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XXVIII
Die Säkularfeier der französischen Revolution. – Sergius Bobochoff. Das Ende der Tragödie

Aus dem Jahre 1889 ist mir auch eine freundliche Erinnerung geblieben, diejenige an unsere Feier des hundertsten Jahrestages der Erstürmung der Bastille. Als das französische Volk den Gedenktag seiner großen Revolution mit lautem Jubel feierte, schlossen sich dieser Feier im fernsten Osten, an einem der ödesten Orte der Welt, einige Dutzend Menschen an, Sträflinge, Gefangene des russischen Zaren. Freilich war es ein recht bescheidenes Fest, ohne Bankett, ohne Toaste, ohne Reden. Tee und ein Kuchen, auf gemeinsame Kosten hergestellt, war alles, was wir uns bieten konnten, und unser Bankettsaal war der Gefängnishof, wohin wir die Tische aus den Kammern geschafft hatten, um gemeinsam zu tafeln; dort saßen wir und gedachten des großen Sieges der Revolution und auch der Helden, der Geistesheroen der zivilisierten Welt.

»Wird wohl der Tag kommen, wo das Volk unsere Bastillen schleift, die Peter-Pauls-Feste, die Zitadelle von Warschau und viele andere Kerker, in denen der Zarismus seine Feinde einschließt?« fragten wir uns; »wird von uns dann noch einer am Leben sein?« – »Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wird die Freiheit in Rußland erkämpft sein!« versicherten die Optimisten. – »Wer weiß, ob sie jemals kommt,« meinten die Skeptiker. Es wurde debattiert und gestritten. Viele, die damals voller Hoffnung waren, ruhen im Grabe, andere vegetieren heute noch in den Einöden Sibiriens ...

Doch zurück zu den traurigen Ereignissen, die uns damals in Kara unablässig heimsuchten.

Als Sigida den Kommandanten geohrfeigt hatte, begannen die Frauen abermals den Hungerprotest, den dritten und furchtbarsten. Unbeugsam beharrten sie darauf, Masjukoff müsse gehen, und wenn es sie alle das Leben kosten würde. Diesmal nahmen sie während ganzer Tage keine Nahrung zu sich, und Sigida überstand, wie behauptet wurde, zweiundzwanzig Tage. Als dann der Gefängnisarzt erklärte, er könne nicht für ihr Leben einstehen, kam vom Gouverneur der Befehl, sie künstlich zu ernähren; ob der Arzt diesem Befehl nachkam, weiß ich nicht. Es ging damals auch das Gerücht, daß an einem dieser furchtbaren Tage der Arzt ein Recontre mit Marie Koivaleivskaja hatte. Er war in ihre Zelle gekommen, als sie gänzlich durch Hunger erschöpft im Bette lag; sie glaubte, er wolle ihr gewaltsam auf künstlichem Wege Nahrung zuführen, und schlug ihn ins Gesicht. Der Arzt, ein im allgemeinen humaner Mensch, soll dies aber als die Tat einer Kranken hingenommen haben, die nicht verantwortlich gemacht werden kann für ihre Erregung; er sagte ihr, sie hätte ihm unrecht getan, da er nicht die Absicht habe, ihr etwas anzutun, worauf sie sich entschuldigte. Der Arzt erzählte später seinen Bekannten, daß er niemals eine solche Frau von so hervorragendem Charakter, so großem Geist und solcher Beredsamkeit gesehen habe.

Endlich sah man ein, daß die protestierenden Frauen, die bereits am Rande des Grabes waren, unbeugsam bleiben würden, und die höhere Verwaltungsbehörde ließ sich zu folgendem Kompromiß herbei: Masjukoff wollte man nicht entfernen, damit es nicht hieße, die Gefangenen haben dies erzwungen, aber der Gouverneur verfügte, daß Sigida, Kowalewskaja, Smirnizkaja und Kaljuschnaja fortan nicht dem Kommandanten, sondern der allgemeinen Gefängnisverwaltung unterstehen sollten, weshalb man sie in das Gefängnis für weibliche Kriminalgefangene überführte. Unsere Protestlerinnen gaben sich damit zufrieden und stellten den Hungerprotest ein. Jedoch war damit das Martyrium der unglücklichen Frauen nicht beendet, es sollten noch schlimmere Leiden über sie kommen.

