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XI
Der Besuch des Ministers. Wie man mich zum Sträfling machte. – Das Gefängnis in Kiew.

Einige Zeit nach meiner Aburteilung begann im Gefängnis zu Odessa fieberhafte Tätigkeit. Man erwartete den Justizminister, der das Gefängnis visitieren sollte. Natürlich wurde alsbald aus meiner Zelle alles entfernt, außer dem Strohlager und dem Kübel. Eines Tages erschien denn auch der Minister in Begleitung einer zahlreichen Suite, in der sich auch der Stadtpräsident befand. Als Nabokoff mich erblickte, nannte er sofort meinen Namen und begrüßte mich. Das schien den braven Stadtpräsidenten sehr aufzuregen:

»Eure Exzellenz geruhen den Deutsch bereits zu kennen?«

»O ja, wir sind uns bereits in Petersburg begegnet,« antwortete Nabokoff, wobei er einen Ton anschlug, als ob es sich um eine sehr angenehme Erinnerung handle, nicht etwa im Kerker, sondern in einem Salon.

Daraus wandte er sich an mich und erklärte, er habe meine Beschwerde erhalten und habe »Seiner Majestät Bericht erstattet«, der Kaiser habe aber bestimmt, daß ich als ehemaliger Heeresangehöriger vor ein Militärgericht zu stellen sei, danach habe er handeln müssen. Die Art und Weise, wie man mich eingekerkert hatte, schien ihm zu mißfallen, denn er musterte die Zelle eingehend und fragte wiederholt, ob ich hier richtig behandelt werde, ob ich keine Klagen vorzubringen hätte? Bei der Gelegenheit erfuhr ich auch, daß meine Überführung nach Moskau, wo ich überwintern sollte, ehe man mich nach Sibirien schaffte, bereits verfügt sei.

Die Worte, die der Minister an mich gerichtet hatte, schienen auf die Gefängnisverwaltung gewaltigen Eindruck gemacht zu haben. Kaum war die Exzellenz zum Tore hinaus, als der Verwalter herbeigestürzt kam und mich nach einer anderen, bequemeren Zelle führte, wo sich ein gutes Bett, Tisch und Stuhl befanden.

»Seiner Majestät selbst hat Seine Exzellenz Bericht über Sie erstattet!« Darüber kam diese Bedientenseele fast aus dem Häuschen; ich war in seinen Augen sofort eine gewichtige Persönlichkeit.

Auf diese Weise wurde mir, als ich bereits verurteilt war, manches gewährt, um das ich als Untersuchungsgefangener verzweifelte Kämpfe führen mußte; es wurde gewährt, weil »Seiner Majestät selbst« Bericht über mich erstattet worden war. Man wurde jetzt sogar so liebenswürdig, mir den Bezug von Büchern aus einer Leihbibliothek zu gestatten. Natürlich handelte es sich hier nicht um Bestimmungen, die von dem Gefängnisverwalter ausgingen, sondern jene drei Behörden, die vor dem Besuche des Ministers mich auf jede Weise malträtiert hatten, waren es, die jetzt umschwenkten. Dieses Beispiel zeigt die Willkür, die in bezug auf die Behandlung der Gefangenen herrscht, im grellsten Lichte.

Ich sollte mich jedoch nicht lange der Begünstigung freuen; zwei Wochen später wurde mir mitgeteilt, daß ich am Abend mit einer Partie Sträflinge den Transport nach Moskau antreten würde. Es wurde also zu der Prozedur geschritten, mich äußerlich in einen Zuchthäusler zu verwandeln. Noch jetzt, nach neunzehn Jahren, denke ich mit Schaudern an jenen Tag.

