Charles Dickens
Oliver Twist.Aus dem Englischen von Julius Seybt
Charles Dickens

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Zweiunddreißigstes Kapitel.

Von dem glücklichen Leben, das Oliver bei seinen gütigen Gönnerinnen zu führen anfing.

Oliver litt nicht wenig. Zu den Schmerzen der Schußwunde kam noch ein heftiges Fieber, die Folge der Kälte und Nässe, der er nach seiner Verwundung ausgesetzt gewesen war. Er lag mehrere Wochen fest zu Bett, fing indes allmählich an zu genesen und konnte bald unter Tränen mit wenigen Worten ausdrücken, wie tief er die Güte der beiden freundlichen, liebevollen Damen empfände, und wie sehr er wünschte und hoffte, wenn er wiederhergestellt wäre, imstande zu sein, ihnen Beweise seiner Dankbarkeit zu geben, etwas zu tun, und wenn es noch so wenig wäre, ihnen die Liebe zu zeigen, die sein Herz erfüllte, ihnen die Überzeugung zu verschaffen, daß sie ihre Güte an keinen Unwürdigen verschwendeten, sondern daß der arme verlassene Knabe, den sie vom Elende oder Tode errettet, den glühenden Wunsch hege, ihnen nach all' seinen Kräften und mit tausend Freuden zu dienen.

»Armes Kind!« sagte Rose, als er eines Tags mit bleichen Lippen Worte des Dankes zu stammeln versuchte. »Du sollst viele Gelegenheiten erhalten, uns zu dienen, wenn du willst. Wir gehen auf das Land, und meine Tante beabsichtigt, dich mitzunehmen. Die ländliche Ruhe, die reine Luft und die Freuden und Schönheiten des Frühlings werden bald deine gänzliche Genesung bewirken, und wir wollen dir hundert kleine Geschäfte auftragen, sobald du der Mühe gewachsen bist.«

»Der Mühe!« sagte Oliver. »Ach, wenn ich nur für Sie arbeiten – Ihnen nur Freude machen könnte, dadurch, daß ich Ihre Blumen begösse, Ihre Vögel fütterte, den ganzen Tag hin und wieder für Sie liefe, was würde ich darum geben!«

»Du sollst gar nichts darum geben,« versetzte Rose lächelnd, »denn wie ich es dir schon gesagt habe, wir denken dich auf die vielfachste Weise zu beschäftigen, und du wirst mir die größte Freude bereiten, wenn du nur halb so viel tust, wie du jetzt versprichst.«

»Ihnen Freude bereiten – o wie gütig Sie sind!« rief Oliver aus.

»Du wirst mir mehr Freude bereiten, als ich es dir sagen kann,« versetzte die junge Dame. »Es gewährt mir schon unsägliches Vergnügen, zu denken, daß meine liebe, gute Tante ein Werkzeug in den Händen der Vorsehung gewesen ist, einen Knaben aus einer so entsetzlichen Lage zu erretten, wie du sie uns beschrieben hast; allein zu erfahren, daß ihr kleiner Schützling dankbar und liebevoll gegen sie für ihre Wohltätigkeit und ihr Mitleid ist, wird mich weit glücklicher machen, als du es dir vorstellen kannst. Verstehst du mich, Oliver?« fragte sie, Olivers nachdenkliches Gesicht betrachtend.

»O ja, ja, ich verstehe Sie wohl; aber ich meinte nur, daß ich jetzt undankbar wäre.«

»Gegen wen denn?«

»Gegen den gütigen Herrn und die gute alte Frau, denen ich so große Wohltaten verdanke, die sich meiner so liebevoll annahmen. Gewiß, sie würden sich freuen, wenn sie es wüßten, wie gut ich es hier habe.«

»Das glaube ich auch, und Mr. Losberne hat schon versprochen, dich mitzunehmen zu ihnen, sobald es deine Kräfte erlauben würden.«

»Hat er das versprochen? O, ich weiß nicht, was ich vor Freude tun werde, wenn ich sie einmal wiedersehe!«

Oliver war nach einiger Zeit hinlänglich wiederhergestellt, um stark genug zu einer Ausfahrt zu sein und fuhr eines Morgens mit Mr. Losberne in Mrs. Maylies Wagen ab. Als sie an die Brücke von Chertsey kamen, erblaßte Oliver plötzlich und stieß einen lauten Ausruf der Überraschung und Bestürzung aus.

