Charles Dickens
Oliver Twist.Aus dem Englischen von Julius Seybt
Charles Dickens

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Sechsundvierzigstes Kapitel.

Nancy erfüllt ihre Zusage.

Die Kirchenglocken schlugen dreiviertel auf elf Uhr, als zwei Gestalten auf der Londoner Brücke erschienen. Die eine leicht und rasch vorwärts eilende war die eines Mädchens, das unruhig um sich blickte, als erwarte sie jemanden; die andere die eines Mannes, der im tiefsten Schatten, den er finden konnte, der ersteren in einiger Entfernung nachschlich, aber still stand, wenn das Mädchen still stand, und wieder vordrang, so schnell oder langsam dasselbe sich eben fortbewegte. So schritten sie über die Brücke von dem Middlesex- nach dem Surreyufer hinüber. Das Mädchen, das alle Vorübergehenden mit forschenden Blicken gemustert hatte, schien sich in seiner Erwartung getäuscht zu haben, drehte sich plötzlich um und ging wieder zurück. Der Kundschafter war indes auf seiner Hut gewesen, trat in eine Vertiefung, lehnte über das Geländer, ließ das Mädchen vorüber und folgte ihr sodann wieder nach wie vorher. Fast mitten auf der Brücke angelangt, stand sie still und er gleichfalls.

Es war eine sehr finstere und kalte Nacht, nur wenige gingen an den beiden vorüber und beachteten sie nicht. Die Themse war von dichtem Nebel bedeckt, den der matte, rötliche Glanz der Feuer auf den kleinen, in den Werften ankernden Fahrzeugen kaum zu durchdringen vermochte, und die Feuer ließen die Häuser am Ufer nur als dämmrige, noch undeutlichere Massen erscheinen. Die Türme der alten Heilands- und St. Magnus-Kirche – so lange schon die riesigen Wächter der alten Brücke – waren sichtbar durch die Finsternis, der Wald der Schiffsmaste aber unter der Brücke und weiter umher die Menge der Türme auch für den schärfsten Blick unerkennbar.

Das Mädchen war – fortwährend von seinem ungesehenen Beobachter verfolgt – unruhig ein paarmal hin und wieder über die Brücke gegangen, als die Glocke der St. Pauls-Kirche abermals das Hinschwinden eines Tages verkündete. Mitternacht war gekommen über die menschenerfüllte Stadt, die Paläste und Hütten, die Bettler- und Gaunerhöhlen, den Kerker und das Irrenhaus, die Gemächer, in welchen neues Leben begann und abgelaufenes endete, Gesunde ruhten und Kranke ächzten, Leichen starr dalagen und blühende Kinder süß schlummerten und träumten.

Nicht zwei Minuten, nachdem der letzte Glockenton verklungen war, stiegen eine junge Dame und ein grauköpfiger Herr aus einem Mietswagen nicht weit von der Brücke, auf welche sie rasch zuschritten. Sie hatten sich kaum auf derselben gezeigt, als das Mädchen aufmerksam stillstand und ihnen sodann entgegeneilte, deren Munde ein Ausruf der Überraschung entfloh, welchen sie jedoch sogleich unterdrückten, als ein wie ein Kärrner Gekleideter plötzlich fast gegen sie anrannte.

»Nicht hier,« flüsterte Nancy hastig. »Ich fürchte mich, hier mit Ihnen zu reden. Folgen Sie mir dort die Treppe hinunter.«

Der Kärrner drehte sich um, während sie so sprach und nach der Treppe hinwies, rief in rauhem Tone zurück, »wozu sie die Breite des ganzen Steinpflasters einnähmen,« und ging vorüber.

Die Treppe, nach welcher das Mädchen hingewiesen hatte, befand sich am Surreyufer und führte zu einem Landungsplatze hinunter; der Kärrner eilte hin zu ihr, blickte forschend umher und fing an hinabzusteigen. Sie besteht aus drei Absätzen, auf deren zweitem die Mauer linker Hand in einen Pfeiler nach der Themse hin ausläuft. Die Stufen der unteren Flucht sind breiter, und wer nur um eine einzige tiefer hinter den Pfeiler tritt, ist denen verborgen, die, wenn auch ganz in seiner Nähe, auf dem Treppenabsatze stehen. An dieser Stelle versteckte sich der Kärrner, mit dem Rücken an den Pfeiler tretend. Er war in gespanntester Erwartung, denn was hier vorging, lag gänzlich außer dem Kreise aller seiner Vermutungen, und wollte schon wieder höher hinaufgehen, als er den Schall von Fußtritten und gleich darauf dicht neben sich Stimmen vernahm. Er horchte mit verhaltenem Atem.

