Charles Dickens
Oliver Twist.Aus dem Englischen von Julius Seybt
Charles Dickens

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Viertes Kapitel.

Oliver Twist, dem eine neue Stellung angeboten wird, tritt in das bürgerliche Leben ein.

Die Direktoren hatten Bumble befohlen, Erkundigungen einzuziehen, ob nicht etwa ein Stromschiffer eines Knaben bedürfe, wie man denn die jüngeren Söhne und ebenso die Waisenkinder gern zur See schickt, um sich ihrer zu entledigen. Gerade als der Kirchspieldiener zurückkehrte, trat Mr. Sowerberry aus dem Hause, der Leichenbestatter des Kirchspiels, der es trotz seiner Beschäftigung doch nicht wenig liebte, zu scherzen.

»Ich habe soeben das Maß zu den beiden gestern abend gestorbenen Frauenzimmern genommen, Mr. Bumble,« rief er ihm entgegen und bot ihm zugleich seine Dose, ein artiges kleines Modell eines Patentsarges.

»Sie werden noch ein reicher Mann werden, Mr. Sowerberry,« bemerkte Bumble.

»Möcht's wünschen; aber die Direktoren zahlen nur gar zu geringe Preise.«

»Ihre Särge sind auch gar zu klein, Mr. Sowerberry.«

»Größere tun auch nicht not, Mr. Bumble, bei der neuen Speiseordnung.«

Bumble mißfiel die Wendung, welche das Gespräch genommen; er suchte es daher auf einen anderen Gegenstand zu lenken, spielte mit einem seiner großen Rockknöpfe mit dem Kirchspielsiegelemblem – dem barmherzigen Samariter – und begann von Oliver Twist zu sprechen.

»Beiläufig,« fing er an, »wissen Sie niemand, der einen Knaben braucht? Einen Parochiallehrling, der gegenwärtig eine bloße Last, ein dem Kirchspiel am Halse hängender Mühlstein, möchte ich sagen, ist. Sehr günstige Bedingungen, Mr. Sowerberry, sehr günstige Bedingungen!«

Bei diesen Worten erhob Mr. Bumble seinen Stab zu dem Anschlage über ihm und schlug dreimal auf die Worte »fünf Pfund«, die mit riesengroßen Buchstaben gedruckt waren. Dann fuhr er fort: »Nun, wie denken Sie darüber?«

»O,« erwiderte der Leichenbestatter; »nun, Sie wissen, Mr. Bumble, ich bezahle eine anständige Summe zu den Armenlasten.«

»Hm!« bemerkte Mr. Bumble. »Nun?«

»Nun,« antwortete der Leichenbestatter, »ich glaubte, daß, wenn ich so viel für die Armen bezahle, ich auch das Recht habe, so viel wie möglich aus ihnen herauszuschlagen, Mr. Bumble, und so – und so beabsichtige ich denn, den Knaben selber zu nehmen.«

Mr. Bumble faßte den Leichenbestatter beim Arme und führte ihn in das Haus. Mr. Sowerberry blieb fünf Minuten bei den Direktoren, und es wurde abgemacht, daß Oliver noch am selbigen Abend »auf Probe« zu ihm gehen sollte, was soviel sagen will, als daß der Meister, dem ein Kirchspielknabe als Lehrling übergeben wird, denselben auf eine Anzahl Lehrjahre haben soll, um mit ihm zu tun, was ihm beliebt, wenn er nach kurzer Probezeit ersieht, daß ihm der Knabe genug arbeitet, ohne zu eßlustig und also zu kostspielig zu sein. Dem kleinen Oliver wurde gesagt, wenn er nicht gutwillig ginge oder sich im Armenhause wieder blicken ließe, so würde man ihn nach gebührender Züchtigung zur See schicken, wo er unfehlbar ertrinken müsse. Er zeigte wenig Rührung und wurde nunmehr für gänzlich verhärtet erklärt. Er hatte freilich in Wahrheit nicht zu wenig, sondern eher zu viel Gefühl, war aber durch die erfahrene Behandlung betäubt und für den Augenblick vollkommen abgestumpft. Auf dem Wege zu Mr. Sowerberry ermahnte ihn Bumble in seinem gewöhnlichen Tone. Oliver traten die Tränen in die Augen.

