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Der Leser macht einige neue Bekanntschaften.
»Wo ist Oliver?« fragte der Jude, sich drohend erhebend. »Wo ist der Junge?«
Die jugendlichen Diebe sahen ihren Lehrmeister erschrocken über dessen Heftigkeit an und blickten unsicher einander an. Aber sie antworteten nicht.
»Was ist aus dem Jungen geworden?« fragte der Jude, indem er dem Baldowerer mit festem Griffe beim Kragen packte und fürchterliche Verwünschungen ausstieß. »Sprich, oder ich erdrossele dich!« – »Willst du sprechen?« fuhr er fort, als keine Antwort erfolgte, und schüttelte den Baldowerer heftig.
Charley erhob ein jammervolles Geheul, sein Freund riß sich los, ergriff ein Messer und war im Begriff, es dem Juden in die Seite zu stoßen, als die Türe geöffnet wurde und ein Vierter, gefolgt von einem knurrenden, zerbissenen Hunde, eintrat.
»Was gibt's hier, zu allen Teufeln! Spitzbube von Juden, was soll das bedeuten?«
Die grobe, polternde Stimme gehörte einem vierschrötigen Manne von etwa fünfundvierzig Jahren mit einem breiten Gesicht und düster grollenden Blicke an. Sein Bart war seit mehreren Tagen nicht abgenommen, und das eine Auge von einem Schlage angeschwollen, den er erst vor kurzem erhalten haben mußte. Arm- und Beinschellen dachte man sich bei der ganzen Erscheinung leicht hinzu.
Er setzte sich gemächlich. »Was sind das hier für Sachen?« fuhr er fort. »Warum mißhandeltst du die Jungen, du alter unersättlicher Filz und Pascher?Hehler Ich wundere mich nur, daß sie dir die Kehle nicht abschneiden, was ich unfehlbar tun würde, wenn ich in ihrer Haut steckte. Ich hätt's längst getan, wenn ich dein Lehrling wäre. Freilich – verkaufen hätt' ich deinen Haut- und Knochenkadaver nicht können; du bist zu nichts gut, denn als ein merkwürdiges Stück von Häßlichkeit in Spiritus aufbewahrt zu werden, und sie blasen so große Gläser nicht.«
»Pst, pst! Mr. Sikes,« fiel der zitternde Jude ein; »nicht so laut, nicht so laut!«
»Ich will dich bemistern; du hast immer Teufeleien im Sinn, wenn du damit kommst. Du weißt meinen Namen, und ich werd' ihm keine Unehre machen, wenn die Zeit kommt.«
»Schon gut, schon gut; also Bill Sikes,« sagte der Jude kriechend demütig. »Ihr scheint übler Laune zu sein, Bill.«
Bill überhäufte ihn zur Erwiderung abermals mit Vorwürfen und Schimpfwörtern und deutete dabei auf so verdächtige Dinge hin, daß ihn Fagin angstvoll und mit einem Seitenblicke nach den beiden Knaben fragte, ob er wahnsinnig geworden wäre? Bill machte pantomimisch einen Knoten unter seinem linken Ohre, wies durch eine Kopfbewegung über seine rechte Schulter, welche Symbolik der Jude vollkommen zu verstehen schien, forderte ein Glas Branntwein und fügte die Erinnerung hinzu, es aber nicht zu vergiften. Er sagte dies scherzend; hätte er jedoch den satanischen Blick sehen können, mit welchem der Jude sich umwendete, um nach dem Schranke zu gehen, so würde ihm die Warnung keineswegs unnötig erschienen sein.
Nachdem er einige Gläser hinuntergestürzt, ließ er sich herab, die jungen Herren anzureden, was zu einem Gespräch führte, in dessen Laufe ihm Olivers Gefangennehmung umständlich und mit solchen Ausschmückungen erzählt wurde, wie sie der Baldowerer für nötig erachtete.
»Ich fürchte, daß er wird etwas lehmern, wodurch wir kommen in Ungelegenheit,« bemerkte der Jude.
»Sehr wahrscheinlich,« sagte Bill mit einem boshaften Grinsen. »Du bist verloren, Fagin.«
Der Jude tat, als ob er die Unterbrechung nicht beachtet hätte, behielt Sikes scharf im Auge und fuhr fort: »Ich fürchte nur, wenn mir das Handwerk gelegt würde, möcht's auch noch anderen mehr gelegt werden, und daß die Geschichte ein schlechteres Ende nimmt für Euch als für mich, mein Lieber.«
Sikes fuhr zusammen und blickte den Juden wütend an, der jedoch die Achseln zuckend gerade vor sich hinstarrte. Nach einem langen Stillschweigen sagte er mit leiserer Stimme: »Wir müssen zu erfahren suchen, was sich auf der Polizei zugetragen hat.«
Fagin nickte beifällig.
