besitze die Mittel, Nancy, und nur Geduld, Sikes, ich hab' euch, hab' euch beide!«

Er wandte sich mit einer drohenden Handbewegung um und warf einen finsteren Blick nach der Straße zurück, wo er den verwegenen Bösewicht verlassen, und senkte im Weitergehen die knöchernen Hände in die Falten seines zerlumpten Mantels, die er zusammenpreßte, als wenn er einen verhaßten Feind zwischen den spitzigen Fingern hätte.

 


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