Charles Dickens
Oliver Twist.Aus dem Englischen von Julius Seybt
Charles Dickens

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Dreiunddreißigstes Kapitel.

In dem Olivers und seiner Gönnerinnen Glück eine plötzliche Störung erleidet.

Der Frühling schwand rasch dahin, und der Sommer kam, und war alles umher schön gewesen im Lenz, so blühte und glänzte es nun in vollster, üppigster Pracht. Die Bäume streckten ihre Arme über den durstigen Boden aus, verwandelten offene und nackte Stellen in dunkle, heimliche Plätzchen, und wie köstlich ließen sich aus ihrem stillen, hehren Schatten die sonnigen Felder beschauen! Die Erde hatte sich mit ihrem glanzvoll grünsten Mantel geschmückt, und Millionen Blüten durchdufteten die Luft. Alles grünte, blühte, strahlte von Lust und verkündete Freude.

Das ruhige Leben in Mrs. Maylies Landhäuschen nahm seinen Fortgang, und heiter und froh genossen die Bewohner die schöne Zeit. Oliver war gesund und kräftig geworden, ohne daß – wie es sonst wohl der Fall ist – eine Änderung in seinen Gefühlen oder seinem Benehmen eingetreten wäre. Er war fortwährend derselbe sanfte, zärtliche, liebevolle Knabe, der er gewesen, als unter Krankheit und Schmerz seine Kräfte geschwunden waren und seine Schwäche ihn auch bei den kleinsten Wünschen und Bedürfnissen von seinen Pflegerinnen abhängig gemacht hatte.

Einst an einem schönen Abende machte er mit Mrs. Maylie und Rose einen ungewöhnlich langen Spaziergang; es war sehr heiß gewesen, doch kühlte jetzt ein linder Wind die Luft, und am Himmel glänzte schon der Vollmond. Rose war sehr munter und wohlgemut, sie gingen unter fröhlichem Gespräche weiter, als sie gewöhnlich zu tun pflegten, Mrs. Maylie empfand endlich Ermüdung, und sie kehrten langsamer nach Hause zurück. Rose legte nur ihren Hut ab, setzte sich wie gewöhnlich an das Piano, schlug einige Akkorde an, ging zu einer langsam-feierlichen Weise über und fing, während sie dieselbe spielte, zu schluchzen an.

»Was weinst du, liebes Kind?« fragte Mrs. Maylie; allein Rose antwortete nicht und spielte nur ein wenig rascher, als wenn sie aus einem schmerzlichen Sinnen aufgeweckt worden wäre.

»Liebes Kind, was ist dir?« fragte Mrs. Maylie, hastig aufstehend und sich über sie beugend. »Dein Gesicht ist in Tränen gebadet. Was betrübt dich denn, bestes Kind?«

»Nichts, Tante, nichts,« erwiderte Rose. »Ich weiß selbst nicht, wie mir ist – ich kann es nicht beschreiben – ich fühle mich so matt, so –«

»Du bist doch nicht krank, Rose?« fiel Mrs. Maylie ein.

»O nein, nein,« sagte die junge Dame schaudernd, als wenn sie plötzlich von einem Fieberfroste geschüttelt würde; »mir wird wenigstens sogleich wieder besser sein. Schließe das Fenster, Oliver.«

Oliver eilte, ihr Geheiß zu erfüllen, sie zwang sich heiter zu scheinen und spielte eine muntere Weise; allein die Hände fielen ihr kraftlos in den Schoß, sie stand auf, sank auf das Sofa nieder, bedeckte ihr Antlitz und ließ den Tränen freien Lauf, die sie nicht mehr zu unterdrücken vermochte.

»Mein liebes Kind!« rief Mrs. Maylie, sie an die Brust drückend, aus; »ich habe dich ja noch nie so gesehen!«

»Ich beunruhige Sie nur sehr ungern,« erwiderte Rose, »kann aber trotz aller Mühe dies Weinen nicht unterdrücken. Ich fürchte, daß ich doch krank bin, Tante.«

Sie war es in der Tat; denn als Licht gebracht wurde, gewahrten alle, daß sich ihre Farbe in der kurzen Zeit seit der Rückkehr von dem Spaziergange in Marmorblässe verwandelt hatte. Ihr Antlitz hatte nichts von seiner Schöne verloren, und doch war mit ihren Zügen eine Wandlung vorgegangen, und es lag ein Ausdruck der Unruhe und Abspannung darin, den sie noch niemals gezeigt hatten. Nach Verlauf einer Minute waren ihre Wangen wieder von Purpurröte übergossen, ihre sanften blauen Augen bekamen einen stechenden, unheimlichen Blick, und auch dieser verschwand bald wieder, gleich einem vorüberziehenden Wölkchen, und die Leichenblässe kehrte zurück.