»Was weinst du, Schlingel? Hab' ich's nicht immer gesagt, daß du die schlechteste, undankbarste Kreatur von der Welt bist? Was hast du? Sprich!«

»Ich bin so verlassen, Sir – so ganz verlassen! Jedermann ist so schlimm gegen mich. Es ist mir, als wenn ich hier blutete und mich totbluten müßte«; – und er preßte die Hand auf das Herz und blickte mit nassen Augen seinem Führer in das Gesicht.

Bumble hustete, sagte endlich: »Trockne nur deine Augen und sei ein guter Junge,« und ging schweigend weiter.

Der Leichenbestatter, der soeben die Fensterladen seines Geschäftes geschlossen hatte, machte gerade bei dem Scheine einer elenden Kerze einige Eintragungen in sein Rechnungsbuch, als Mr. Bumble eintrat.

»Aha!« sagte er, von dem Buche aufblickend und mitten in einem Worte aufhörend, »sind Sie es, Bumble?«

»Niemand anders!« erwiderte der Kirchspieldiener. »Hier ist er! Ich habe Ihnen den Knaben gebracht.« Oliver machte eine Verbeugung.

»Ah, dies ist also der Knabe?« fragte der Leichenbestatter, indem er die Kerze in die Höhe hob, um Oliver besser betrachten zu können. »Liebe Frau,« rief er dann, »wolltest du vielleicht die Freundlichkeit haben, einmal herzukommen?«

Mrs. Sowerberry tauchte aus einem kleinen Zimmer hinter dem Laden auf und zeigt sich in der Gestalt einer kleinen hageren Frau mit zänkischem Gesichtsausdruck.

»Liebe Frau,« sagte der Leichenbestatter, »dies ist der Knabe aus dem Armenhause, von dem ich dir erzählt habe.« Oliver machte abermals eine Verbeugung.

»Mein Himmel, wie klein er ist!« rief Mrs. Sowerberry aus.

»Er ist allerdings klein,« sagte Bumble, Oliver sehr unwillig anblickend, als ob es des Knaben Schuld gewesen wäre, daß er nicht größer war; »er wird aber größer werden, Mrs. Sowerberry.«

»O ja, auf unsere Kosten,« entgegnete sie verdrießlich. »Ich sehe keine Ersparnis mit Kirchspielkindern; sie kosten allezeit mehr, als sie wert sind. Die Männer glauben aber immer, alles am besten zu wissen.«

Bei diesen Worten öffnete sie eine Seitentür und stieß Oliver eine Treppe hinunter in ein finsteres, dumpfes Gelaß, den Vorraum des Kohlenkellers und »Küche« genannt, und befahl einer schlumpigen Dienstmagd, ihm zu geben, was für den nicht nach Hause gekommenen Trip zurückgestellt wäre.

O daß doch so mancher, dessen Blut von Eis und dessen Herz von Stein ist und der dennoch eine Stimme sich anmaßt, eine Stimme hat, wo es der Beurteilung der Lage, dem Wohl oder Wehe der Armen gilt, den Knaben hätte verschlingen sehen können, was der Haushund verschmäht! Wie sehr wäre so vielen Menschenfreunden dieselbe und keine andere Diät zu wünschen!

Frau Sowerberry hatte dem Knaben in stummem Entsetzen und mit trüben Ahnungen in betreff seines künftigen Appetits zugeschaut; er hörte auf zu essen, als er nichts mehr fand.

»Bist du endlich fertig?« sagte sie. »Nun komm, dein Bett ist unter dem Ladentische. Du wirst dich doch nicht grauen, zwischen Särgen zu schlafen? Aber wenn du auch nicht wolltest, du bekommst keine andere Schlafstelle.«

Oliver folgte schüchtern und geduldig seiner neuen Herrin.

 


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