»Was gibt es?« rief der Doktor mit seiner gewöhnlichen Lebhaftigkeit. »Siehst du etwas – hörst du etwas – hast du Schmerz – was gibt's?«

»Da, Sir!« sagte Oliver, aus dem Wagenfenster zeigend »Da, jenes Haus!«

»Was ist mit dem Hause? Halt, Kutscher! – He – was willst du sagen?«

»Die Diebe – in das Haus schleppten sie mich,« flüsterte Oliver.

»Ist es möglich! Halt, halt, Kutscher!« rief der Doktor, sprang aus dem Wagen, noch ehe derselbe hielt, lief nach dem verödet aussehenden Hause und fing an wie toll gegen die Tür zu hämmern.

»Zum Teufel, was soll das?« sagte ein kleiner häßlicher, buckliger Mann, der die Tür so plötzlich öffnete, daß Losberne fast in das Haus hineingefallen wäre.

»Was das soll?« rief der Doktor, ihn ohne Umstände beim Kragen fassend. »Sehr viel soll's. Es handelt sich um Diebstahl und Einbruch.«

»Und es wird sich auch sogleich um Mord handeln,« erwiderte der Bucklige kaltblütig, »wenn Sie nicht sogleich von mir ablassen. Hören Sie?«

»Ich höre sehr wohl,« sagte der Doktor, ihn kräftig schüttelnd. »Wo ist – wie heißt der verwünschte Halunke gleich – ja, Sikes – Spitzbube, wo ist Sikes?«

Der Bucklige starrte ihn erstaunt und wütend an, entschlüpfte ihm, stieß eine Flut der schrecklichsten Verwünschungen aus und ging in das Haus zurück. Bevor er jedoch die Tür wieder verschließen konnte, stürmte der Doktor in das nächste Zimmer hinein und blickte forschend umher, allein von allem, was er sah, wollte nichts mit Olivers Beschreibung zusammenstimmen.

»Was soll das bedeuten, daß Sie auf solche Weise in mein Haus eindringen?« fragte nach einigen Augenblicken der Bucklige, der ihn scharf beobachtet hatte. »Wollen Sie mich bestehlen oder ermorden?«

»Hast du jemals einen Mann in solcher Absicht aus einer Equipage aussteigen sehen, du lächerliche alte Mißgeburt?« lautete des reizbaren Doktors Gegenfrage.

»Was wollen Sie denn aber sonst?« fuhr ihn der Bucklige an. »Packen Sie sich augenblicklich aus meinem Hause, oder es wird Sie reuen.«

»Ich werde gehen, sobald es mir beliebt,« sagte Losberne, in das andere Zimmer hineinblickend, das gleichfalls keine Ähnlichkeit mit dem von Oliver beschriebenen hatte, »und will dir schon noch hinter die Schliche kommen!«

»So!« höhnte der Krüppel. »Wenn Sie mich suchen, ich bin hier zu finden. Ich habe hier nicht als ein Verrückter und ganz allein seit fünfundzwanzig Jahren gewohnt, um mich von Ihnen hudeln zu lassen. Sie sollen mir dafür büßen, sollen mir dafür büßen!«

Der mißgestaltete kleine Dämon fing darauf an, auf das schrecklichste und ungebärdigste zu schreien und zu toben, der Doktor murmelte vor sich hin: »Dumme Geschichte! Der Knabe muß sich geirrt haben,« warf dem Buckligen ein Stück Geld zu und kehrte zu dem Wagen zurück. Der Bucklige folgte ihm unter beständigen Schimpfreden und Verwünschungen, sah, während Losberne dem Kutscher ein paar Worte sagte, in den Wagen hinein und warf Oliver einen so grimmigen, stechenden, rachsüchtigen und giftigen Blick zu, daß ihn der kleine Rekonvaleszent monatelang wachend oder schlafend nicht wieder vergessen konnte. Losberne stieg ein, und sie fuhren ab, hörten aber den Buckligen noch lange schreien und toben, der sich vor Wut schäumend das Haar zerraufte, mit den Füßen stampfte und ganz außer sich zu sein schien.