»Dies ist weit genug,« sagte der Herr. »Ich lasse die junge Dame nicht weiter hinuntergehen. Viele andere würden Ihnen nicht einmal so weit gefolgt sein; Sie sehen, daß ich Ihnen Vertrauen bewiesen habe.«

»Sie sind in der Tat sehr vorsichtig – oder auch mißtrauisch, wie mir scheint. Doch gleichviel,« sagte Nancy.

»Weshalb führen Sie uns denn aber an einen solchen Ort?« fragte der Herr in einem milderen Tone. »Warum wollten Sie sich nicht dort oben sprechen lassen, wo es hell ist und wo doch Menschen in der Nähe sind?«

»Ich habe es Ihnen schon gesagt, daß ich mich fürchtete, dort mit Ihnen zu reden. Ich weiß nicht, wie es kommt,« sagte Nancy schaudernd, »bin aber so beklommen und zittere so sehr, daß ich kaum auf den Füßen stehen kann.«

»Was fürchten Sie denn?« fragte der Herr mitleidig.

»Ich weiß es selbst kaum,« erwiderte das Mädchen. »Den ganzen Tag haben mich schreckliche Gedanken an die verschiedensten Todesarten und blutige Leichentücher heimgesucht, und fortwährend hat mich eine Angst gequält, daß es mir war, als wenn ich mitten im Feuer brannte. Ich las heut' abend in einem Buche, um mir die Zeit zu verkürzen, und las nur immer dasselbe heraus.«

»Einbildungen,« sagte der alte Herr beruhigend.

»Nein, nein,« entgegnete das Mädchen mit heiserer Stimme. »Ich will darauf schwören, daß das Wort ›Sarg‹ auf jeder Seite des Buches mit großen schwarzen Lettern gedruckt stand – und erst vor kurzem, als ich hierher ging, ward einer dicht an mir vorübergetragen.«

»Das ist nichts Ungewöhnliches. Ich habe sehr oft Särge an mir vorübertragen sehen.«

»Wirkliche – das war aber dieser nicht.«

Sie sprach dies alles in einem Tone, daß es den versteckten Lauscher kalt überlief, ja, daß ihm das Blut in den Adern erstarrte. Er hatte nie eine größere Herzenserleichterung empfunden, als in dem Augenblicke, da er die süße Stimme der jungen Dame – Roses – vernahm, die Nancy bat, sich zu beruhigen und sich nicht so entsetzlichen Gedanken hinzugeben.

»Reden Sie ihr freundlich zu, der Armen; sie scheint es zu bedürfen,« fügte sie, zu ihrem Begleiter sich wendend, hinzu.

»Ihre hochmütigen frommen Damen würden mich, wenn sie mich in dieser Nacht sähen, wie ich bin, verächtlich anblicken und mir vom ewigen Höllenfeuer und der Rache des Himmels predigen,« rief das Mädchen aus. »O, meine teure junge Dame, warum sind die nicht, die Gottes Auserwählte sein wollen, so mild und gütig gegen uns arme Unglückliche wie Sie! Ach, Sie besitzen alles, was jene verloren haben, Jugend und Schönheit und könnten gar wohl ein wenig stolz sein, statt so viel bescheidener.«

»Ah!« fiel der Herr ein; »ein Türke kehrt sein Antlitz, nachdem er es reinlich abgewaschen, nach Osten, indem er seine Gebete spricht. Jene guten Leute reiben an der rauhen Welt die Freundlichkeit von ihren Gesichtern ab und wenden sie dann nach der finsteren Seite des Himmels. Hab' ich zwischen dem Muselman und Pharisäer zu wählen, so lobe ich mir den ersteren.«

Er sprach die Worte zu der jungen Dame, doch vielleicht beabsichtigend, Nancy Zeit zu verschaffen, sich wieder zu sammeln. Bald darauf redete er das Mädchen an.

»Sie waren am vorigen Sonntagabend nicht hier.«

»Ich konnte nicht kommen – wurde gewaltsam zurückgehalten.«

»Von wem?«

»Von Bill – dem Manne, von dem ich der jungen Dame erzählt habe.«

»Ich will doch hoffen, daß niemand Verdacht wegen der Sache auf Sie geworfen hat, die uns jetzt zusammengeführt?« fragte der alte Herr besorgt.