Zuerst wurde ich in einen Raum geführt, wo alle zur Equipierung eines Sträflings notwendigen Requisiten aufgestapelt waren: Auf dem Boden lagen Haufen von Fesseln, auf Regalen waren Kleidungsstücke, Wäsche, Stiefel und anderes mehr aufgeschichtet. Man wählte aus, was mir zukam, und führte mich in einen zweiten Raum. Hier wurden mir Haare und Bart auf der rechten Seite abrasiert, während man die linke Seite kurz abschor. Ich hatte schon früher in den Gefängnissen Leute gesehen, die man in dieser Weise zugerichtet hatte, und der Anblick hatte auf mich stets tiefen Eindruck gemacht, wie auf jeden, mit dem ich darüber sprach. Als ich aber jetzt mich selbst im Spiegel sah, fühlte ich, wie es mir kalt über den Rücken rieselte; es war das Gefühl der Herabsetzung menschlicher Würde durch die barbarische Prozedur, mit der man mein Antlitz verunglimpft hatte. Ich dachte dabei an die Grausamkeit, die in Rußland noch vor kurzem bestand, wo man die Sträflinge brandmarkte.

In demselben Raume befand sich ein Sträfling, der mir die Fesseln anschmieden sollte. Ich wurde auf einen Schemel gesetzt und mußte die Füße auf einen Amboß stellen. Der Schmied legte eiserne Reife um meine Knöchel und schmiedete sie zusammen. Jeder Hammerschlag krampfte mir das Herz zusammen; er bedeutete, daß jetzt ein neues Dasein für mich beginnt, daß ich ein – Sträfling sei ...

Zu dem niederdrückenden Gefühl, das ich empfand, gesellte sich bald das physische Unbehagen; die Fesseln verursachten mir anfangs unerträgliche Pein beim Gehen und störten meinen Schlaf. Auch erfordert es gewisse Übung, bis man imstande ist, sich der Kleider zu entledigen, wenn man gefesselt ist. Die schweren Fesseln, gegen zwölf Pfund, hindern nicht nur am Gehen, sondern sie verursachen auch große Schmerzen, indem sie die Haut an den Knöcheln aufreiben, wogegen die Unterlagen aus Leder den Ungeübten nur wenig schützen. Besondere Marter aber verursacht das Klirren der Ketten bei jeder Bewegung. Es reizt die Nerven in unsäglicher Weise und erinnert den Gefangenen jeden Augenblick daran, daß er ein Paria unter den Menschen, daß er »aller Rechte bar« ist.

Die Umgestaltung des Sträflings wird ergänzt durch die Tracht, in die man ihn einkleidet. Außer der Leibwäsche aus grober Leinwand besteht diese Tracht aus einem grauen Kittel, der aus einem speziellen Stoff hergestellt wird, und einer Hose. Auf den Kittel wird den zu Zwangsarbeit Verurteilten ein Viereck aus gelbem Zeug aufgenäht. Die Füße stecken in Fußlappen und ledernen Pantoffeln, die man »Katzen« nennt. Alle diese Kleidungsstücke sind äußerst unbequem, schwer und unproportioniert.

Ich kannte mich kaum wieder, als ich so im vollen Sträflingsaufzug mich im Spiegel betrachtete.

»Jahre und Jahre wirst du jetzt in diesem abstoßenden Aufzuge herumlaufen!«

Selbst der Gendarm sah mich voll Mitgefühl an.

»Was sie nicht alles mit einem Menschen anstellen,« sagte er mißbilligend.

»Man gewöhnt sich an alles, auch ich werde mich daran gewöhnen,« dachte ich.

Meine Siebensachen, Kleider, Wäsche und was ich sonst besaß, verschenkte ich an das Wächterpersonal, die wertvolleren Dinge, Uhr, Fingerring, Zigarettenetui, sandte ich per Post an Verwandte. Nur meine Bücher behielt ich. Man hatte mir einen Sack gegeben, in welchem ich eine zweite Garnitur Wäsche aufbewahren sollte; ich steckte ein paar Bände Shakespeare, Goethe, Heine, Molière und Rousseau hinein und war reisefertig.

Der Abend kam. Der Convoioffizier erschien mit seinen Leuten im Gefängnishof und nahm die »Partie« in Empfang. Man führte mich in die Kanzlei. Für jeden einzelnen Sträfling wurde ein »Begleitschein« ausgestellt. Es war darin der Name verzeichnet und der Verbannungsort, wohin der Mann bestimmt war, dann ein Verzeichnis der Regiesachen, die er mit sich führte. Den »Begleitscheinen« der Politischen war noch eine Photographie beigeheftet. Meinem Scheine hatte man sogar zwei Photographien beigegeben.