»Ich bin ein Esel!« sagte der Doktor nach einem langen Stillschweigen. »Hast du das schon gewußt, Oliver?«

»Nein, Sir.«

»Dann vergiß es ein anderes Mal nicht. – Selbst wenn es das Haus war,« fuhr er nach einer abermaligen Pause fort, »und die Diebe darin gewesen wären – was hätt' ich als einzelner tun können? Und hätt' ich Beistand gehabt, so wäre auch nichts weiter dabei herausgekommen, als daß meine Voreiligkeit und die Weise kund geworden, wie ich den unangenehmen Handel zu vertuschen gesucht. Es wäre mir freilich gerade recht geschehen, und ich würde nicht dümmer danach geworden sein, denn ich bringe mich selbst in eine Patsche nach der andern, indem ich immer bloß nach den fatalen Eindrücken des Augenblicks handle.«

Der treffliche Doktor hatte in seinem ganzen Leben nur nach ihnen gehandelt, und es lag kein geringes Lob der in ihm vorherrschenden oder ihn bestimmenden Eindrücke in dem Umstande, daß er, weit entfernt, jemals in ernstliche Unannehmlichkeiten durch sie geraten zu sein, bei allen, die ihn kannten, die wärmste und größte Hochachtung genoß. Muß die Wahrheit gesagt sein, so war er ein paar Minuten übler Laune, sich in der Hoffnung getäuscht zu sehen, sogleich bei der ersten sich darbietenden Gelegenheit Zeugnisse für die Wahrheit der Erzählung Olivers zu erhalten. Sein Gleichmut war jedoch bald wiederhergestellt, und da die Antworten des Knaben auf seine erneuerten Fragen klar und zusammenhängend waren und blieben und mit derselben offenbaren Aufrichtigkeit wie früher gegeben wurden, so nahm er sich vor, ihnen von nun an vollkommenen Glauben zu schenken.

Da Oliver die Straße zu nennen wußte, in welcher Mr. Brownlow wohnte, so waren keine Kreuz- und Querfragen erforderlich, und als sie hineinfuhren, klopfte des Knaben Herz so heftig, daß er kaum zu atmen imstande war. Losberne forderte ihn auf, das Haus zu bezeichnen.

»Das da!« rief Oliver, eifrig aus dem Fenster zeigend. »Das weiße Haus! O, lassen Sie rasch fahren, recht rasch. Es ist mir, als wenn ich sterben müßte, eh' ich hinkomme; ich kann mir vor Zittern nicht helfen!«

»Nur Geduld, mein lieber Kleiner,« sagte Losberne, ihn auf die Schulter klopfend. »Du wirst deine Freunde sogleich sehen, und sie werden sich freuen, dich gesund und wohlbehalten wiederzufinden.«

»O, das hoff' ich auch,« versetzte Oliver. »Sie waren so gütig, so sehr, sehr gütig gegen mich, Sir.«

Der Wagen hielt und Oliver blickte mit Tränen der freudigsten Erwartung nach den Fenstern hinaus. Doch ach! das weiße Haus war unbewohnt; ein Anschlag verkündigte, daß es zu vermieten sei. Losberne stieg aus, zog den Knaben mit sich fort, klopfte an die nächste Tür und fragte die öffnende Magd, ob sie wisse, wohin sich Mr. Brownlow gewendet, der nebenan gewohnt habe. Sie wußte es nicht, lief hinauf, um sich zu erkundigen, kehrte zurück und brachte die Nachricht, er habe sein Haus und seine Mobilien verkauft und sei vor sechs Wochen nach Westindien gegangen. Oliver schlug die Hände zusammen und wäre bald zu Boden gesunken.

»Hat er auch seine Haushälterin mitgenommen?« fragte Losberne nach einem kurzen Stillschweigen.

»Ja, Sir; der alte Herr, die Haushälterin und ein Freund von ihm sind miteinander abgereist.«

»Wir kehren sogleich nach Hause zurück,« rief der Doktor dem Kutscher zu; »und fahren Sie rasch, daß wir sobald wie möglich aus dem verwünschten London wieder hinauskommen.«

»Der Buchhändler, Sir – wollen wir nicht zu ihm?« fiel Oliver ein. »Ich weiß, wo er wohnt. O bitte, lassen Sie uns zu ihm fahren.«

»Mein liebes Kind, wir haben für einen Tag der Täuschung genug gehabt,« erwiderte Losberne. »Führen wir zum Buchhändler, so würden wir sicher hören, daß er sein Haus angezündet hat, oder davongegangen oder tot wäre. Nein, wir wollen für heute sogleich wieder nach Chertsey zurückkehren.«

Er wiederholte, gemäß dem Eindruck des Augenblicks, seinen Befehl, und sie kehrten nach Chertsey zurück.