Oliver, der die alte Dame genau beobachtet hatte, bemerkte, daß sie große Unruhe empfand, wie es in Wahrheit bei ihm selber der Fall war; da sie sich indes offenbar den Anschein zu geben suchte, als wenn sie die Sache leicht nähme, so tat er dasselbe, was bei Rose eine günstige Wirkung hervorzubringen schien. Denn als sie auf Zureden ihrer Tante zu Bett ging, sah sie wieder wohler aus, versicherte, es auch zu sein und fügte hinzu, sie wäre überzeugt, daß sie am anderen Morgen gesund und munter wie sonst erwachen würde.

»Ich hoffe, Ma'am,« sagte Oliver, als Mrs. Maylie zurückkehrte, »daß Miß Rose nicht ernstlich krank werden wird. Sie sah heute abend unwohl genug aus; doch –«

Die alte Dame winkte ihm, nicht fortzufahren, setzte sich, stützte schweigend den Kopf auf die Hand und sagte endlich mit bebender Stimme: »Ich will es auch hoffen, Oliver. Ich habe einige Jahre sehr glücklich – vielleicht zu glücklich mit ihr verlebt, und es könnte Zeit sein, daß mir wieder ein Unglück begegnet – ich hoffe indes, nicht dieses.«

»Was für ein Unglück, Ma'am?« fragte Oliver.

»Ich meine den schweren Schlag,« antwortete die alte Dame fast tonlos, »das liebe Mädchen zu verlieren, das so lange schon meine Freude und mein Trost gewesen ist.«

»Das verhüte Gott!« rief Oliver hastig aus.

»Ich sage Ja und Amen dazu, mein Kind!« fiel die alte Dame, die Hände ringend, ein.

»Sie brauchen sicher so etwas Schreckliches nicht zu fürchten,« fuhr Oliver fort. »Miß Maylie war ja vor zwei Stunden vollkommen wohl.«

»Und jetzt ist sie sehr unwohl,« versetzte Mrs. Maylie, »und wird ohne Zweifel noch kränker werden. O meine liebe, liebe Rose! Was sollte ich anfangen ohne sie!« Sie wurde so sehr und so schmerzlich bewegt, daß Oliver, seine eigene Herzensangst unterdrückend, sich bemühte, sie zu beruhigen, und sie dringend bat, um der lieben jungen Dame selbst willen gefaßter zu sein.

»Bedenken Sie doch nur, Ma'am,« sagte er, gewaltsam die Tränen zurückdrängend, die ihm in die Augen schossen, »wie jung und wie gut sie ist und wie sie alles um sich her erfreut. Ich weiß es – weiß es ganz gewiß, daß sie um ihrer selbst und um Ihret- und unser aller willen, die sie so froh und glücklich macht, nicht sterben wird; nein, nein, Gott läßt sie nimmermehr schon jetzt sterben!«

»Ach! du sprichst und denkst wie ein Kind, mein guter Oliver,« sagte Mrs. Maylie, ihm die Hand auf den Kopf legend, »und irrst, so natürlich es sein mag, was du sagst. Indes hast du mich an meine Pflicht erinnert. Ich hatte sie auf einen Augenblick ganz vergessen, Oliver, und hoffe Verzeihung zu finden, denn ich bin alt und habe genug gesehen von Krankheiten und vom Tode, um den Schmerz zu kennen, den sie den Hinterbleibenden zufügen. Auch besitze ich genug Erfahrung, um zu wissen, daß es nicht immer die Jüngsten und Besten sind, die den sie Liebenden erhalten werden – was uns jedoch eher trösten als bekümmern sollte, denn der Himmel ist weise und gütig, und Erfahrungen solcher Art lehren uns eindringlich, daß es eine noch schönere Welt gibt als diese und daß wir bald hinübergehen zu ihr. Gottes Wille geschehe! Doch liebe ich sie, und er allein weiß es, wie sehr, wie sehr!«

Oliver war verwundert, daß Mrs. Maylie, sobald sie diese Worte gesprochen, ihren Klagen plötzlich Einhalt tat, sich hoch emporrichtete und vollkommen ruhig und gefaßt erschien. Er war noch mehr erstaunt, als er bemerkte, daß sie sich in ihrer Festigkeit gleich, bei allem Sorgen und Wachen besonnen und gesammelt blieb und jede ihrer Pflichten dem Anscheine nach sogar mit Heiterkeit erfüllte. Doch er war jung und wußte noch nicht, welch großen Tuns und Duldens starke Seelen unter schwierigen und entmutigenden Umständen fähig sind; und wie hätte er es wissen sollen, da sich die Starken selbst ihrer Kraft nur selten bewußt sind?