In der zweiten Hälfte des Oktober erschien Masjukoff, der sich nicht mehr sehen ließ, seit ihn Sigida geohrfeigt hatte, in unserem Gefängnis. Er war, was bisher niemals der Fall gewesen, von einem Convoi bewaffneter Soldaten umgeben. Der Mann schien äußerst niedergedrückt und verstört, er versteckte sich hinter den Soldaten und forderte uns auf, einen Befehl des Gouverneurs entgegenzunehmen. Als wir auf dem Korridor zusammengetreten waren, las er mit zitternder Stimme ein Schriftstück vor, dessen Inhalt besagte, daß infolge der Tumulte unter den politischen Gefangenen in Kara der Generalgouverneur uns bei Wiederholung derartiger Vorkommnisse die härtesten Strafen androhe, selbst körperliche Züchtigung werde zur Anwendung kommen.

Nun waren die politischen Gefangenen vieles zu ertragen imstande, aber niemals körperliche Züchtigung. Schon die bloße Drohung damit hielten viele von uns für eine Beleidigung, die nur mit unserem Blute gesühnt werden könnte. Diese Anschauung fand einen beredten Vertreter in Sergius Bobochoff. Ich habe den Namen dieses Vortrefflichen bisher nicht genannt, da seine Rolle, die ihn den russischen Revolutionären unvergeßlich macht, erst mit dem Momente jener Herausforderung seitens des sibirischen Satrapen begann.

Sergius Bobochoff stammte aus dem Wolgagebiete. Er hatte die Petersburger Tierarzneischule besucht. Ende der sechziger Jahre war er wegen eines Studentenkrawalls, der sich gegen Professor Zion richtete und seinerzeit viel Staub aufwirbelte, relegiert worden. Später wurde er auf »administrativem Wege« in die Einöden des Gouvernements Archangels verbannt; er machte 1878 einen Fluchtversuch. Als man ihn einfing, feuerte er einen Revolverschuß in die Luft; er hoffte, daß man ihn deshalb vor Gericht stellen würde, wo er Gelegenheit finden könnte, die Willkür der sogenannten administrativen Verbannung zu geißeln. Wegen dieses Schusses wurde er zu zwanzig Jahren Katorga verurteilt und 1879 nach Kara gebracht.

In den nahezu dreißig Jahren, während deren ich mich unter russischen Revolutionären bewegte, habe ich manch einen hervorragenden Menschen kennen gelernt, aber ich könnte keinen nennen, der sittlich höher stände als Bobochoff. Herzliche Innigkeit, strenge Rechtlichkeit, sittlicher Ernst und grenzenlose Hingabe an seine Idee waren harmonisch in seinem Wesen vereinigt. Er war der bescheidenste Mensch, den man sich denken kann, aber wenn es galt, die Ehre der Revolutionäre hochzuhalten, wenn es sich um eine Frage der Pflicht handelte, dann schien er wie umgewandelt und wurde zum feurigen und hinreißenden Propheten. Niemals gab es bei ihm den leisesten Widerspruch zwischen Wort und Tat; er war einer der konsequentesten und rigorosesten russischen Revolutionäre. Kein Wunder, wenn dieser Mann in Kara allgemeine Anerkennung und Achtung genoß, obwohl nicht alle seine Anschauungen teilten.

Als er in den Kerker kam, war er ein Jüngling, und die Ideen, die er eingesogen hatte, waren die damals herrschenden, dem Anarchismus verwandten, die Ideen der Buntari; ihnen blieb er treu bis in den Tod. Überhaupt haben in dieser Beziehung Kerker und Verbannung sozusagen konservierende Wirkung; die Ideen, mit denen man in den Kerker kommt, erstarren gleichsam und bleiben während der ganzen Zeit unantastbar. Bobochoff war sehr belesen und stürzte sich leidenschaftlich über alles her, was sozialpolitisches Interesse bot. Aber es erging ihm wie vielen anderen intelligenten Leuten in unserem Gefängnis: aus jedem Buch las er nur immer Dinge heraus, die seine alten Anschauungen neu bekräftigten. So interessierte ihn zum Beispiel auch die sozialdemokratische Lehre aufs lebhafteste, aber seine Vergangenheit hinderte ihn, den Ideengang zu erfassen, und er stritt sich beständig mit den Anhängern dieser Richtung herum. Wir waren nie Kammergenossen, aber ich habe oft während der Spaziergänge endlose Debatten über dieses Thema mit ihm geführt. Dabei zeigte er sich stets als ein musterhafter Debatteur: aufmerksam, zurückhaltend, niemals ausfallend und persönlich.

