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XVIII
Auf dem Etappenwege. Ein täppischer Offizier. – Menschenjagd.

In jener Zeit begannen die eigentlichen Beschwerlichkeiten der Reise für die politischen Verbannten erst in Tomsk. Für die Reise von Moskau bis Tomsk – über 5000 Werst – kamen halbwegs europäische Beförderungsmittel in Betracht, von dieser Stadt an aber begann die »Etappenbeförderung«, das heißt die Fußwanderung von einer Station zur anderen. In der glühenden Sommerhitze, bei furchtbarer sibirischer Kälte, bei Sturm und Wetter, ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit der Straßen, brachen regelmäßig an bestimmten Tagen der Woche »Partien« von einigen hundert Personen von Tomsk nach dem Osten auf, stets wechselweise die eine nur aus Männern, die andere aus Familien, Männern, Frauen und Kindern, bestehend. Täglich wurde eine Etappe zurückgelegt, das heißt eine Strecke von 25 bis 30 Werst, und jeden dritten Tag wurde gerastet. Bei dieser schildkrötenmäßigen Fortbewegung, im Durchschnitt noch keine 20 Werst pro Tag, dauerte die Wanderung für manchen viele Wochen, ja Monate unter den furchtbarsten Lebensbedingungen.

In dumpfen Kammern, deren Luft mit allen erdenklichen Miasmen geschwängert war, auf Pritschen, die in zwei Reihen übereinander angebracht waren, und auf der kahlen Diele lagen die Sträflinge Mann an Mann gedrängt, Opfer von Miriaden von Parasiten. An Schlaf war für die meisten nicht zu denken bis in die halbe Nacht hinein, und am frühen Morgen wurden sie hinausgetrieben, um die Wanderung anzutreten. Lange vor Sonnenaufgang standen die Kriminalsträflinge bereits in Reih und Glied im Hofe und warteten in der Kälte; dann wurde die Musterung vorgenommen, und endlich kam das Signal zum Abmarsch. An der Spitze marschierten schnellen Schrittes die alten, mit allen Hunden gehetzten Strolche, die »Iwans«. Die meisten von ihnen hatten den Weg bereits mehrmals zurückgelegt und kannten jeden Bach und jeden Strauch am Wege. Sie marschierten in geschlossenen Reihen in raschem Tempo und machten leicht und bequem ihre sechs bis sieben Werst pro Stunde. Hinter ihnen schleppten sich mit Mühe und Not die übrigen Kriminalgefangenen in regellosen Haufen, auf große Strecken verteilt, dann kamen einige Fuhrwerke mit Kranken und Maroden und mit der Bagage, schließlich in der Nachhut kamen wir, die Politischen, je zwei bis drei Mann auf einem einspännigen Karren unter der Obhut eines speziellen Convois.

Diese sonderbare Prozession verteilte sich längs des Weges auf mindestens einen Kilometer und erzeugte einen furchtbaren Staub, von dem die Nachhut am meisten zu leiden hatte. Dazu kam noch eine besondere Qual – die sibirische Muschka. Eine Art Moskitos. Ganze Wolken dieser furchtbaren kleinen Wesen begleiteten uns; sie saugten sich nicht nur an Gesicht und Händen fest, drangen in Mund, Nase, Ohren und Augen, sondern sie schlüpften auch unter die Kleider und verursachten schmerzhaftes Jucken. Den einzigen, allerdings unzureichenden Schutz boten Netze aus Roßhaar, die wir vorsorglich angeschafft hatten.

