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XV
Die politische Lage in Rußland und die revolutionären Parteien. Unsere Genossenschaft. – Festtag. – Verbotene Besuche. Eine kleine Anstandslektion.

Um die beschriebene Zeit war die reaktionäre Politik des neuen Zaren bereits klar zutage getreten. Seit der Thronbesteigung Alexander III. waren vier Jahre vergangen; Zeichen der Zeit waren die Bluturteile, die Begünstigung der Judenhetzen, die in verschiedenen Städten im Südwesten des Reiches stattfanden, die Ernennung des allgemein verhaßten Grafen Demetrius Tolstoi zum Minister des Innern, die Einführung einer neuen, sowohl für die Studenten als die Professoren unerträglichen Universitätsordnung usw. Trotzdem gab es immer noch unverbesserliche Optimisten, die hofften, es handle sich um eine kurze »Übergangsperiode«, auf die alsbald eine plötzliche Wendung zu tiefgreifenden Reformen folgen werde, ja die Oktroyierung einer Verfassung stehe bevor. Ich weiß mich zu erinnern, wie verschiedene gebildete Leute, Ärzte, Rechtsanwälte usw., in den Gesprächen mit uns optimistische Konjekturalpolitik trieben, versicherten: »In fünf Jahren haben wir die Verfassung.«

Zweifellos hegte auch die revolutionäre Jugend damals solche Hoffnungen. Wenn nicht alle, so glaubten doch die meisten, daß über kurz oder lang die Terroristen Alexander III. beseitigen würden, wie sie seinen Vater beseitigten, und daß dann zweifellos die Verfassung kommen müsse. Mancher war so fest überzeugt davon, daß man mir, wenn ich Zweifel äußerte, wiederholt Wetten anbot, in wenigen Jahren würde das große Ereignis eintreten. »Ehe wir noch am Bestimmungsort unserer Verbannung eintreffen, ist Alexander III. tot,« redeten sich die jungen Leute ein. Dieser Selbstbetrug hatte sein Gutes: man ertrug seine Lage leichter, verlor den Mut nicht. Aber die Luftschlösser mußten alsbald zusammenstürzen. Wie ich bereits erwähnte, war in der revolutionären Partei »Narodnaja Wolja« der Verfall bereits eingetreten, und die Terroristen waren der Regierung kaum noch gefährlich. Die älteren, erprobten Mitglieder der Organisation waren tot oder schmachteten im Kerker, der Nachwuchs zeigte nicht mehr die Fähigkeiten, die ein derartiger Kampf voraussetzt; die Polizei hatte eben auch manches gelernt, sie wußte ihre Netze besser zu stellen und ließ den jugendlichen Verschwörern keine Zeit, ihre Kräfte zu erproben; die unerfahrenen und ungeschickt geleiteten Organisationen wurden ausgehoben, ehe sie irgend etwas unternehmen konnten. Dazu kam, daß die Einigkeit und Einheitlichkeit, die die »Narodnaja Wolja« auszeichneten, geschwunden waren. Schon im Jahre 1884 tauchten verschiedene Fraktionen auf. Da war die »Junge Narodnaja Wolja«, deren Mitglieder einen »wirtschaftlichen Terrorismus« neben dem politischen trieben, das heißt gegen die Unternehmer, Direktoren, Verwalter usw., als der Bedrücker des Volkes, Bomben und Dolche anwenden wollten. Dann die »Bombisten«, die die Bombe als allgemeines Schreckmittel empfahlen; die »Militaristen«, die nur von einer Verschwörung unter den Militärs etwas erhofften. Schließlich tauchte damals auch zum erstenmal in Rußland eine neue Gruppe auf – die Sozialdemokraten, zu denen auch ich zählte.

In unserem Gefängnis waren so ziemlich alle diese Richtungen vertreten, und natürlich fanden die lebhaftesten Debatten statt, die jedoch bei uns einen ziemlich friedlichen Verlauf hatten. Ungeachtet aller Meinungsverschiedenheiten bildeten wir sozusagen eine große Familie, in der es weder Vornehme noch Niedriggeborene, weder Arme noch Reiche gab; alle waren gleich, alle waren materiell gleichgestellt, ob jemand bemittelt oder arm von Hause aus war, kam nicht in Betracht.

