Charles Dickens
Oliver Twist.Aus dem Englischen von Julius Seybt
Charles Dickens

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Siebenundvierzigstes Kapitel.

Unglückliche Folgen.

Es war fast zwei Stunden vor Tagesanbruch – die rechte Nachtzeit im Herbste, da, indem sogar der Schall zu schlummern scheint, die Straßen schweigend und verlassen und die Schlemmer und Schwelger nach Hause getaumelt sind, um zu träumen – als der Jude wachend in seiner alten Höhle mit einem so bleichen und verzerrten Gesichte und so roten und blutunterlaufenen Augen dasaß, daß er weniger einem Menschen als einem greulichen, vom Grabe feuchten und von einem bösen Geiste gepeinigten Gespenste glich.

Er kauerte, in eine zerlumpte Bettdecke gehüllt, an einem kalten Herde und hatte die Blicke auf ein dem Erlöschen nahes Licht gerichtet, das auf einem Tische neben ihm stand. Die rechte Hand hielt er, wie in Gedanken verloren, an die Lippen und kaute an seinen langen, schwarzen Fingernägeln, so daß man in dem sonst zahnlosen Munde einige Vorderzähne erblickte, die einem Hunde oder einer Ratte hätten angehören können.

Auf einer Matratze am Boden ausgestreckt lag Noah Claypole in festem Schlafe. Zwischen ihm und dem Lichte schweiften die zerstreuten Blicke des alten Mannes bisweilen hin und wieder, in dessen Innerem einander drängend unruhige Gedanken und stürmische Leidenschaften wogten und wühlten – bitterer Verdruß über das Mißlingen seines gewinnverheißenden Plans, tödlicher Haß gegen das Mädchen, das hinterlistig mit Fremden zu verkehren gewagt hatte, gänzliches Mißtrauen in die Aufrichtigkeit ihrer Weigerung, ihn zu verraten, Ingrimm darüber, sich an Sikes nicht rächen zu können, Furcht vor Entdeckung, Verurteilung und Tod, die wildeste, durch das alles entzündete Wut und neue Pläne der Arglist und schwärzesten Bosheit. Er saß da, ohne auch nur im mindesten seine Stellung zu verändern oder anscheinend die Zeit zu beachten, bis der Schall von Fußtritten auf der Straße bei seinem feinen Gehör seine Aufmerksamkeit zu erregen schien.

»Endlich,« murmelte er, über die trocknen, fieberheißen Lippen mit der Hand hinfahrend, »endlich!«

Die Glocke ertönte leise, er ging hinaus und kehrte bald darauf mit einem Manne zurück, der bis an das Kinn vermummt war und ein Bündel unter dem Arme trug. Es war Sikes.

»Da,« sagte der verwegene Raubgesell, das Bündel auf den Tisch werfend. »Mach' d'raus, was du kannst. Es hat mir Mühe genug gekostet; ich meinte schon vor drei Stunden hier sein zu können.«

Fagin verschloß das Bündel, setzte sich wieder, blieb stumm, blickte jedoch nach Sikes scharf hinüber und seine Lippen zitterten so heftig, und sein Gesicht war infolge der in ihm wühlenden Leidenschaften so verändert, daß der Dieb unwillkürlich sich zurücklehnte und ihn bestürzt ansah.

»Was gibt's?« fuhr er auf. »Zu allen Teufeln, was siehst du mich so an?«

Der Jude hob die rechte Hand empor und schüttelte den bebenden Zeigefinger; allein seine Bewegung war so heftig, daß er kein Wort hervorzubringen imstande war.

»Gott verdamm' mich!« rief Sikes, in seine Brusttasche greifend, aus. »Er ist verrückt geworden. Ich muß auf meiner Hut gegen ihn sein.«

»Nein, o nein,« brachte Fagin endlich hervor. »Ihr – Ihr seid's nicht, Bill. Gegen Euch hab' ich nichts – gar nichts, Bill.«

»Hm, 's ist auch ein Glück für einen von uns – gleichviel für wen,« sagte Sikes, ein Pistol absichtlich hervorziehend und in eine andere Tasche steckend.

»Ich hab' Euch zu sagen was, Bill,« fuhr der Jude näher rückend fort, »was Euch noch mehr wird erzürnen als mich.«

»So!« entgegnete Sikes mit einer ungläubigen Miene. »Wenn's aber wahr ist, so tu's Maul auf und mach' g'schwind, oder Nancy wird glauben, daß ich verloren wär'.«

»Das hat sie schon ausgemacht bei sich selbst bestimmt genug!«

Sikes blickte ihn ungewiß an, streckte die mächtige Faust nach ihm aus, schüttelte ihn und forderte ihn barsch und polternd auf, sich deutlicher zu erklären.