Nach den ersten zwölf bis fünfzehn Kilometern wurde an einer Quelle, an einem Bache oder auf einer Waldwiese gerastet. Hier nahmen die Kriminalgefangenen ihr Frühstück, denn vor dem Abmarsche wurde nichts gegessen. Dieses Frühstück bestand für die meisten aus einem Stück trockenen Brotes, und auch das hatten nicht alle. Die Verpflegung ist wie folgt geregelt: die Gefangenen erhalten pro Mann und Tag fünf bis zwölf Kopeken, je nach der Gegend und nach den Frachtpreisen, die von dem Ernteausfall abhängen; die »Privilegierten« erhalten etwas mehr, denn selbst hier werden noch Standesunterschiede gemacht. Dieses Kostgeld reichte nur im günstigsten Falle, um den Hunger zu stillen; man konnte zur Not den Bedarf an Brot, Tee und etwas Gemüse davon decken. Nun ist aber das Hasardspiel eine so tief eingerissene Leidenschaft der Kriminalverbrecher, daß sie den letzten Groschen daran setzten, und wer dann verspielt hatte, der hungerte. Die einzige Rettung für die Unglücklichen war alsdann der Bettel. Wenn wir ein Dorf passierten, gingen stets einige abgerissene, heruntergekommene Gefangene unter Begleitung der Soldaten betteln. Sie stellten sich vor den Hütten auf, stimmten ein Jammerlied an, und die sibirischen Frauen warfen dann regelmäßig einige Brotschnitte aus dem Fenster. Auch Reisende, die uns begegneten, warfen den Gefangenen ein Almosen zu. Diese Gaben wurden unter die ganze Partie verteilt, da auch die Kriminalgefangenen ein »Artel« (Wirtschaftsgenossenschaft) bilden.

Nach der Rast brach die Partie in der gleichen Marschordnung wieder auf und suchte die Etappe vor Beginn der Mittaghitze zu erreichen. An dem Etappengebäude angelangt, drängten die Leute sich an dem Tore zusammen und stürzten in dem Augenblick, wo das Tor von innen geöffnet wurde, in rasender Hast vorwärts; es galt dem Kampf um die besten Lagerplätze, und rücksichtslos wurden die Schwachen von den Starken niedergetreten und beiseite gestoßen. Beim Anblick dieses tollen Wettlaufs und Kampfes einiger hundert Menschen auf dem engen Hofe hatten wir in der ersten Zeit den Eindruck, daß sie sich gegenseitig umbringen möchten, doch lief in der Regel die tolle Jagd, abgesehen von Püffen, Stößen, Flüchen und Schimpfen, ohne ernstliche Zwischenfälle ab. Natürlich hatten auch hier die geriebenen Strolche, die »Iwans«, stets das Übergewicht; sie sicherten sich die besten Plätze auf den Pritschen, während die Alten, Schwachen, Gebrechlichen mit den schlechtesten Winkeln vorlieb nehmen mußten. Das Gedränge, der Gestank, Schmutz und Radau in diesen Gefängnissen machten sie zu einer wahren Hölle.

Die Etappengebäude waren größtenteils halbverfallene, einstöckige Blockhäuser aus ungezimmerten Holzstämmen; durch Gänge wurden sie in zwei, drei und vier Kammern geteilt. Neben dem Gefängnis befand sich ein Haus, das der Offizier bewohnte, und ein zweites für die Soldaten. Rings um die Gebäude war ein Zaun aus nebeneinander eingerammten fünf bis sechs Meter hohen Pfählen errichtet, die am oberen Ende zugespitzt waren. Es bestehen zweierlei Etappengebäude: die einen, wo die Gefangenen nur eine Nacht zuzubringen haben, sind kleiner, die anderen, wo die Rasttage zugebracht werden und ein Offizier seine ständige Wohnung hat, größer.

Nachdem die Platzfrage gelöst war, begaben sich die Gefangenen in den Hof. Hier hatten dann gewöhnlich Hökerinnen ihren Kram ausgebreitet, und es wurde regelrechter Markt abgehalten. Natürlich waren die Sträflinge stets bereit, die Frauen zu betrügen und zu bestehlen, und diese erhoben dann ein lautes Lamento; da aber die Sträflinge in diesen Dingen zusammenhalten wie ein Mann, so kam bei allen Untersuchungen nie etwas zugunsten der Geschädigten heraus. Auf dem Hofe wurde auch gekocht und gewaschen. Es wurde zu diesem Zwecke einfach inmitten des Hofes ein Holzfeuer angezündet, und niemand dachte der Gefahr, obwohl ringsherum Holzgebäude und Zäune standen.