Es folgte eine angstvolle Nacht, und als der Morgen kam, waren Mrs. Maylies Vorhersagungen nur zu wahr geworden. Rose lag im ersten Stadium eines heftigen und gefahrdrohenden Fiebers.

»Wir müssen tätig sein, Oliver, und dürfen uns nicht einem nutzlosen Schmerze überlassen,« sagte Mrs. Maylie, den Finger auf den Mund legend und ihm fest in das Gesicht blickend. »Dieses Schreiben muß so eilig wie irgend möglich Mr. Losberne zugeschickt werden. Du sollst es nach dem Flecken tragen, der auf dem Fußwege nur vier Meilen entfernt ist; von dort soll ein reitender expresser Bote nach Chertsey abgehen. Der Gastwirt besorgt ihn, und ich weiß, daß du den Auftrag pünktlich ausrichten wirst.«

Oliver konnte nicht antworten, allein seine Mienen verkündigten, daß er vor Begierde brannte, sich sogleich auf den Weg zu begeben.

»Hier ist noch ein Schreiben,« fuhr Mrs. Maylie nachsinnend fort, »allein ich weiß kaum, ob ich es sogleich abschicken oder abwarten soll, wie es mit Roses Befinden wird. Ich möchte es lieber zurückhalten, bis ich das Schlimmste fürchten müßte.«

»Soll er auch nach Chertsey, Ma'am?« fragte Oliver ungeduldig, seinen Auftrag auszurichten, und die zitternde Hand nach dem Briefe ausstreckend.

»Nein,« erwiderte die alte Dame.

Sie gab ihn jedoch dem Knaben, da sie in Gedanken verloren war, und Oliver sah, daß er an Harry Maylie Esq. und nach dem Landsitze eines Lords, dessen Namen er noch nie gehört hatte, adressiert war.

»Soll er fort, Ma'am?« fragte Oliver ungeduldig.

»Nein; ich will bis morgen warten,« sagte die alte Dame, ließ sich das Schreiben zurückgeben, reichte Oliver ihre Börse, und er eilte hinaus, um in kürzester Frist nach dem Marktflecken zu gelangen, in welchem er staubbedeckt ankam. Er hatte bald das Gasthaus zum Georg gefunden und wandte sich an einen Postillon, der ihn an den Hausknecht verwies, von welchem er wiederum an den Wirt verwiesen wurde, der bedächtig zu lesen und dann zu schreiben und Befehle zu erteilen anfing, worüber manche Minute verging. Oliver hätte selbst auf das Pferd springen und davon galoppieren mögen; doch endlich sprengte ein Berittener des Wirts die Straße hinunter und war nach wenigen Augenblicken verschwunden. Oliver, der vor der Tür gestanden hatte, ging mit leichterem Herzen über den Hof des Gasthauses, um eiligst heimzukehren. Als er um die Ecke eines Stallgebäudes bog, rannte er gegen einen großen, in einen Mantel eingehüllten Mann an, der eben aus der Tür des Gasthauses getreten sein mußte.

»Ha! zum Teufel, was ist das?« rief der Mann zurückprallend und die Blicke auf Oliver heftend.

»Ich bitte um Vergebung, Sir,« sagte Oliver; »ich hatte große Eile und sah Sie nicht kommen.«

»Alle Teufel!« murmelte der Mann vor sich hin, den Knaben aus seinen großen schwarzen Augen anstarrend. »Wer hätte das denken können? Und wenn man ihn zu Staub zerriebe, er würde aus 'nem marmornen Sarge wieder aufstehen und mir in den Weg treten.«

»Es tut mir leid, Sir,« stotterte Oliver verwirrt; »ich hoffe, daß ich Ihnen keinen Schaden getan habe.«