»Hat er nichts ausgeschwatzt und ist ein Haftsbefehl gegen ihn ausgestellt worden, so ist nichts zu fürchten, bis er wieder loskommt; dann aber müssen wir seiner so bald wie möglich wieder habhaft zu werden suchen.«
Der Jude nickte abermals. Der Rat war offenbar gut, nur war die Ausführung schwierig, da alle vier Gentlemen einen unüberwindlichen Widerwillen dagegen hegten, einem Polizeiamte nahe zu kommen. Sie blickten einander verlegen an, als die beiden jungen Damen eintraten, deren Bekanntschaft Oliver vor einigen Tagen gemacht hatte. Der Fall wurde ihnen vorgetragen, und Fagin sprach seine Zuversicht aus, daß Betsy den Auftrag übernehmen werde. Die junge Dame war zu wohlerzogen und zu feinfühlend, um einem Mitgliede der Gesellschaft geradezu oder vielleicht gar mit Schärfe zu widersprechen oder eine Bitte abzuschlagen. Sie sagte daher keineswegs entschieden nein, sondern begnügte sich mit der Versicherung, daß sie sich hängen lassen wollte, wenn sie's täte.
Der Jude wendete sich an ihre Freundin: »Liebe Nancy, was sagst du?«
»Daß ich mich schönstens hüten werde; also gebt Euch nur weiter keine Mühe, Fagin.«
»Wie soll ich das nehmen?« fiel Sikes grollend ein.
»Just wie ich's gesagt habe, Bill,« entgegnete die Dame sehr ruhig.
»Du bist aber eben die rechte Person dazu; es kennt dich hier herum niemand.«
»Und es tut auch gar nicht not, daß mich jemand kennen lernt, was ganz gegen meinen Wunsch wäre.«
»Sie geht, Fagin,« sagte Sikes.
»Nein, sie läßt's wohl bleiben,« eiferte Nancy.
»Ja, ja, sie geht doch,« wiederholte Sikes.
Und er hatte recht. Nancy ließ sich endlich durch Geschenke, Versprechungen und Drohungen bewegen, den Auftrag zu übernehmen. Auch hatte sie in der Tat weniger als ihre Freundin zu besorgen, mit einem ihrer zahlreichen Bekannten zusammenzutreffen, da sie erst seit ganz kurzer Zeit die entlegene, sehr anständige Vorstadt Ratcliffe mit der Gegend von Fieldlane vertauscht hatte. Der Jude staffierte sie aus seinen unerschöpflichen Vorräten so aus, wie es dem Zwecke am angemessensten erschien, und gab ihr einen Korb und einen Hausschlüssel in die Hand.
»Ach, mein Bruder! mein armer lieber kleiner Bruder,« begann Nancy mit überströmenden Tränen und händeringend zu wehklagen. »Ach, was ist aus meinem Bruder geworden – wo soll ich ihn finden? O, haben Sie Erbarmen, liebe Herren, und sagen Sie mir, was aus ihm geworden ist!«
Ihre Zuhörer waren entzückt; sie hielt inne, blinzelte lächelnd und bedeutungsvoll und verschwand.
»Die Nancy ist 'ne gescheite Dirne,« sagte der Jude mit feierlichem, nachdenklichem Kopfnicken zu seinen beiden jungen Freunden, als wenn er sie mahnen wollte, das eben geschaute glänzende Beispiel nachzuahmen.
»Sie ist 'ne Zierde ihres Geschlechts,« stimmte Sikes, sein Glas füllend und nachdrücklich auf den Tisch schlagend, ein. »Sie lebe hoch, und möchten ihr alle gleich werden!«
Die Vielgepriesene eilte unterdes nach dem Polizeiamte, wo sie bald, trotz ein wenig natürlicher Schüchternheit, allein und ohne Beschützer die Straßen zu durchwandern, glücklich und ohne Gefährde anlangte. Nach einigen mißlungenen Versuchen wendete sie sich weinend und wehklagend an den Gefängniswärter, von welchem sie in Erfahrung brachte, daß Olivers Unschuld ans Licht gekommen und daß er von dem beraubten Herrn mit fortgenommen worden sei, der in der Gegend von Pentonville wohne, wohin zu fahren er den Kutscher angewiesen habe. Mit dieser Auskunft kehrte sie zum Juden zurück.
Sobald sie ihren Bericht erstattet hatte, rief Bill Sikes hastig seinen Hund, stülpte den Hut auf den Kopf und entfernte sich, ohne sich Zeit zu der Formalität zu nehmen, der Gesellschaft einen guten Morgen zu wünschen.
»Wir müssen ihn ausfindig machen; wir müssen wissen, wo er steckt,« sagte der Jude in großer Aufregung. »Charley, geh' auf die Lauer, bis du etwas von ihm siehst oder hörst. Beste Nancy, ich muß ihn wieder haben – ich verlasse mich ganz auf dich und den Baldowerer. Da, da habt ihr Geld. Ich entferne mich heut abend von hier – ihr wißt, wo ich zu finden bin. Macht, daß ihr fortkommt – ihr dürft keinen Augenblick länger hier bleiben.«
Er stieß alle hinaus, verschloß die Tür hinter ihnen und steckte seine Kostbarkeiten zu sich. »Er hat nichts ausgeschwatzt auf der Polizei,« murmelte er: »tut er's aber gegen die Leute, bei denen er sich jetzt aufhält – wir werden ihn wieder bekommen und wollen ihm schon stopfen den Mund.«