Wir, die Politischen, bekamen eine besondere Kammer zugewiesen; unsere erste Arbeit war dann stets, mit Tüchern und Bettlaken einen Teil des Raumes für unsere drei Damen abzusondern. Die Lage der armen Frauen, die auf diese Weise in nächster Nähe von uns Männern kampieren mußten, wobei noch sehr oft in unserer Abteilung Soldaten untergebracht wurden, war in vielen Beziehungen sehr ungemütlich. Natürlich taten wir unser möglichstes, um ihnen jede Unannehmlichkeit, soweit es an uns lag, zu ersparen.

Für einige von uns bestand eine der größten Beschwerden der langen Wanderung in dem frühzeitigen Aufstehen; wir bedurften vor allem des Schlafes und konnten nicht früh genug zur Ruhe kommen. Da nun die Kriminalsträflinge je früher desto lieber aufbrachen, kam es zu Konflikten. Wir verhandelten in der Regel am Vorabend mit dem Offizier sowohl als mit dem Obmann der Sträflinge und setzten den Aufbruch auf sechs Uhr morgens fest. Einmal jedoch kam es aus diesem Anlaß zu einem ernstlichen Konflikt.

Wir benutzten den Hof gewöhnlich erst dann, wenn die Kriminalsträflinge eingeschlossen waren, weil bis zu dieser Zeit kein Raum für uns war; erst gegen Abend also konnten wir etwas Luft schöpfen. Eines Abends nun, als einige von uns draußen waren, kam der Offizier und wies sie in die Kammer. Wir waren höchst erstaunt ob dieser unnötigen Schikane und fragten, was das zu bedeuten habe.

»Machen Sie, daß Sie fortkommen, sonst lasse ich Sie morgen früh um vier Uhr abmarschieren,« drohte der Offizier.

»Aber Sie haben doch eben zugestimmt, daß wir um sechs Uhr aufbrechen!« entgegneten wir.

»Jetzt befehle ich, daß um vier Uhr aufgebrochen wird.«

»Nun, es bleibt dabei, wir gehen vor sechs Uhr nicht weiter.«

»Wollen mal sehen!«

Damit ging er, der Konflikt war fertig. Wir faßten sofort einstimmig den Beschluß, dem Eigensinn des Offiziers nicht zu weichen.

Am nächsten Morgen war es noch finster, als die Wache uns weckte und erklärte, der Offizier habe Befehl gegeben, daß wir uns rüsten. Wir achteten nicht darauf. Unterdessen waren die Kriminalsträflinge bereits in den Hof gekommen und standen marschbereit. Um vier Uhr kam der Feldwebel und wiederholte den Befehl. Einige von uns kleideten sich denn auch an, andere blieben auf den Pritschen liegen. Die Kriminalsträflinge fingen unterdessen an zu murren, weil sie so lange in der Morgenkälte frieren mußten, sie fluchten, drohten und randalierten vor unseren Fenstern. Jetzt erschien der Offizier in Begleitung einiger Soldaten und wiederholte seinen Befehl zum Aufbruch. Wir rührten uns nicht. Er rief seinen Leuten zu:

»Treibt sie mit den Kolben heraus!«

Es wäre unfehlbar zu einem ernsten Auftritt gekommen, wenn die Soldaten sofort angegriffen hätten, denn wir waren bereit, uns zur Wehr zu setzen. Zum Glück zögerten die Soldaten einen Moment, und das rettete uns.

»Was tun Sie!« riefen einige von uns, »wollen Sie es zum Blutvergießen kommen lassen? Das dürfte Ihnen schlecht bekommen; Sie haben Ihr Versprechen gebrochen, und wir sind nicht verpflichtet, so früh zu marschieren; in der Instruktion steht nur, daß die Partie vor Sonnenuntergang am Orte einzutreffen hat.«

In diesem Augenblick stürzte der Feldwebel herein.

»Kapitän, die Gefangenen revoltieren, die Sträflinge wollen hier einbrechen!«

»Laßt nur uns da herein, wir werden ihnen schon Beine machen,« riefen die Sträflinge.

»Da haben Sie es! Sie haben jetzt die Leute gegen uns gehetzt. Sie tragen die Schuld!« riefen wir dem Offizier zu.

Der Mann verlor den Kopf, seine selbstbewußte Haltung war auf einmal fort, und statt zu befehlen, suchte er jetzt Rat bei uns.