Die erfahrene bittere Täuschung verursachte Oliver mitten in seinem Glücke viel Kummer; denn wie oft hatte er sich während seiner Krankheit an der Vorstellung gelabt, was Mr. Brownlow und Mrs. Bedwin zu ihm sagen würden, und welche Wonne es sein müßte, ihnen zu erzählen, wie viele lange Tage und Abende er zugebracht in der Erinnerung an das, was sie für ihn getan, und in Tränen über seine schreckliche Entführung aus ihrem Hause. Die Hoffnung, sich von Verdacht bei ihnen reinigen zu können, hatte ihn in mancher bösen Stunde aufrecht erhalten; und nun war der Gedanke, daß sie außer Landes gegangen in dem Glauben, daß er ein Dieb und Betrüger sei – einem Glauben, in welchem sie vielleicht bis zu ihrer Sterbestunde verharrten – fast mehr, als er zu ertragen vermochte.

Das Benehmen seiner Wohltäter und Gönner gegen ihn blieb jedoch unverändert. Als nach vierzehn Tagen schönes Frühlingswetter war, die Bäume im jungen, frischen Grün zu prangen und die Blumen zu blühen anfingen, trafen sie die erforderlichen Vorbereitungen, ihre Wohnung in Chertsey auf einige Monate zu verlassen. Das Silbergerät, das die Begierde des Juden erregt hatte, wurde in sicheren Gewahrsam gebracht, Giles mit einem zweiten Diener zur Bewachung des Hauses zurückgelassen, und sie reisten ab auf das Land und nahmen Oliver mit.

Wer vermöchte das selige Entzücken, den Seelenfrieden und die süße trauliche Ruhe zu schildern, die der noch immer schwache Knabe in der balsamischen Luft, auf den grünen Hügeln und in den schönen Waldungen empfand, die das kleine Dorf, seinen neuen Wohnsitz, umgaben! Wer könnte es mit Worten beschreiben, welche Stille, welche Frische, welche Lust ein Frühling auf dem Lande in die Herzen geplagter Stadtbewohner senkt! Selbst von Leuten, die in engen, menschengefüllten Straßen ihr Leben unter stetem Geräusch und in fortwährender Plackerei zugebracht haben, und in denen nie ein Wunsch nach Veränderung ihrer Lage aufgestiegen ist, und die das Mauerwerk und die Steine, die engen Grenzmarken ihrer kleinen täglichen Ausflüge, fast zu lieben angefangen – selbst von ihnen, wenn die Todesstunde sich ihnen nahte, weiß man es, daß sie sich endlich nach einem flüchtigen Blicke des Antlitzes der Natur sehnten, daß sie, hinweggeführt von dem Schauplatze ihrer Mühen, Schmerzen und Freuden, gleichsam verjüngt zu werden schienen, Tag für Tag ein grünes, sonniges Plätzchen aufsuchten und in dem bloßen Schauen des blauen Himmels, der blumen-übersäeten Wiesen und des glitzernden Stromes einen Vorgeschmack des Himmels selbst empfanden, der ihre letzten Leiden versüßte, so daß sie friedlich wie die untergehende Sonne in ihre Gräber sanken, gleich der Sonne, die sie mit Entzücken am Fenster ihres einsamen, stillen Kämmerchens sinken sahen. Die Erinnerungen, welche durch friedliche ländliche Szenen hervorgerufen werden, sind nicht von dieser Welt und ihren Gedanken oder Hoffnungen. Ihr süßes, lindes Einwirken kann uns lehren, frische Kränze für die Gräber unserer Lieben zu winden, unsere Herzen zu läutern und unseren alten Haß, unsere Feindschaften zu verscheuchen und auszutilgen; und durch das alles zieht sich auch bei minder sinnigen Gemütern ein halbes, unbestimmtes Bewußtsein, Gefühle solcher Art einst in einer fernen, längstentflohenen Zeit empfunden zu haben – ein Bewußtsein, das feierlich-ernste Ahnungen einer entfernten kommenden Zeit erweckt und Stolz und Weltsinn dämpft und unterdrückt.

Das Dörfchen, wohin sie sich begaben, lag äußerst angenehm, und Oliver war es, als wenn ein neues Leben für ihn begonnen hätte, denn er hatte seine Tage von frühester Kindheit an in engen, oft schmutzigen Räumen und unter Geräusch und Lärm zugebracht. Rosen und Geißblatt bedeckten die Wände des Häuschens seiner Gönnerin, die Stämme der Bäume waren mit Efeu bewachsen, und die Gartenblumen erfüllten die Luft mit köstlichen Düften. Dicht neben dem Häuschen lag ein kleiner Friedhof, nicht angefüllt mit hohen, widerwärtigen Grabsteinen, sondern voll von bescheidenen Gras- und Mooshügelchen, unter welchen die alten Leute des Dorfs von ihren Mühen ausruhten. Oliver besuchte ihn oft und setzte sich, des elenden Grabes seiner Mutter gedenkend, bisweilen nieder und weinte ungesehen; doch wenn er dann die Augen emporhob zu dem klaren blauen Himmel über ihm, so dachte er sie sich nicht mehr ruhend im Schoße der Erde, sondern droben in den Wohnungen der Seligen und weinte wohl fort um sie, doch ohne Schmerz.