Wie leicht zu erraten, war die Verpflegung, die uns die Verwaltung bot, unter aller Kritik; selbst der Anspruchloseste konnte beim größten Hunger kaum einige Löffel des widerwärtigen stinkenden Breies herunterwürgen, der in hölzernen Gefäßen zur Mittagsstunde in die Zelle gebracht wurde. Das erklärt sich ganz einfach: die Mittel, die der Fiskus für den Unterhalt der Gefangenen bestimmt, sind minimal, und bei dem allgemeinen, organisierten Diebstahl des Beamtentums verschwindet ein großer Teil dieser Mittel auf dem langen Instanzenweg in den bodenlosen Taschen der großen und kleinen Spitzbuben. Die großen Kessel, in denen für mehrere Tausend Gefangener gekocht wurde, mußten also mit dem schlechtesten Proviant gefüllt werden, der aufzutreiben war. Wir »Politischen« hatten nach einigen Versuchen dieses Futter satt und beschlossen, uns auf eigene Faust zu beköstigen.

Wir gründeten also einen »Konsumverein« und wählten Lafareff, den Bauernanwalt, den Graf Tolstoi besuchte, zum Obmann des Vereins, übertrugen ihm die Verwaltung unserer wirtschaftlichen Angelegenheiten. Alle Geldmittel, über die wir verfügten, sei es, daß sie von uns an die Gefängnisbehörde eingezahlt wurden, oder von Verwandten und Freunden geschickt wurden, waren dem Obmann zur Verfügung gestellt, und er hatte für unseren Tisch zu sorgen, wobei alle Leidensgenossen gleich behandelt wurden. Morgens gab es Tee, Milch und Brot nach Belieben; das Mittagessen bereitete ein »Koch«, ein Kriminalsträfling, den wir mieteten, aus den von uns gekauften Vorräten, gewöhnlich waren es zwei Gänge; abends gab es wiederum Tee und Brot. Man kann nicht sagen, daß unsere Tafel besonders üppig war, aber das lag an unseren äußerst beschränkten Mitteln. Der arme Obmann zerbrach sich oft genug den Kopf, wie er mit dem Wenigen auskommen solle, und verfiel schließlich auf den Gedanken, Pferdefleisch zu kaufen; freilich kostete auch das Rindfleisch nicht viel – zehn Kopeken pro Pfund, wenn ich nicht irre –, aber Pferdefleisch war immer noch um die Hälfte billiger. Wir beschlossen, den Versuch zu wagen. Es zeigte sich, daß das Pferdefleisch genießbar, wenn auch etwas zäh und weniger schmackhaft war. Nur zwei oder drei unter uns waren zimperlich und erklärten, sie könnten das Fleisch nicht genießen, es verursache ihnen Magenbeschwerden. Da wir das für bloße Einbildung infolge des Vorurteils hielten, bestimmten wir unseren Obmann, eine kleine List zu gebrauchen; er erklärte den »eingebildeten Kranken«, man werde für sie Rindfleisch kaufen, und setzte ihnen Pferdefleisch in etwas anderer Zubereitung als den übrigen vor. Das Resultat war nach Wunsch, unsere Gourmands ließen sich ihr »Beefsteak« trefflich munden und erklärten, ihnen wäre übel, wenn sie uns das Pferdefleisch essen sehen! Wir hatten Mühe, ihnen nicht ins Gesicht zu lachen. Das dauerte während des ganzen Aufenthaltes in Moskau, und keiner von unseren Feinschmeckern beklagte sich während der Zeit über Magenbeschwerden. Als wir ihnen später erklärten, sie hätten monatelang Pferdefleisch genossen, waren sie empört und erklärten nachträglich zum allgemeinen Gaudium, das Essen hätte stets einen üblen Beischmack gehabt.

Außer den Verwandten und Freunden sorgten für unsere materiellen Bedürfnisse Leute, die uns persönlich gänzlich fern standen – ich meine die Mitglieder des »Roten Kreuzes der Revolution«, deren bereits Erwähnung geschah. Es waren vorwiegend Frauen, die sich der bescheidenen, aber ungemein wertvollen und nützlichen Tätigkeit mit allem Eifer widmeten, für die eingekerkerten und verbannten Revolutionäre zu sorgen. Erst im Gefängnis und in der Verbannung lernte mancher, der einsam und verlassen in der Welt stand, die selbstlose Tätigkeit dieser edlen Samariterinnen schätzen. Oft genug habe ich beobachtet, mit welch dankbarer Rührung solche Einsamen diesen oder jenen schmerzlich entbehrten nützlichen Gegenstand in Empfang nahmen, den ihnen eine sorgende fremde Frauenhand, eine Vertreterin des »Roten Kreuzes«, liebevoll zukommen ließ.