»Um Gottes Willen, was soll ich tun?«

Wir gaben ihm den Rat, die Sträflinge unter dem Kommando des Feldwebels vorauszuschicken.

»Um sechs Uhr werden wir bereit sein und die Partie einholen. Früher gehen wir nicht.«

Gedemütigt zog er ab und tat, was wir sagten. Wir tranken in Ruhe unseren Tee und waren bald bereit. Von Zeit zu Zeit erschien der Bursche des Offiziers und fragte, ob wir aufbrechen wollten; wir sahen nach der Uhr und antworteten jedesmal, daß noch so und so viel Minuten bis sechs Uhr fehlen. Genau zur festgesetzten Stunde brachen wir dann auf und holten die »Partie« ein.

Von da an hatten wir die Sympathie und die Achtung der meisten Sträflinge erworben. Unsere Entschlossenheit und Standhaftigkeit gefiel und imponierte ihnen; sie waren erstaunt, daß ein Häuflein von vierzehn Menschen sich nicht von dem Offizier ins Bockshorn jagen ließ, obwohl dieser an hundert Soldaten und ihren eigenen Haufen, 35O Mann, gegen uns zur Verfügung hatte. Es bildeten sich friedliche Beziehungen zwischen beiden Lagern, und wir kamen bis zuletzt ohne Streit aus.

Nun einer der Sträflinge grollte uns noch lange Zeit und erwies uns seine Mißachtung, wo er konnte. Es war ein alter Strolch, der schon wiederholt geflüchtet war und jetzt als Sträfling »unbekannter Herkunft« abermals in die Verbannung ging. Er stammte offenbar aus dem Arbeiterstande, zeichnete sich durch scharfen Verstand aus und hatte erstaunlich viel gelesen. Das Lesen schien seine Hauptleidenschaft zu sein. Doch waren ihm stets nur die Bücher unserer Reaktionäre in die Hände gekommen, des Fürsten Meschtscherski, Katkoff usw., und seine Anschauungen waren dementsprechend; besonders über die Politik im allgemeinen und über die Sozialisten im besonderen hatte er sich eine recht sonderbare Meinung gebildet. Er war aufrichtig überzeugt, daß die Revolutionäre Alexander II. nur deshalb getötet hätten, weil der Zar die Bauern aus der Sklaverei befreit habe. Er sagte uns in Gegenwart der anderen Sträflinge ins Gesicht, daß wir entweder unzufriedene Adelige seien oder von diesen bestochene Lumpen. Einige von uns ließen sich dann in Debatten mit ihm ein und suchten ihn zu überzeugen. Allmählich fanden unsere Argumente Eingang bei ihm, er bat uns um Bücher und suchte unsere Gesellschaft. Auch ich habe oft mit ihm geplaudert, suchte seine Vergangenheit kennen zu lernen und sein Treiben in der Zeit des Vagabundenlebens. Doch gelang es mir nie zu erfahren, wer er eigentlich sei, wie er in Wirklichkeit heiße und woher er stamme, er blieb einfach der »Iwan unbekannter Herkunft«, wie er auch in den Urkunden genannt wurde; über sein Vagabundenleben dagegen erzählte er oft und gern. Ich fragte ihn gelegentlich, wie er es anstelle, im europäischen Rußland sich durchzuschlagen, wenn er aus Sibirien geflüchtet war.

»Ja, was ist denn dabei?« meinte er. »Die Hauptsache ist, erst einmal den Ural im Rücken zu haben, dann setzt man sich auf die Eisenbahn oder auf das Dampfschiff und bleibt, wo es einem beliebt. So komme ich nach Charkow, nach Kiew, nach Odessa oder nach Rostow, miete mir ein Zimmer und lebe in aller Ruhe; gekleidet bin ich stets sehr anständig, mein Paß ist in bester Ordnung – den machen wir selbst! – und so kümmert sich niemand um mich. Vor allem abonniere ich Bücher in irgend einer Leihbibliothek – ich habe die schönsten Sachen gelesen: Gaboriau, Paul de Kock, Alexander Dumas usw. Zu Mittag esse ich im Restaurant, am Abend gehe ich oft ins Theater.«

»Alles sehr schön, aber wo nehmen Sie die Mittel her, um so zu leben?« fragte ich erstaunt; von Arbeit und Erwerb war nämlich nicht die Rede, man hätte annehmen können, daß der Mann von seinen Renten lebt.