»Nein,« antwortete Nancy kopfschüttelnd. »Es ist aber nicht eben leicht für mich, ihn zu verlassen, ohne daß er weiß, warum, und ich würde auch zu der Dame nicht haben gehen können, hätt' ich ihm nicht, um mich von ihm entfernen zu können, einen Schlaftrunk gegeben.«

»War er denn vor Ihrer Rückkehr erwacht?«

»Nein; und so wenig, wie er selbst, hat sonst jemand Verdacht auf mich geworfen.«

»Gut. Hören Sie mich jetzt an. Diese junge Dame hat mir und einigen andern, das vollkommenste Zutrauen verdienenden Freunden mitgeteilt, was Sie vor vierzehn Tagen ihr anvertraut haben. Ich gestehe, anfangs Zweifel gehegt zu haben, ob man sich ganz auf Ihre Aussagen verlassen könnte, halte mich aber jetzt davon überzeugt.«

»Das können Sie allerdings sein,« beteuerte Nancy.

»Ich wiederhole, daß ich es fest glaube; und um Ihnen zu beweisen, daß ich Ihnen zu vertrauen geneigt bin, sage ich Ihnen ohne Rückhalt, daß wir das Geheimnis, worin es auch bestehen mag, Monks durch Furcht zu entreißen gesonnen sind. Doch wenn – wenn wir seiner nicht sollten habhaft werden können oder wenn ihm nichts abzudringen wäre, so müssen Sie uns den Juden in die Hände liefern.«

»Fagin!« rief das Mädchen plötzlich zurücktretend aus.

»Ihn – ja ihn müssen Sie uns in die Hände liefern.«

»Nimmermehr – das werd' ich nimmermehr tun,« entgegnete Nancy; »werde es nie tun, solch ein Teufel er auch ist und obwohl er ärger als ein Teufel an mir gehandelt hat.«

»Sie wollen also nicht?« fragte der Herr, der keine andere Antwort erwartet zu haben schien.

»In keinem Falle!«

»Dann sagen Sie mir, warum Sie es nicht wollen.«

»Aus einem Grunde,« erwiderte Nancy mit Festigkeit, »aus einem Grunde, den die Dame kennt, und ich weiß, denn ich habe ihr Versprechen, sie wird dabei auf meiner Seite stehen; und aus dem weiteren Grunde, weil ich – ein so ruchloses Leben er auch geführt hat – gleichfalls einen schlechten Wandel geführt habe. Viele von uns sind miteinander schlecht und böse gewesen, und ich will sie nicht verraten, die mich hätten verraten können und es, so schlecht sie sind, nicht taten.«

»Dann,« fiel der Herr lebhaft ein, als wenn er erreicht hätte, was er eben gewollt, »dann liefern Sie mir Monks in die Hände und überlassen Sie es mir, nach Gutdünken mit ihm zu verfahren.«

»Wie aber, wenn er die andern verrät?«

»Ich verspreche Ihnen, daß die Sache ruhen soll, sobald wir ihm die Wahrheit abgedrungen haben. In Olivers kleiner Lebensgeschichte kommen ohne Zweifel Umstände vor, die man nur sehr ungern der Öffentlichkeit preisgeben würde, und ist nur die Wahrheit heraus, so soll niemand in Ungelegenheit kommen.«

»Aber wenn Sie sie nicht herausbekommen?«

»Dann soll der Jude nicht ohne Ihre Einwilligung vor Gericht gezogen werden, und ich glaube Ihnen für den Fall Gründe vorlegen zu können, nach deren Anhören Sie einwilligen werden.«

»Hab' ich dafür das Versprechen der Dame?« fragte Nancy mit Nachdruck.

»Ich gebe es Ihnen,« nahm Rose das Wort; »gebe Ihnen die aufrichtigste und bestimmteste Zusage.«

»Monks soll nie erfahren, wie Sie zu der Kunde, die Sie durch mich besitzen, gelangt sind?« fuhr das Mädchen nach einem kurzen Stillschweigen fort.

»Nein – nie,« erwiderte der Herr. »Er soll es nicht einmal vermuten können.«

»Ich bin eine Lügnerin gewesen und habe unter Lügnern gelebt von meiner frühsten Kindheit an, will aber Ihren Worten Glauben schenken,« sagte Nancy nach einem abermaligen Stillschweigen.