Unser Häuflein im Moskauer Zentralgefängnis schien es in dieser Beziehung besonders gut getroffen zu haben. Lange vor unserer Weiterbeförderung nach Sibirien ließen uns unsere Beschützerinnen auffordern, wir möchten ein genaues Verzeichnis darüber aufstellen, was wir irgend für die Reise brauchten. Wenn man bedenkt, daß wir über fünfzig Personen waren, daß vielen eine Reise von einem halben Jahre und mehr bevorstand, so wird man beurteilen können, welche Unmasse von kleinen Mühen und Sorgen diese edlen Frauen auf sich nahmen. Hunderterlei der verschiedensten Dinge waren anzuschaffen, was nicht nur Mühe und Zeitverlust, sondern auch oft genug persönliche Unannehmlichkeiten verursachte. Dieses selbstlose Bestreben, das Schicksal der Eingekerkerten zu lindern, hatte etwas geradezu Rührendes.

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In Rußland werden die Weihnachts- und die Ostertage besonders feierlich begangen. Die russischen Revolutionäre sind im allgemeinen nicht religiös, auch gibt es unter ihnen sehr viele, die mit der russischen Kirche überhaupt nichts zu tun haben – Juden, Deutsche, Polen –, nichtsdestoweniger nehmen sie in allen Kerkern und Verbannungsorten, wo sich irgend die Möglichkeit dazu bietet, an der allgemeinen Volksfeier teil. Die Feiertage wurden zu einem um so größeren Feste, als sie Abwechslung in die Eintönigkeit des Kerkerlebens brachten. Verwandte, Freunde und die Damen des »Roten Kreuzes« sandten Lebensmittel und selbst Leckerbissen in das Gefängnis, und »es ging hoch her«. Besonders fröhlich verlebten wir die Nacht auf den Ostersonntag im Moskauer Zentralgefängnis. Wir hatten ein Gesuch an den Gouverneur gesandt, er möchte uns gestatten, die Osternacht gemeinsam zuzubringen, wie es russische Sitte ist; es wurde genehmigt, und wir versammelten uns alle, einschließlich der Frauen, in der Abteilung für die »Administrativen«, wo die Räume groß waren, weil hier die Gefangenen nicht in Einzelhaft, sondern zusammen untergebracht waren. Man hatte uns allerhand gute Dinge geschickt: Osterkuchen, Eier, Schinken, Geflügel und was sonst dazu gehört, wie auch einige Flaschen leichten Wein und Bier; so war unser »Ostertisch« Bei den Russen werden am Ostertag die kalten Speisen auf einem gedeckten großen Tische aufgestellt, der während der Feiertage nicht abgeräumt wird. Jeder Gast wird von dem Hausherrn an den »Ostertisch« geführt, wo man im Stehen ißt und trinkt. glänzend bestellt. Unter der Aufsicht des alten Kapitäns und der Aufseher brachten wir hier den Abend und die halbe Nacht zu und waren fröhlich, wie wohl selten Menschen in einem Gefängnis; Lieder wurden angestimmt, es wurde gescherzt und gelacht, bis zu guterletzt eine Harmonika auftauchte und die Jugend zu tanzen begann. Allein trotz dieser ausgelassenen Fröhlichkeit vergaß kaum jemand von uns, wo er sich befand. Gar manchen erinnerte dieser Abend an das Heim, wo jetzt seine Lieben in feierlicher Stunde versammelt waren und mit Trauer des Abwesenden gedachten ...

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Für uns zu Strafarbeit Verurteilten war dieses Fest die erste Gelegenheit, unsere eingekerkerten Damen kennen zu lernen. Die »Administrativen« begegneten ihnen nicht nur in den Besuchsstunden, sondern auch auf dem Gefängnishof, obgleich das letztere in der Gefängnisordnung verboten war, dagegen durften die zu Strafarbeit Verurteilten auch zu den Besuchsstunden nicht zugelassen werden. Seit dem Ostertag aber durchbrachen auch wir, die »aller Rechte baren«, die Gefängnisordnung. Unter dem Vorwand, daß wir in der Kanzlei zu tun haben, ließen wir uns in den großen Hof führen; an der Tür verließ uns der Schließer, in dem Glauben, wir betreten den Korridor, wir aber rannten über den Hof an die Pforte, die in die Frauenabteilung führte. Dann kam wohl der geplagte Schließer gelaufen und bat uns hoch und teuer, umzukehren, wir aber hatten unser Ziel erreicht, unsere Damen waren an der Pforte, und wir hatten ein paar freundliche Worte mit ihnen gewechselt. Es handelte sich dabei freilich nur um mutwillige Streiche; es machte uns Vergnügen, der verhaßten Gefängnisordnung eine Nase gedreht zu haben, und die Verwaltung sah nichts besonderes Schlimmes darin. Das Verbot, das uns hinderte, miteinander zu verkehren, hatte ja auch gar keinen Sinn, da in wenigen Wochen alle politischen Gefangenen die Reise nach Sibirien gemeinsam anzutreten hatten. In diesem wie in vielen anderen Fällen wurden wir ganz unnötig schikaniert, und zwar nur deshalb, weil es die veraltete Gefängnisordnung so will.