Es war eine schöne, glückliche Zeit. Die Tage vergingen friedlich und heiter, und die Abende brachten weder Furcht noch Sorge, kein Schmachten in einem düsteren Kerker, nicht den Anblick heimkehrender verworfener Menschen mit sich, sondern nur süße, traute Gedanken. Jeden Morgen ging Oliver zu einem silberhaarigen alten Manne, der dicht neben der kleinen Kirche wohnte und ihn lesen und schreiben lehrte und so freundlich mit ihm redete und sich so sehr um ihn bemühte, daß Oliver sich selbst nie genug tun konnte, ihm Freude zu machen. Zu anderen Tagesstunden lustwandelte er mit Mrs. Maylie und Miß Rose und hörte ihrer Unterhaltung zu oder saß bei ihnen an einem schattigen Plätzchen und horchte dem Vorlesen der jüngeren Dame, ohne sich jemals satt hören zu können. Zu anderen Zeiten war er eifrig mit seiner Lektion auf den folgenden Tag in einem kleinen Zimmer beschäftigt, dessen Fenster in den Garten ging; und wenn der Abend herankam, ging er wieder mit den Damen aus und war überglücklich, wenn er ihnen eine Blume pflücken konnte, nach welcher sie etwa Begehrung trugen, oder wenn sie etwas vergessen hatten und ihm auftrugen, es zu holen. War es dämmerig geworden, so pflegte sich Rose an das Fortepiano zu setzen und zu spielen oder ein altes Lied zu singen, das ihre Tante zu hören wünschte, und Oliver saß dann am Fenster und horchte den lieblichen Tönen, und Zähren wehmütiger Lust rannen über seine Wangen hinab.

Wie ganz anders wurde der Sonntag hingebracht, als ihn Oliver je verlebt hatte, und welch ein schöner Tag war er gleich den anderen Tagen in dieser glücklichen Zeit! Morgens wurde die kleine Kirche besucht, vor deren Fenstern sich grüne Blätter im Winde bewegten, und draußen zwitscherten die Vögel, und durch die niedrige Tür drang die reine, erquickende Luft herein. Die armen Landleute erschienen so sauber und reinlich und knieten bei den Gebeten so ehrfurchtsvoll nieder, daß ihr Gottesdienst wie eine Freude und nicht wie eine beschwerliche Pflichtübung erschien; und wenn der Gesang auch weniger als kunstlos war, so kam er doch vom Herzen und klang zum wenigsten Olivers Ohre wohltönender als alle Kirchenmusik, die er in seinem ganzen Leben gehört hatte. Und dann wurden die Spaziergänge wie gewöhnlich gemacht, und manche reinliche Hütte im Dorfe ward besucht; abends las dann Oliver einige Kapitel aus der Bibel vor, die ihm in der Woche vorher erklärt waren, und er empfand dabei eine so stolze Freude, als wenn er der Geistliche selbst gewesen wäre.

Morgens früh um sechs Uhr war er auf und draußen und streifte in den Feldern umher, Sträuße von wilden Blumen pflückend, mit denen er den Frühstückstisch schmückte. Auch brachte er frisches Kreuzkraut für Roses Vögel mit nach Hause, und waren dieselben besorgt, so hatte er fast täglich einen kleinen Mildtätigkeitsauftrag im Dorfe auszurichten, oder es war etwas im Garten zu tun, wobei er unter der Anleitung des Gärtners den lebhaftesten Eifer bewies, bis Miß Rose erschien und ihn durch manches Lächeln, manchen freundlichen Lobspruch belohnte.

So vergingen drei Monate – drei Monate, die im Leben der Glücklichsten schön zu nennen gewesen sein würden, für Oliver aber, nach seinen unruhigen, trüben Tagen, die ungemischteste Seligkeit waren. Bei reinster und edelster Liebe und Großmut auf der einen und bei der wahrhaft innigsten und wärmsten Dankbarkeit auf der anderen Seite war es in der Tat kein Wunder, daß Oliver am Schlusse dieses kurzen Zeitabschnittes bei der alten Dame und ihrer Nichte vollkommen heimisch geworden war, und daß beide durch ihren Stolz auf ihn und ihre Freude an ihm die heiße Zuneigung seines jungen und lebhaft empfänglichen Herzens vergalten.

 


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