»Denkt Euch,« sagte der Jude mit vor Wut fast erstickter Stimme, »der Bursch da schliche nachts hinaus auf die Straßen, knüpfte an Einverständnisse mit unsern schlimmsten Feinden, gäbe ihnen Beschreibungen von uns und unsern verborgensten Schlupfwinkeln, verriete unsere geheimsten Pläne und Taten, setzte auch hinzu noch viel Lügen – was dann, was dann?«

Sikes erklärte unter einer furchtbaren Verwünschung, er würde ihm in einem solchen Falle den Schädel unter den eisernen Nägeln seiner Stiefel zermalmen.

»Aber wie, wenn ich's täte!« schrie der Jude fast, »ich der ich weiß so viel und so viele kann bringen an den Galgen.«

»Weiß nicht,« erwiderte Sikes, bei dem bloßen Gedanken die Zähne zusammenbeißend und erblassend. »Aber ich würd' im Kerker was tun, daß sie mich in Eisen schlagen müßten, und stellten sie mich mit dir vor Gericht, würd' ich dir vor den Richtern und allen den Kopf einschlagen. Ich würde 'ne solche Kraft haben,« murmelte er, den sehnigen Arm auf- und niederschwingend, daß ich ihn dir zu Brei schlagen könnte, als wenn ein belad'ner Frachtwagen d'rüber hingegangen wär'.«

»Würdet Ihr tun das wirklich?«

»Ob ich's wohl tun würd'! Stell' mich auf die Probe.«

»Wenn's aber getan hätte Charley oder der Baldowerer oder Bet oder –«

»Ist mir gleichviel wer,« unterbrach Sikes ungeduldig. »Ich würd' ihn bezahlen, möcht's sein, wer wollte.«

Fagin blickte ihn abermals scharf an, winkte ihm, zu schweigen, beugte sich über den Schläfer und schüttelte denselben, während Sikes verwundert und erwartungsvoll, die Hände auf die Knie stemmend, dasaß.

»Bolter, Bolter! Der arme Junge,« sagte Fagin, mit einer Miene emporblickend, in welcher die Vorahnung einer teuflischen Freude sich ausdrückte. »Er wird müd' – müde davon, daß er hat müssen wach sein ihretwegen so lange – ihr hat nachschleichen müssen noch so spät, Bill.«

»Was willst du damit sagen?« fragte Sikes, sich zurücklehnend.

Der Jude antwortete nicht, setzte seine Bemühungen, Noah zu wecken, fort, und es war ihm endlich einigermaßen gelungen.

»Erzähl' noch einmal – daß der es hört auch,« sagte er, nach Sikes hinzeigend.

»Was soll ich erzählen?« fragte Noah, noch halb im Schlafe.

»Das von – Nancy,« antwortete der Jude, Sikes fest am Arme fassend, wie um ihn zu verhindern, fortzueilen, bevor er genug gehört hätte, und fragte darauf dem schlaftrunkenen Noah mit einer Wut, deren er nur mit Mühe Herr zu bleiben vermochte, alles ab, was der Lauscher erhorcht hatte.

»Und was sagte sie,« fragte er endlich mit wutschäumenden Lippen, »was sagte sie vom vorigen Sonntage?«

»Der Herr fragte sie, warum sie nicht am vorigen Sonntage gekommen wäre,« antwortete Noah, in welchem eine Ahnung davon auftauchte, wer Sikes sein möchte; »und sie sagte, weil sie gewaltsam zurückgehalten worden wäre von Bill, dem Manne, von dem sie ihnen schon gesagt hätte.«

»Was weiter von ihm?« rief der Jude. »Was sagte sie von ihm weiter? Sag' ihm das, sag' ihm das!«

»Es wäre nicht leicht für sie,« fuhr Noah fort, »aus dem Hause zu kommen, ohn' daß er wüßte, wohin sie ginge, und sie hätt' ihm daher, als sie das erstemal zu der Dame gekommen wäre, 'nen Schlaftrunk eingeben müssen – ha, ha, ha!«

»Höll' und Teufel!« schrie Sikes, von dem Juden sich losreißend. »Laß mich!«

Er stürzte wütend hinaus, Fagin rief und eilte ihm nach, würde ihn jedoch nicht zurückgehalten haben, wenn die Haustür nicht verschlossen gewesen wäre.

»Laß mich 'naus,« tobte er, »oder nimm dich in acht! laß mich 'naus – hörst du?«

»Ein Wort, Bill – bloß ein einziges Wort,« versetzte der Jude, die Hand auf das Türschloß legend, und mit verstellter Besorglichkeit: »Ihr – Ihr wollt doch nicht tun etwas zu – zu Gewaltsames, Bill?«

Der Tag brach an, es war hell genug, als sie einander in das Gesicht schauten, um deutlich sehen zu können, und in ihren Augen blitzte ein Feuer, dessen Bedeutung nicht mißzuverstehen war.