Diese Gefängnisordnung aber wird in den russischen Gefängnissen ausnahmslos in ungleich höherem Maße von den Kriminalverbrechern übertreten. Diese spazieren nicht nur oft ohne jede Aufsicht im ganzen Gefängnis umher, sondern wissen sich auch Eingang in die Frauenabteilung zu verschaffen. Ja mehr noch, es ist gar nichts Seltenes, daß die Schließer und Aufseher einen wohlhabenden Verbrecher für die ganze Nacht aus dem Gefängnis in die Stadt gehen lassen, wo er bummelt oder auch seine Verbrechergeschäfte besorgt. In bezug auf die Handhabe der Gefängnisordnung könnten also die »politischen« Verbrecher froh sein, wenn sie mit den »gemeinen« auf eine Stufe gestellt würden, was ihnen aber nur selten gelingt.

Dagegen besteht allerdings ein Komplex von Beziehungen, wo die politischen Gefangenen in Rußland eine unbedingte Ausnahmestellung einnehmen. Ich meine die Haltung des Gefängnispersonals ihnen gegenüber. Jeder Beamte, hoch oder nieder, weiß genau, daß er den »Politischen« gegenüber sich nichts herausnehmen darf, daß er höflich sein muß. Diese Erscheinung ist darauf zurückzuführen, daß Generationen lang die »politischen Verbrecher« den ausschließlich gebildeten, privilegierten Ständen angehörten, und darauf, daß diese Menschen das Gefühl ihrer Unschuld stolz zur Schau trugen und ihre Menschenehre hochhielten. Wagt ein Beamter dieses Gefühl auch nur anzutasten, so kann er sicher sein, dem energischsten Widerstand zu begegnen, und sehr oft ist es aus solchen Anlässen in den Gefängnissen zu schroffen Auftritten gekommen, die nicht selten einen tragischen Abschluß fanden.

Als Beispiel, wie wir bei Beamten Höflichkeit uns gegenüber erzwangen, sei folgender Vorfall erzählt.

Aus Petersburg war ein Würdenträger eingetroffen, der an der Spitze des gesamten Gefängniswesens stand, Galkin-Wrasski. Als Direktor und höchster Vorgesetzter flößte er der gesamten Beamtenschaft fabelhaften Respekt ein; er selbst war im Bewußtsein seiner Macht und Würde – er war »wirklicher Geheimrat« –, ungemein hochfahrend. Als das bevorstehende Ereignis dieses Besuchs besprochen wurde, hörten wir, daß der Herr die Gewohnheit hatte, beim Betreten der Zelle den Hut auf dem Kopfe zu behalten. Wir beschlossen sofort, daß der erste von uns, dessen Zelle er betritt, ihm eine Lektion zu erteilen habe, wenn er es auch hier so halten würde. Galkin-Wrasski kam in Begleitung einer zahlreichen Suite, in der sich unter anderen der Vizegouverneur von Moskau, Fürst Galizin, befand; er begann seinen Rundgang in unserem Pugatscheffturm und kam in die Zelle des Peter Daschkjewitsch. Ein ehemaliger Student der geistlichen Akademie in Kiew, war Daschkjewitsch ein Mensch von selten ruhigem und gleichzeitig unbeugsamen Charakter, dabei im höchsten Grade vom Gefühl der Gerechtigkeit und Unparteilichkeit durchdrungen. Ihm fiel jetzt die Rolle zu, den hochfahrenden Würdenträger zu rügen. Kaum hatte der Herr die Schwelle übertreten, um die stereotype Phrase: »Haben Sie mir etwas mitzuteilen?« auszusprechen, als Daschkjewitsch mit größter Ruhe ihn unterbrach:

»Sie sind sehr unhöflich, mein Herr; Sie treten bei mir ein, ohne den Hut abzunehmen.«

Galkin-Wrasski wurde rot bis an die Haarwurzeln, drehte sich um und verließ die Zelle. Die ganze Suite, die die Lektion mit angehört hatte, folgte ihm schweigend.

»In welchem Prozeß ist er verurteilt?« hörten wir den Würdenträger fragen, als er auf der Plattform stand.

»Im Kiewer,« antwortete jemand.

»Aha, einer von denen, die dort rebelliert haben!« rief er erfreut. Die übrigen Zellen betrat er schon hübsch den Hut in der Hand. Für die Dozierung des Kapitels aus Knigge nahm er dann in seiner Art Rache: Daschkjewitsch war zu Verbannung nach »den minder entlegenen« Gegenden Sibiriens verurteilt, Galkin-Wrasski sagte nun, er soll nach den »entlegensten« geschickt werden, in das Dorf Tunka an der Grenze der Mongolei.


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