Der Offizier prüfte die Scheine einzeln; dann wurden wir in Reih und Glied aufgestellt, die Soldaten umzingelten uns, der Offizier nahm seine Dienstmütze ab und bekreuzigte sich.

»Glückliche Reise! Kommt gut an!« rief das Gefängnispersonal.

»Danke, lebt wohl!« rief der Offizier und gab das Zeichen zum Aufbruch.

Langsamen Schrittes zogen wir durch die Straßen nach dem Bahnhof.

Zufolge der Auslieferungsbedingungen von seiten des Großherzogtums Baden hatte man mich bisher teilweise als Kriminalverbrecher, teilweise als politischen Verbrecher behandelt. Von dem Augenblick an aber, wo ich dem Convoi übergeben wurde, behandelte man mich als »politischen«. Die Gründe, warum die russische Regierung diesen Unterschied zwischen Kriminalverbrechern und politischen oder Staatsverbrechern sorgfältig aufrecht erhält, sind verschiedener Art. In erster Linie handelt es sich darum, die Überwachung der »Politischen« schärfer zu gestalten, dann fürchtete man wohl auch den Einfluß der Revolutionäre auf die übrigen Gefangenen; schließlich spielt die Tradition eine Rolle: bis vor kurzem rekrutierten sich die »Staatsverbrecher« ausschließlich aus den Reihen der privilegierten Stände. Anmerkung des Übersetzers.

Deshalb wies man mir auch während des Transports per Bahn nicht einen Platz unter den Sträflingen an, sondern plazierte mich in der Abteilung, die für den Convoi reserviert war. Es war hier ziemlich viel Raum, und ich konnte es mir einigermaßen bequem machen, während die Kriminalgefangenen zusammengedrängt wurden wie die Heringe in der Tonne; dafür war es um so langweiliger in der Gesellschaft der Soldaten, die natürlich in Gegenwart des Offiziers nicht wagten, mit mir ein Wort zu wechseln.

Nach vierundzwanzig Stunden langten wir in Kiew an, wo ein Rasttag gehalten werden sollte. Wir stiegen aus, wurden abermals in Reih und Glied gestellt und von den Soldaten umzingelt. In weitem Umweg ging es dann durch Vorstadtstraßen nach dem Gefängnis.

Ein sonderbares Gefühl beschlich mich, als ich nach jahrelangen Wanderungen in Rußland und im Ausland jetzt die Straßen meiner Vaterstadt durchzog. Seit sechs Jahren war ich nicht mehr hier gewesen, seit meiner Flucht aus dem Kerker im Jahre 1878; nun kehrte ich wieder zurück mit Ketten an den Füßen und dem ominösen Viereck auf dem Kittel, ein Zuchthäusler ...

»Vorwärts, vorwärts, rühr dich!« hörte ich rufen und fühlte einen Stoß mit dem Kolben im Rücken.

»Es geht los,« dachte ich mir und stellte mir alle die Demütigungen und Beleidigungen vor, denen ich fortan ausgesetzt sein würde.

Der Offizier hatte den Vorgang bemerkt, eilte sofort herbei und schimpfte den Soldaten, der mich gestoßen.

Wir waren am Tore des Gefängnisses angelangt. Einzeln wurden die Sträflinge gezählt wie Schafe und durch die Pforte eingelassen. Mich führte man sofort in die Kanzlei. Alles war hier verändert; lauter neue Gesichter. Der alte dicke Kapitän Kowalski war nicht mehr da, auch das übrige Personal hatte gewechselt, alles fremd.

»Aus diesem Gefängnis sind Sie durchgebrannt?« fragte mich ein hünenhafter Mann in der Uniform der Gefängnisbeamten, der neue Gefängniskommandant Simaschko.

Ich bejahte.

»Na, das haben Sie damals fein eingefädelt!« meinte er lachend.