»Daß seine Knochen verfaulen!« murmelte der finstere Mann durch die verbissenen Zähne; »hätte ich nur den Mut gehabt, das Wort auszusprechen, so hätte mich eine einzige Nacht von ihm befreien können. Fluch über dein Haupt und die Pest in deinen Leib, du Höllenbrand! Was hast du hier zu schaffen?«

Er hob drohend die Faust empor, knirschte mit den Zähnen und trat einen Schritt vor, als wenn er Oliver einen Schlag versetzen wollte, stürzte aber plötzlich zu Boden und wand und krümmte sich, während ihm dicker Schaum vor dem Munde stand. Oliver schaute dem Wahnwitzigen (denn ein solcher schien ihm der schreckliche Mann zu sein) ein paar Augenblicke zu, lief darauf in das Haus, um Beistand zu holen, verlor sodann keine Zeit mehr und eilte nach Hause zurück, mit großer Verwunderung und nicht ohne Bangigkeit an das seltsame Benehmen des Unbekannten zurückdenkend. Er verlor den ganzen Vorfall jedoch bald aus dem Gedächtnisse, denn als er in Mrs. Maylies Wohnung wieder angelangt war, hörte und sah er genug, was seinen Gedanken eine ganz andere Richtung gab.

Roses Zustand hatte sich sehr verschlimmert, und noch vor Mitternacht lag sie in Fieberphantasien. Der Wundarzt aus dem Dorfe hatte Mrs. Maylie erklärt, daß die Krankheit ihrer Nichte eine sehr beunruhigende Wendung genommen hätte, und zwar in dem Maße, daß ihre Wiederherstellung einem Wunder gleichkommen würde.

Wie oft sprang Oliver aus seinem Bette in der Schreckensnacht, um an die Treppe zu schleichen und zu horchen, was in dem Krankenzimmer vorgehen möchte! Er bebte fast fortwährend an allen Gliedern, und kalte Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn, wenn ihm irgendein Geräusch zu verkünden schien, daß das Schlimmste eingetreten sei. Er hatte nie so inbrünstig zum Himmel gefleht, wie er in dieser Nacht um die Erhaltung des teuren Lebens seiner holden, am Rande des Grabes schwebenden Freundin betete.

Die Ungewißheit, die schreckliche, ängstigende Ungewißheit, wenn wir untätig daneben stehen, während die Wagschale eines Heißgeliebten zwischen Tod und Leben schwankt – die folternden Gedanken, welche dann auf das Gemüt einstürmen, das Herz zu rascheren, heftigen Schlägen treiben, den Atem stocken machen – die düstern Bilder, welche sie heraufbeschwören – der verzweifelte Herzensdrang, etwas zu tun zur Linderung von Schmerzen, die wir nicht lindern können, zur Entfernung einer Gefahr, die wir nicht zu entfernen vermögen, und die tiefe, traurige Niedergeschlagenheit, welche uns dann bei dem Bewußtsein unserer Ohnmacht ergreift: – welche Qualen lassen sich diesen vergleichen, durch welche Erwägungen oder Anstrengungen könnten wir sie uns in der Fieberhitze der Aufregung, in unserer tiefen Not erleichtern?

Der Morgen kam, und das Häuschen war stumm und still. Man flüsterte nur; von Zeit zu Zeit ließen sich angstvolle Gesichter an der Tür blicken, und Frauen und Kinder gingen weinend wieder fort. Den ganzen langen Tag und noch Stunden lang, nachdem es dunkel geworden war, ging Oliver leise im Garten auf und ab, die Augen fortwährend hinauf nach dem Zimmer der Kranken gewandt und schaudernd beim Anblick des verdunkelten Fensters, das ihm aussah, als wenn drinnen der Tod lauernd ausgestreckt läge. Zu einer späten Abendstunde traf Mr. Losberne ein. »'s ist hart,« sagte der weichherzige Doktor, sich abwendend; »'s ist hart – so jung – so heiß geliebt von so vielen – doch aber ist nur wenig Hoffnung!«

An einem abermaligen Morgen strahlte die Sonne hell – so hell und heiter, als wenn sie auf kein Leiden, keine Sorge herabblickte; und indem die Blumen sie umblühten und Leben, Gesundheit und Töne der Freude und lachende Gegenstände sie rings umgaben, siechte die junge – schöne Dulderin dem Grabe entgegen. Oliver schlich hinaus auf den stillen Friedhof, setzte sich auf einen der kleinen grünen Hügel und weinte um sie in der Stille und Einsamkeit.