Bobochoff nahm sich nun die Bedrohung mit körperlicher Züchtigung lebhafter als die anderen zu Herzen. Seine Idee, für die er alsbald Propaganda machte, war die: wir sollten umgehend ein Telegramm an das Ministerium des Innern senden und erklären, daß, wenn die Drohung des Generalgouverneurs nicht rückgängig gemacht würde, wir alle Selbstmord begehen würden. Konsequent verlangte er dann weiter, daß, im Falle das Ministerium bis zu einer bestimmten Frist nicht nachgeben würde, wir der Reihe nach, wie es das Los bestimme, uns das Leben nehmen müßten.

Eines Tages hatte ich Gelegenheit, mit ihm über seinen Vorschlag zu sprechen. Ich suchte ihm die Unausführbarkeit desselben zu beweisen und betonte insbesondere, daß der Gedanke, das Los über die Reihenfolge bestimmen zu lassen, unhaltbar sei: der Selbstmord höre dann auf, ein freier Willensakt zu sein, sondern jeder, der einmal eingewilligt hatte, war nachher gezwungen, sich das Leben zu nehmen, auch wenn er anderen Sinnes geworden wäre. Außerdem suchte ich ihm zu beweisen, daß, sobald die Behörde über unser Vorhaben unterrichtet sei, die Ausführung verhindert werden könnte.

Bobochoff bekämpfte meine Einwände leidenschaftlich, »Ich hänge ebensosehr am Leben wie jeder andere,« sagte er, »wenn ich aber bereit bin, in den Tod zu gehen, um zu protestieren, so doch nur, weil ich darauf rechne, daß andere es auch tun. Ohne das Los, das heißt ohne Verpflichtung, hätte es überhaupt keinen Sinn, dann würden andere, nachdem ich mir das Leben genommen, es nicht tun, mein Opfer wäre umsonst geschehen und die Wirkung auf die Regierung würde ausbleiben.« – Ich hatte nach dieser Unterredung den Eindruck, daß Bobochoff das Leben wirklich teuer sei, daß er daher nicht Selbstmord begehen werde und beruhigte mich. Aber das Schicksal und das einiger Kameraden war an jenem Tage bereits besiegelt.

Es drangen Gerüchte zu uns, daß auf Befehl des Generalgouverneurs Sigida wegen Beleidigung des Kommandanten der körperlichen Züchtigung unterworfen werden solle. Wir hielten diese Gerüchte für unwahrscheinlich; es gab bisher in der Geschichte unserer revolutionären Bewegung kein einziges Beispiel, daß man eine Frau derart bestraft hätte; selbst von den Männern hatte bisher einzig Bogoljuboff, der wegen der Demonstration auf dem Kasanplatze am 18. Dezember 1876 zu fünfzehn Jahren Katorga verurteilt worden war, diesen Schimpf über sich ergehen lassen müssen. Seitdem aber Wera Sassulitsch den Schuß gegen den Polizeipräsidenten Trepoff von Petersburg abgefeuert hatte und von dem Schwurgericht freigesprochen worden war, wurde während der letzten zwölf Jahre nie wieder der Versuch gemacht, gegen Staatsverbrecher die Leibesstrafe anzuwenden. Zwar wurden wiederholt bei Fluchtversuchen Urteile gefällt, die die Schuldigen mit dieser Strafe bedrohten, sie wurden aber nie vollstreckt, sondern man verlängerte in solchen Fällen die Kerkerhaft. Um so mehr war anzunehmen, daß man eine Frau dieser Strafe nicht unterwerfen werde. Andererseits legte die Metzelei in Jakutsk, deren Opfer nur administrativ verschickte Jünglinge und Mädchen waren, allerdings die Befürchtung nahe, daß die Regierung des »Friedenszaren« vor keiner Barbarei zurückschrecken würde.

Es begannen für uns furchtbare Tage. Die Ungewißheit dauerte nicht lange: Anfang November erfuhren wir, daß man an der unglücklichen jungen Frau das Urteil vollzogen habe ...