In Wirklichkeit war die Sache sehr einfach: einer von meinen Genossen, Frolenko, hatte sich mit einem falschen Passe versehen und hatte den Posten eines Wächters erhalten; in einer Nacht hatte er dann Stefanowitsch Bochanowski und mich als Schließer verkleidet hinausgeführt. Siehe das Nähere in Stepnjak, »Das unterirdische Rußland«, unter dem Titel »Zwei Entweichungen aus dem Gefängnis«.

Nach den üblichen Formalitäten wurde ich in eine Zelle geführt. Es schienen, wie ich beim Durchwandern der Korridore bemerkte, überall bauliche Veränderungen vorgenommen zu sein. Die Zelle, in die man mich einschloß, war ungewöhnlich groß und ganz mit Pritschen angefüllt; wahrscheinlich war sie dazu bestimmt, eine große Zahl Gefangener für kurze Zeit aufzunehmen und nur provisorisch für mich bestimmt, weil man mich nicht mit den übrigen Sträflingen zusammenlassen wollte.

Das Kiewer Gefängnis hat als Kerker der »politischen Verbrecher« eine interessante Vergangenheit; es haben sich hier die verschiedensten, freilich meist traurigen Episoden abgespielt, und kaum gibt es in Rußland ein Gefängnis, das in dieser Beziehung sich mit dem in Kiew messen könnte, höchstens die Peter-Pauls-Feste. Vor allem waren eine große Anzahl von Fluchtversuchen zu verzeichnen. Außer uns, den Tschigirinern, waren in demselben Jahre der Student Izbitzky und ein Engländer, Beverley, ausgebrochen. Sie hatten ein Loch unter der Mauer gegraben und waren bereits im Freien, als eine Schildwache sie bemerkte und Feuer gab; der Engländer fiel zu Tode getroffen, Izbitzky wurde gefangen. Vier Jahre darauf, 1882, entkam der Student Wasil Iwanoff unter Beihilfe des Offiziers, der die Wache kommandierte, eines gewissen Tichonoff, Mitglied der »Narodnaja Wolja«. Kurz vor meiner Ankunft war dann schließlich Wladimir Bytschkoff auf geheimnisvolle Weise verschwunden; soviel ich weiß, hat eine wohllöbliche Behörde auch heute noch das Rätsel nicht gelöst und mag sich auch fürder den Kopf darüber zerbrechen. In neuester Zeit, am 18. August 1902, sind elf Revolutionäre aus demselben Gefängnis ausgebrochen. Sie hatten sich eine Strickleiter und einen Anker verschafft, haben dann, während sie im Hofe spazieren gingen, die Schildwache überfallen, geknebelt und sind über die Mauer geklettert und entkommen. Anmerkung des Übersetzers.

Auch die Zeugen vieler düsterer Dramen sind diese Kerkermauern gewesen. Eine Anzahl Revolutionäre haben hier die letzte Stunde verlebt, bis man sie zum Schafott führte. Im Jahre 1879 wurden hingerichtet Antonoff, Brantner, Bitschinski, Gorski und Ossinski, 1880 Losinski und Rosowski. Noch viel größer ist die Zahl derer, die von hier aus den Weg in die Verbannung und die sibirischen Zuchthäuser angetreten haben. Außer der Peter-Pauls-Feste und des Kerkers in Odessa kann in dieser Hinsicht wohl nur noch die Warschauer Zitadelle mit dem Kiewer Gefängnis verglichen werden. Dagegen behauptet dieses Gefängnis, wie ich glaube, die erste Stelle in bezug auf »Tumulte«, scharfe Konflikte zwischen den Behörden und den eingekerkerten Revolutionären. Die Tradition dieser Ereignisse lebte ununterbrochen fort, jeder politische Gefangene hielt die Erinnerungen an die »alte Zeit«, das heißt die besonders stürmischen Jahre 1877 bis 1879 hoch. Die neue Generation kannte jene Vorgänge genau und nannte sie »das heroische Zeitalter«; sowohl die Verwaltungsbeamten als die Kriminalsträflinge, die hier die Arbeiten zu verrichten hatten, erzählten davon. Deshalb gelang es auch den Behörden niemals, den Geist, der sich in diesen Mauern eingenistet zu haben schien, auszurotten, und kaum war hinter mir die Tür ins Schloß gefallen, als ich auch Beweise dafür erhielt.