»Ich meine,« setzte Fagin hinzu, einsehend, daß Verstellung nicht mehr möglich war, »nichts Gewaltsames, wodurch wir geraten könnten in Gefahr. Fein listig, Bill, und seid nicht zu verwegen.«

Er hatte unterdes aufgeschlossen, Sikes antwortete nicht, riß die Tür auf, stürzte hinaus und eilte, ohne rechts oder links zu schauen, ohne eine Gesichtsmuskel zu bewegen oder ein zorniges Wort zu murmeln, mit verbissenen Zähnen und trotzig-blutdürstiger Entschlossenheit nach seiner Wohnung. Er ging mit leisen Schritten hinauf, öffnete und verschloß die Tür seines Zimmers, stellte einen schweren Tisch gegen sie und schob den Bettvorhang zurück.

Und da lag Nancy halb angekleidet. Sie schreckte aus dem Schlaf empor.

»Steh' auf,« sagte er.

»Bist du es?« rief sie ihm, erfreut über seine Rückkehr, entgegen.

»Ja. Steh' auf!«

Es brannte ein Licht – er schleuderte es unter den Kaminrost. Sie stand auf und ging nach dem Fenster, um den Vorhang aufzuziehen.

»Laß das,« herrschte er ihr zu. »'s ist hell genug für das, was wir zu tun haben.«

»Bill,« sagte sie bestürzt, »was seht Ihr mich so an?«

Er heftete eine kurze Weile schnaubend und mit wogender Brust die Blicke auf sie, packte sie darauf beim Kopfe und der Kehle, zog sie in die Mitte des Gemachs, warf einen einzigen Blick nach der Tür und legte seine schwere Hand auf ihren Mund.

»Bill, Bill!« keuchte sie, in Todesangst unter seinem Griff sich sträubend, »ich will nicht schreien – nicht weinen – hört mich – sprecht doch nur – sagt mir, was ich getan habe.«

»Weißt es selbst, du Satan in Dirnengestalt. Bist belauert gewesen gestern abend; ich weiß jedes Wort, das du gesagt hast.«

»O, um der Liebe des Himmels willen,« rief sie, sich fest an ihn anklammernd, »dann schont mein Leben, wie ich Eueres geschont habe. Bill, bester Bill, Ihr könnt mich ja nicht morden wollen. Bedenkt, was ich gestern abend um Euretwillen aufgegeben habe. Ihr sollt Zeit haben, es zu bedenken, euch dies Verbrechen zu ersparen – ich lasse Euch nicht los, nimmermehr! Bill, Bill, um Gottes Barmherzigkeit, um Euret- und um meinetwillen, besinnt Euch, eh' Ihr mein Blut vergießt. Bei meiner sündigen Seele, ich bin Euch treu gewesen!«

Er suchte sich gewaltsam von ihr loszumachen, allein vergebens, sie hielt mit der Kraft der Verzweiflung fest.

»Bill,« rief sie, und bemühte sich, den Kopf auf seine Brust zu legen, »der Herr und die liebe Dame boten mir einen Zufluchtsort außer Landes an. Laßt mich noch einmal zu ihnen, daß ich sie auf den Knieen anflehe, Euch dieselbe Liebe und Güte zu erweisen, und dann laßt uns aus dieser Höhle entfliehen und weit von hier ein besseres Leben anfangen und unser voriges Leben, ausgenommen im Gebet, vergessen und uns nie wiedersehen. Es ist zur Reue niemals zu spät. Sie sagten es mir – ich fühle es jetzt – aber wir müssen Zeit – ein wenig, ein wenig Zeit haben!«

Er befreite einen seiner Arme und ergriff seine Pistole; doch so wütend er war, der Gedanke, daß sogleich alles entdeckt werden würde, wenn er Feuer gäbe, flog ihm durch den Sinn, und er schlug sie daher mit aller Kraft, die er zu sammeln vermochte, zweimal auf das zu ihm emporgehobene, das seinige fast berührende Gesicht.

Sie wankte und stürzte, fast erblindet von dem aus einer tiefen Wunde in ihrer Stirn hervorströmenden Blute, zu Boden, richtete sich jedoch mühsam wieder auf die Kniee, zog ein weißes Tuch – das ihr von Rose geschenkte – aus dem Busen und hielt es in den gefalteten Händen so hoch, als es ihre schwachen Kräfte erlaubten, zum Himmel empor und flehte um Erbarmen zu ihrem Schöpfer.

Sie war gräßlich anzuschauen. Der Mörder wankte zurück nach der Wand, hielt die Hand vor die Augen, um sie nicht zu sehen, ergriff einen schweren Knotenstock und schlug sie nieder.

 


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