Beide versicherten sie, daß sie es getrost könne, und nunmehr nannte sie ihnen, so leise flüsternd, daß der Horcher nur sehr schwer zu verstehen vermochte, den Namen, den Stadtteil und die Straße der Taverne, aus welcher ihr Noah nach der Brücke gefolgt war. Sie sprach in kurzen Pausen; der Herr schien sich das Nötigste zu notieren. Als sie auch das Innere des Hauses beschrieben und angegeben hatte, wie es am besten beobachtet werden könnte, und an welchen Abenden und zu welchen Stunden es von Monks besucht zu werden pflegte, schien sie ein paar Augenblicke inne zu halten, um sich die Züge und das ganze Äußere desselben um so lebhafter zurückzurufen.

»Er ist groß,« sagte sie, »und kräftig gebaut, aber nicht stark; er hat einen lauernden Gang und blickt beim Gehen beständig erst über die eine und dann über die andere Schulter. Vergessen Sie das nicht, denn seine Augen liegen so tief wie nur immer möglich im Kopfe, so daß Sie ihn daran fast allein schon unter Tausenden zu erkennen vermögen. Er hat dunkles Haar und Augen und ein schwärzliches Gesicht, das aber ältlich und verfallen aussieht, obwohl er nicht über sechs- bis achtundzwanzig Jahre alt sein kann. Seine Lippen sind oft blau und durch Bisse entstellt, denn er hat fürchterliche Zufälle und beißt sich bisweilen sogar die Hände blutig – warum stutzten Sie?« fragte sie plötzlich abbrechend.

Der Herr erwiderte hastig, daß er sich dessen nicht bewußt wäre, und er bat sie, fortzufahren.

»Ich mußte dies großenteils von andern herauslocken, um es Ihnen sagen zu können,« sprach das Mädchen weiter, »denn ich habe ihn nur zweimal gesehen, und beide Male war er in einen weiten Mantel eingehüllt. Mehr glaube ich Ihnen nicht – doch ja! An seinem Halse, so hoch hinauf, daß man etwas davon sehen kann, wenn er sein Gesicht abwendet, ist –«

»Ein breites rotes Mal, wie von einer Brandwunde,« fiel der Herr ein.

»Wie – Sie kennen ihn!« rief das Mädchen aus.

Roses Lippen entfloh ein Ausruf des höchstens Erstaunens, und auf einige Augenblicke waren alle drei so stumm, daß der Horcher sie atmen hören konnte.

»Ich glaube es,« unterbrach der Herr jedoch bald das Stillschweigen. »Nach Ihrer Beschreibung sollte ich ihn allerdings kennen. Wir werden indes sehen. Es gibt auffallende Ähnlichkeiten – kann sein, daß er dennoch ein anderer ist.«

Er trat bei diesen, in einem verstellt gleichgültigen Tone gesprochenen Worten ein paar Schritte zurück, wobei er sich dem versteckten Kundschafter näherte, der ihn flüstern hörte: »Er muß es sein!« Gleich darauf sagte er wieder laut: »Junges Mädchen, Sie haben uns die wichtigsten Dienste geleistet, und ich wünsche Ihnen dankbar dafür zu sein. Was kann ich für Sie tun?«

»Nichts,« erwiderte Nancy.

»So dürfen Sie nicht sprechen,« fuhr der Herr in einem so dringenden und herzlichen Tone fort, daß auch ein weit verhärteteres Gemüt dadurch hätte gerührt werden mögen. »Ich bitte, sagen Sie es mir.«

»Ich muß dabei bleiben, Sir,« entgegnete Nancy weinend. »Sie können nichts tun, mir zu helfen. Für mich ist wahrlich keine Hoffnung übrig.«

»Sie schneiden sich die Hoffnung selbst ab,« fuhr der Herr fort. »Ihre Vergangenheit ist eine beklagenswerte Verschwendung unschätzbarer Jugendgaben gewesen, wie sie der Schöpfer nur einmal gibt und nicht wieder verleiht; auf die Zukunft aber können Sie Hoffnung setzen. Ich sage nicht, daß es in unserer Macht stehe, Ihnen Seelenfrieden zu bieten, der Ihnen nur in dem Maße werden kann, wie Sie selbst ihn suchen; wohl aber sind wir imstande, und es ist unser eifriger Wunsch, Ihnen einen stillen Zufluchtsort entweder im Lande, oder wenn Sie Furcht hegen, hier zu bleiben, außer Landes zu verschaffen. Noch ehe der Morgen graut, sollen Sie ihren bisherigen Genossen so gänzlich entrückt sein und so wenige Spuren hinter sich zurücklassen, als wenn Sie von der Erde verschwunden wären. Geben Sie unseren Vorstellungen und Bitten nach. Ich möchte nicht, daß Sie auch nur noch ein einziges Wort mit den Leuten Ihres bisherigen Umgangs wechselten, nur noch einen Blick auf die Stätte Ihres bisherigen Daseins würfen, oder die Luft nur wieder atmeten, welche Pest und Tod für Sie ist. Geben Sie unsern Bitten nach, während es noch Zeit ist, solange Sie noch können.«