Der Tag war ein so köstlicher Sommertag, die sonnige Landschaft so heiter und glänzend, die Vögel sangen und hüpften so munter in den Zweigen oder schwangen sich so lebensfroh in die Lüfte empor, alles, alles schien so laut aufzufordern zur Freude und Lust, daß sich dem Knaben, als er die schmerzenden Augen aufschlug, unbewußt der Gedanke aufdrängte, dies sei keine Zeit für den Tod und Rose könne nimmermehr sterben, während so viele weit geringere Wesen so froh und munter wären; die Gräber wären nur für den kalten, freudlosen Winter, nicht für die sonnige, duftige, Lust weckende und gebende Sommerzeit. Fast hätte er geglaubt, die Leichentücher wären für die Alten und Abgelebten und nicht dazu bestimmt, die jungen und schönen Gestalten mit ihrer grausigen Nacht zu bedecken.

Ein Geläute der Kirchglocke unterbrach plötzlich seine kindlichen Gedanken. Es wurde zu den Begräbnisgebeten geläutet. Ein ländliches Leichengefolge schritt durch das Tor herein; die Leidtragenden hatten sich mit weißen Schleifen geschmückt; sie begruben einen Jüngling. Sie standen mit entblößten Häuptern am Grabe, und in ihrer Mitte kniete eine weinende Mutter. Aber die Sonne schien hell, und die Vögel zwitscherten und hüpften in den Zweigen fort und fort.

Oliver kehrte nach Hause zurück, gedenkend der vielfachen Beweise von Güte, die er von der jungen Dame empfangen und mit dem Wunsche, daß die Zeit noch einmal kommen möchte, wo er imstande wäre, ihr ohne Aufhören zu zeigen, wie dankbar und liebevoll gesinnt er gegen sie war. Er hatte sich nichts vorzuwerfen, denn er war eifrig in ihrem Dienste gewesen, und doch mußte er an zehn und wieder zehn Fälle denken, in welchen er meinte, nicht eifrig genug gewesen zu sein. Wohl sollten wir sorgfältig über unser Benehmen gegen die, mit denen unsere Lebensbahn uns zusammenführt, wachen, und so viel Liebe als möglich hineinlegen; denn jeglichen Todesfall begleitet eine Schar von Gedanken an so viel Versäumtes, so wenig Getanes – an so viel Vergessenes und an noch viel mehr, was hätte besser getan, oder wieder gut gemacht werden können, daß die Erinnerungen dieser Art zu den allerbittersten gehören, die uns quälen können. Keine Reue ist so schmerzlich, als die vergebliche, und wollen wir uns ihre Peinigungen ersparen, so laßt uns beizeiten allen dessen gedenken.

Als Oliver zu Hause angelangt war, fand er Mrs. Maylie im kleinen Wohnzimmer. Sein Herz zagte in ihm bei ihrem Anblick, denn sie hatte das Bett ihrer Nichte noch keine Minute verlassen, und er zitterte, zu denken, welche Veranlassung sie von demselben verscheucht haben könnte. Er vernahm, daß die Patientin in einen festen Schlummer verfallen sei, aus welchem sie erwachen würde zur Genesung und zum Leben, oder um ihren Lieben das letzte Lebewohl zu sagen und von dieser Welt zu scheiden.

Sie saßen stundenlang horchend und zu sprechen sich scheuend, beieinander. Das Mahl wurde unangerührt hinausgetragen, ihre Blicke hingen an der Pracht der untergehenden Sonne, doch waren ihre Gedanken bei einem anderen Gegenstande. Ihr gespanntes Ohr vernahm den Schall herannahender Fußtritte, und sie eilten zugleich nach der Tür, als Losberne eintrat.

»Was haben Sie von Rose zu melden?« rief ihm die alte Dame entgegen. »Sagen Sie es sogleich. Ich kann alles, nur keine Ungewißheit ertragen. In des Himmels Namen, reden Sie! Ist sie tot, ist sie tot?«

»Nein,« entgegnete der Doktor äußerst bewegt. »So wahr Er gütig und barmherzig ist, wird sie leben, um uns alle noch viele Jahre zu beglücken!«

Die alte Dame fiel auf die Knie nieder und mühte sich, die Hände zu falten; allein ihre Kraft, die sie so lange aufrecht erhalten hatte, floh mit dem ersten Dankesseufzen, das sie zum Himmel emporsandte, und sie sank zurück in die Arme des herbeigeeilten Doktors.

 


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