»Die Mittel? Na, ich nehme, was zu nehmen ist?«

»Erzählen Sie doch, bitte, wie Sie das anstellen?«

Jetzt entwickelte er seine Praxis:

»Vor allen Dingen heißt es hier ›selbst ist der Mann‹; auf Kompaniegeschäfte lasse ich mich nicht ein: es sind gefährliche Brüder, die Spitzbuben, wissen Sie, bei der ersten Gelegenheit riskiert man, umgebracht oder verraten zu werden. Ich ›arbeite‹ also auf eigene Faust.«

Dann erzählte er, wie er »arbeitet«; Diebstähle, Einbrüche, je nach Bedarf. »Zuweilen geht's schief, sie fassen einen, das Gericht schickt mich als Vagabund ›unbekannter Herkunft‹ nach Sibirien, und ich mache mich wieder auf den Weg. So werde ich wohl mein Leben lang hin und her pendeln zwischen Asien und Europa!« schloß er in aller Seelenruhe.

Aus den Erzählungen dieses Mannes und anderer Verbrecher erfuhr ich, wie erstaunlich groß die Zahl der Vagabunden bei uns ist. Meistens rekrutieren sie sich aus der Kategorie der minder schweren Verbrecher, die zu Deportation verurteilt worden sind; doch gibt es auch solche unter ihnen, die zu Zwangsarbeit verurteilt waren, aber dann in der erwähnten Weise »getauscht« haben. Sobald die Frühlingssonne scheint, bleibt kaum einer dieser Leute am Verbannungsorte; fast alle ziehen sie los nach dem europäischen Rußland. Gewöhnlich wählen sie Seitenwege und nur ihnen bekannte Stege durch die »Taiga«, den Urwald; aber zuweilen ziehen sie ruhig die sogenannte »große Moskauer Landstraße« entlang, den einzigen Verkehrsweg, den es vor Erbauung der sibirischen Eisenbahn nach Ostsibirien gab. Auch wir begegneten auf dieser Straße sehr oft Vagabunden, die zu zweit oder in ganzen Haufen dahinzogen. Im Sträflingsanzug, mit etwas Gepäck und einem kleinen Kessel auf dem Rücken kamen sie daher, stets am Waldrande, um nötigenfalls spurlos zu verschwinden. Beim Anblick unserer »Partie« blieben sie wohl stehen und plauderten mit den Sträflingen, unter denen sie oft Bekannte haben. Die Soldaten und Offiziere schienen sie nicht weiter zu genieren.

»Wohin des Weges?« fragte zuweilen der Offizier, wenn die Vagabunden die Mütze in der Hand ihn grüßten.

»Euer Gnaden wissen schon, wir suchen Staatsversorgung!« antworteten sie in aller Gemütlichkeit.

»Macht daß ihr fortkommt, in Gottes Namen!« lachte der Offizier und erzählte uns dann wohl, daß er diese Leute vor wenigen Monaten nach dem Osten in die Verbannung transportiert habe.

»Staatsversorgung« war die Bezeichnung für Gefängnis, und in der Tat fanden die meisten dieser Vagabunden den Weg dorthin schon in ganz kurzer Zeit; bis zum Herbst blieben nur wenige in Freiheit. Unterwegs bettelten sie sich durch. Aus religiösem Pflichtgefühl, das Mildtätigkeit gebietet, wie auch aus Furcht, die Vagabunden könnten, wenn sie abgewiesen werden, Rache nehmen, spendet die sibirische Bevölkerung im weitesten Maße diesen Leuten Almosen. An vielen Orten bestand damals noch die Sitte, über Nacht auf dem äußeren Fensterbrett Lebensmittel für diese Wanderer stehen zu lassen: eine Schale mit gestockter Milch, ein Stück Brot, einen Quarkfladen. Auch ließ man, damit die Vagabunden ein Unterkommen finden, wohl die Tür des Dampfbades offen, das in den meisten Bauernhöfen sich in einer kleinen, abseits vom Hause gelegenen Hütte befindet; in die Häuser gewährte man ihnen jedoch nur ungern Zutritt, weil man sehr gerechtfertigtes Mißtrauen gegen sie hegte. Das erinnert mich an folgende Episode: Eines Tages erzählte mir auf dem Etappenwege einer der Sträflinge, er habe persönlich Tschernischewski gekannt? Der berühmte Gelehrte und Dichter war bekanntlich 1862 ohne jede Schuld zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt worden. Erst nach sechzehn Jahren wurde ihm die Rückkehr nach Rußland gestattet, wo er sich erst in Astrachan, dann in Saratow niederließ und in letzterer Stadt starb.