»Die Politischen lassen bitten, Sie möchten ihnen Ihren Namen aufschreiben, zu welchem Prozeß Sie gehören, wo Sie abgeurteilt sind?« hörte ich eine Stimme an der Tür. Als ich näher kam, bemerkte ich, daß diese Worte ein Kriminalgefangener durch das Guckloch rief. Als ich ihm antwortete, daß ich nichts hätte, womit ich schreiben könnte, steckte er mir sofort einen Bleistift und ein Stückchen Papier zu.

Ich teilte in kurzen Worten mit, wer ich sei, und bat die Kameraden, auch mich in Kenntnis zu setzen, wer sie seien, wieviel zurzeit sich hier befanden, und in welche Prozesse sie verwickelt seien. Alsbald kam derselbe Mann mit der Antwort, in der es zum Schlusse hieß: »Einzelheiten werden Sie alsbald von unseren Damen mündlich erfahren.« Und in der Tat hörte ich bald eine Frauenstimme, die mir gebot, auf das Fenster zu steigen. Ich tat es und sah, daß kein Klappfenster zum Öffnen da war. Ich besann mich nicht lange und zertrümmerte zwei Scheiben in dem Doppelfenster.

Draußen standen zwei Damen, die Frauen zweier politischer Gefangenen, Paraskowja Schebalina und Witolda Rechniewskaja. Sie machten ihren Spaziergang in dem Hofe der Frauenabteilung, und mein Fenster befand sich nahe der Mauer, die die beiden Höfe trennten, so konnten wir uns leicht verständigen. Ich erhielt also Auskunft über alle eingekerkerten politischen Gefangenen. Es waren nicht wenige. Kurz vorher hatte vor dem Kiewer Gerichtshofe ein politischer Prozeß stattgefunden, an dem zwölf Personen beteiligt waren; vier Personen, darunter der Mann der Frau Schebalina, waren zu Zwangsarbeit, sie selbst zu Verbannung verurteilt, aus dem einzigen Grunde, weil man in ihrer Wohnung Drucklettern gefunden hatte, mit denen eine geheime Flugschrift hergestellt werden sollte.

Wir wurden jedoch in unserer Unterhaltung unterbrochen, indem plötzlich der Gehilfe des Gefängnisverwalters auftauchte.

»Was! Sie haben schon die Fenster eingedrückt?« rief er erstaunt.

»Ja, weshalb sorgen Sie denn nicht für Klappfenster, die man öffnen kann!« erwiderte ich.

»Das wird Ihnen schlecht bekommen, Sie werden schön frieren bei der Kälte!« Es war in der Tat ein grimmer Novemberfrost.

Dann wandte sich der Beamte an die beiden Damen und hieß sie fortgehen, da es verboten sei, sich an der Tür aufzuhalten. Da kam er aber gerade recht! Die beiden Frauen fuhren energisch auf ihn los; er solle sich selber fortscheren und uns nicht stören. Besonders Frau Schebalina war sehr ungestüm; es war eine äußerst lebhafte, sanguinische und reizbare junge Frau, die in der Gefängnishaft so nervös geworden war, daß schon der Anblick eines Beamten sie in helle Wut versetzte, was denn auch zu zahlreichen Konflikten führte.

Witolda Rechniewskaja teilte ebenfalls die Haft mit ihrem Manne. Die beiden waren ein blutjunges Paar und hatten einige Tage vor ihrer Verhaftung geheiratet. Thaddäus Nechniewski war damals einundzwanzig Jahre alt und hatte eben die juristische Fakultät in Petersburg verlassen, als er im Jahre 1884 verhaftet wurde; er war zu jener Zeit in Kiew in Untersuchungshaft wegen Teilnahme an der polnischen sozialistischen Partei »Proletariat«, deren Mitglieder im Jahre 1885 in Warschau abgeurteilt wurden.