Ich bin nicht imstande, unseren seelischen Zustand zu beschreiben. Es war nicht Niedergeschlagenheit, sondern Erregtheit und finstere Entschlossenheit. Äußerlich suchten wir unsere Ruhe zu bewahren, damit die Gendarmen keinen Verdacht schöpften.

Bald darauf hörten wir, daß Sigida gleich nach der Exekution gestorben sei; die einen behaupteten, sie sei einem Nervenschlage erlegen, andere, sie habe sich vergiftet. Gleichzeitig teilte man uns mit, Kaljuschnaja, Kowalewskaja und Smirnizkaja hätten Gift genommen und seien im Gefängnislazarett gestorben.

Auf diese Kunde hin beschlossen viele von uns schweigend, ohne jede Verabredung, dem Beispiel der Frauen zu folgen. Sie verschafften sich Gift von außerhalb und wollten nach dem Appell am Abend davon nehmen. Niemand fragte jetzt danach, wer mittun würde, jeder, der den Entschluß gefaßt hatte, nahm von dem Opium, das in jeder Kammer auf dem Tische lag, eine Portion.

Bobochoff war während dieser Tage so ruhig, als ob ihm nichts Besonderes bevorstehe, er blieb ernst und wortkarg wie immer. Auch Kaljuschny schien schon lange einen unwiderruflichen Entschluß gefaßt zu haben. Dieser Entschluß hatte die beiden Männer einander näher gebracht, sie waren Freunde geworden.

Es waren siebzehn Mann, die beschlossen hatten, sich das Leben zu nehmen; siebzehn von neununddreißig. An dem bestimmten Tag erscholl nach der Abendrunde Gesang in der »Jakutenkammer«, wo Bobochoff, Kaljuschny und die meisten waren, deren Entschluß, sich das Leben zu nehmen, feststand; in jeder Kammer waren einige solche Personen; in der unsrigen waren es zwei.

Der Gesang wurde zum allgemeinen Signal. Als er begann, nahmen diejenigen, die in den Tod gehen wollten, Abschied von den Kameraden. Dann griffen sie nach dem Gifte und verschluckten es. Bald fühlten sie Kopfschmerzen, Übelkeit und eine große Müdigkeit schien sie zu überfallen; sie legten sich auf die Pritschen und waren fest überzeugt, daß sie sich nie wieder erheben würden ...

Ich hatte kein Gift genommen. Aber als dieser Massenselbstmord begann, schien es mir, daß es leichter sei, sich zu vergiften, als Zeuge dieser Tat zu sein. Wie stark der Eindruck war, mag man daraus ersehen, daß ich selbst spät in der Nacht heftige Kopfschmerzen und Übelkeit verspürte; der Arzt stellte später alle Symptome der Vergiftung bei mir fest.

Doch sollten die Kameraden, die Gift genommen hatten, ihren Zweck nicht erreichen. Das Opium war verdorben und wirkte nicht tödlich. Die Unglücklichen erwachten am anderen Morgen mit furchtbaren Schmerzen. Aber selbst dieses Mißlingen brachte bei den meisten den Entschluß, sich das Leben zu nehmen, nicht ins Wanken, sie beschlossen, ein heftiger wirkendes Gift, Morphium zu nehmen. Nur drei gaben den Versuch auf.

In der nächsten Nacht wiederholten sich abermals die Abschiedsszenen. Die Nerven der Überlebenden wurden noch mehr erregt, und ihr Zustand war furchtbar. Das Morphium erwies sich ebenfalls als verdorben, die meisten, die davon genossen hatten, wurden krank, erholten sich jedoch wieder. Nur Bobochoff und Kaljuschny, die eine dreifache Portion genommen hatten, wurden sofort bewußtlos. In der Nacht war Bobochoff noch einmal erwacht, er hörte Kaljuschny röcheln und suchte ihn zu wecken, umarmte ihn und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Als er sah, daß den Freund nichts mehr erwecken könne, verschluckte er eine ganze Handvoll Morphium, legte sich neben ihn und schloß die Augen für immer.

Als am anderen Morgen der Aufseher mit dem Gendarmen die Runde machte, fanden sie die beiden besinnungslos. Der herbeigerufene Arzt konstatierte, daß die Agonie bereits begonnen habe; Kaljuschny verschied am Abend, Bobochoff erst am folgenden Morgen. Die Leichen wurden ins Lazarett geschafft und später zusammen mit den Leichen der vier verstorbenen Frauen auf dem Friedhofe beigesetzt ...


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