»Sie läßt sich bewegen,« rief Rose aus; »ich weiß es, sie faßt den rettenden Entschluß.«

»Nein, nein,« erwiderte Nancy nach einem kurzen inneren Kampfe; »ich bin an mein bisheriges Leben gekettet. Ich verabscheue und hasse es jetzt, kann es aber nicht aufgeben. Ich war schon längst zu weit gegangen, um zurückkehren zu können – und doch weiß ich nicht, ob ich es nicht versucht haben würde, wenn Sie vor einiger Zeit so zu mir gesprochen hätten. Doch diese Angst ergreift mich wieder,« setzte sie, sich hastig umwendend, hinzu: »ich muß nach Hause gehen.«

»Nach Hause!« wiederholte Rose, großen Nachdruck auf die Worte legend.

»Nach Hause, Miß – nach einem solchen Hause, wie ich es mir durch die ganze Mühe meines Lebens erbaut habe. Lassen Sie uns scheiden. Man wird mich beobachten oder sehen. Fort, fort von hier! Habe ich Ihnen einen Dienst geleistet, so erzeigen Sie mir nur die einzige Güte, zu gehen und mich allein nach Hause zurückkehren zu lassen.«

»Es ist vergeblich,« sagte der Herr seufzend. »Wir gefährden vielleicht Ihre Person, wenn wir hier weilen, und haben Sie vielleicht schon länger aufgehalten, als Sie erwartet haben.«

»Ja, ja, das haben Sie,« sagte Nancy.

»Was kann das Ende des Lebens der Ärmsten sein?« rief Rose aus.

»Schauen Sie hinunter in das finstere Wasser!« sagte das Mädchen. »Wie oft lesen Sie von meinesgleichen, die sich in die Fluten hinunterstürzen und kein lebendes Wesen, sie zu beweinen oder nur nach ihnen zu fragen, zurücklassen. Es können Jahre darüber hingehen oder vielleicht nur Monate, doch nicht besser wird zuletzt mein Ende sein.«

»O bitte, reden Sie nicht so,« sagte Rose schluchzend.

»Sie werden nie davon hören, beste junge Dame, und Gott verhüte, daß solcher Graus – Gute Nacht, gute Nacht!«

Der Herr wandte sich ab.

»Nehmen Sie um meinetwillen diese Börse,« sagte Rose, »damit es Ihnen in der Stunde der Not nicht an einer Hilfsquelle mangle.«

»Nein, nein,« entgegnete das Mädchen. »Ich habe, was ich tat, nicht für Geld getan. Lassen Sie mir dieses Bewußtsein. Doch – geben Sie mir ein Andenken – etwas, das Sie getragen haben – nein, nein, keinen Ring – Ihre Handschuhe oder Ihr Taschentuch – so, des Himmels Segen über Sie – gute Nacht, gute Nacht!«

Ihre heftige Erregtheit und die Besorgnis einer Entdeckung, welche gefährlich für sie werden könnte, bewog den Herrn, sich ihrem Verlangen gemäß mit Rose zu entfernen. Auf der obersten Stufe angelangt, standen beide still.

»Horch!« flüsterte Rose. »Rief sie nicht? Ich glaube, daß ich ihre Stimme hörte!«

»Nein, mein liebes Fräulein,« erwiderte Brownlow, traurig zurückblickend. »Sie hat sich nicht einmal leise geregt und wird es auch nicht eher, als bis wir fort sind.«

Rose zögerte noch immer, allein der alte Herr legte ihren Arm in den seinigen und zog sie mit sanfter Gewalt fort. Sobald sie verschwunden waren, warf sich Nancy fast der Länge nach auf eine der Treppenstufen nieder und machte ihrer Herzensqual durch bittere Tränen Luft. Nach einiger Zeit stand sie wieder auf und begann mit wankenden Schritten ihren Heimweg. Der erstaunte Horcher blieb noch einige Minuten hinter dem Pfeiler stehen, schlich sodann die Treppe hinauf, lugte vorsichtig umher und eilte dann, so schnell er konnte, nach dem Hause des Juden zurück.

 


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