Außer den Genannten, die der Verbannung harrten oder noch in Untersuchungshaft waren, befand sich eine Anzahl Personen im Gefängnis, die auf »administrativem Wege« verbannt wurden. Es hatten nämlich an der Universität in Kiew »Unruhen« stattgefunden, die Universität war geschlossen und viele Studenten waren verhaftet worden.

Eine ganze Menge neuer Eindrücke waren auf mich eingestürmt, und es wurde spät, als ich mich niederlegte. Ich legte den Schafpelz, den man mir gegeben hatte, auf die Pritsche und deckte mich mit dem Kittel zu. Die Nacht war furchtbar kalt, und der Wind pfiff durch die zerbrochenen Scheiben. Den Kopf legte ich auf meinen Sack, aber die Werke der deutschen und französischen Klassiker, die darin steckten, waren gerade kein weiches Schlummerkissen, und es dauerte lange, ehe ich einschlief. Plötzlich weckte mich ein Höllenlärm. Ich lief an die Tür und rief nach dem Schließer, um zu erfahren, was los sei. Nach langem Rufen kam er endlich, und ich erfuhr, daß in der Nachbarzelle die Kriminalsträflinge rauften; einer von ihnen hatte ein paar Rubel versteckt; die anderen merkten es und wollten ihn erwürgen und berauben, doch gelang es ihm, sich zur Wehr zu setzen und um Hilfe zu rufen.

»Das macht die Bande immer so,« erklärte mir in aller Gemütsruhe der Schließer und schleppte sich phlegmatisch auf seinen Platz, um wieder einzunicken. Weitere Folgen hatte dieser Versuch eines Raubmordes nicht. Mit einem »Ich werd euch lehren!« hatte der Schließer die Leute auseinander getrieben, und damit war die Sache erledigt; nicht einmal eine Anzeige wird er erstattet haben, so alltäglich war das Vorkommnis.

Am nächsten Morgen kam der Verwalter gelaufen und sagte, der Gendarmerieoberst werde gleich zu mir kommen. Es war der Kommandant der Gendarmerie, Nowitzky; ich kannte ihn nicht, wußte aber, daß in unseren Kreisen ein Haufen humoristischer Anekdoten in bezug auf ihn im Schwange waren. Er kam in Begleitung eines Adjutanten, stellte die üblichen Fragen, ob ich keine Beschwerden vorzubringen habe, und dann begann er zu plaudern; es war wohl nur Neugierde, die ihn zu mir führte. Wie ich mich erinnere, interessierte ihn, ob ich nicht im Ausland mit Debogory-Mokriewitsch zusammengekommen war. Dieser war 1879 in Kiew verhaftet und zu Zwangsarbeit verurteilt worden, aber auf dem Transport nach Sibirien hatte er mit einem Kriminalgefangenen »getauscht« und war geflohen. Als ich erklärte, ich hätte ihn in der Schweiz gesehen, überschüttete mich Nowitzky mit Fragen: »Nun, wie geht es denn dem Wladimir Karpowitsch, was treibt er dort?« Es konnte dabei scheinen, daß Mokriewitsch mindestens ein Gevatter von ihm sei, er nannte ihn familiär beim Ruf- und Vaternamen Bekanntlich ist es in Rußland Brauch, im Verkehr statt des Familiennamens den Vornamen des Angeredeten und den Vornamen des Vaters (Otschestwo) beizufügen, wenn es sich um gute Bekannte handelt. Anmerkung des Übersetzers.. Wie Oberst Iwanoff in Petersburg meinen hingerichteten Kameraden Anerkennung zollte, erging sich jetzt Nowitzky in Lobsprüchen auf Wladimir Karpowitsch, während er doch mitwirkte, um zwei Kameraden des Mokriewitsch aufs Schafott zu bringen. Antonoff und Brantner, außer Ossinski und einigen anderen, deren Namen ich oben erwähnte. Es sind halt Gemütsmenschen, diese Häscher!


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