Natürlich erregte er dadurch mein Interesse, und ich fragte ihn aus, wo und wie er mit dem großen Märtyrer zusammengekommen war. Er erzählte, daß er bereits einmal deportiert und in Wilujsk im Jakutenlande war, wo damals Tschernischewski, mit dem man ihn aus dem Gefängnis entlassen, interniert war. Der Mann wußte einzelnes darüber zu erzählen, wie es Tschernischewski in der Verbannung erging, und das genügte für mich, ihm freundlich entgegenzukommen. Mir schien, als ob dieser Sträfling, der einen der edelsten Männer Rußlands persönlich gekannt hatte, anders als die übrigen sein mußte. Als er erzählt hatte, was er von Tschernischewski wußte, fragte ich, wie er wieder in die »Partie« gekommen sei.

»Ich bekam das verfluchte Nest, Wilujsk, satt und ging mit anderen Vagabunden los,« begann er. »Wir waren ein paar Tage unterwegs, als wir während einer Nacht in Sturm und Regen in ein Dorf kamen. Es goß in Strömen, und wir fanden nirgends ein Unterkommen, überall jagte man uns fort. In einer Hütte öffnete ein Greis; wir baten ihn, uns doch um Gottes Willen Quartier zu geben. – ›Nun, werdet ihr auch uns alte Leute in Frieden lassen?‹ fragte er. ›Wo denkt Ihr hin, Väterchen‹ sagten wir, ›habt Erbarmen!‹ Er ließ uns hinein; die Alte gab uns zu essen, und man ließ uns zu zweit auf den Ofen klettern. Die Alten schliefen ein. Nun, dann haben wir sie abgemurkst und mitgenommen, was wir brauchen konnten. Weit sind wir nicht gekommen: die Bauern sind uns nachgejagt und haben uns eingefangen. Dann die gewöhnliche Geschichte – Gericht, Katorga! Unterwegs habe ich ›Schiebung‹ gemacht, und jetzt gehe ich in die Verbannung als ›einer unbekannter Herkunft‹.«

Die sibirische Bevölkerung bleibt ihrerseits den Vagabunden nichts schuldig, nicht nur im Falle eines Verbrechens werden Treibjagden zum Einfangen der Schuldigen veranstaltet, sondern oft werden die Vagabunden ohne jede Ursache wie wilde Tiere niedergeschossen, um sie der Kleidung, der Stiefel, der Bettlerhabe zu berauben. Durchaus glaubwürdige Leute erzählten mir das Folgende als typisches Beispiel:

Ein Vagabund verdingt sich bei einem Bauern als Knecht für den Winter; mit Frühlingsanbruch nimmt er seinen Lohn für den ganzen Winter und zieht ab. Der Lohn für die harte Arbeit beträgt eine Lappalie, denn der Bauer beutet die Lage des armen Strolches nach Kräften aus und zahlt für die schwerste Arbeit ein Bettelgeld; aber jetzt reuen ihn selbst die wenigen Groschen. Er spioniert, welche Richtung sein Knecht einschlägt, nimmt dann seine Flinte und geht jagen. Fast alle Sibirier sind leidenschaftliche Jäger und vorzügliche Schützen; sie wissen im Urwald ebenso Bescheid wie die Tiere, die hier hausen. Der Bauer findet also leicht die Spur seines Knechtes, holt ihn ein und schießt ihn rücklings nieder, um ihn zu berauben; die Leiche läßt er den Tieren zum Fraß. Sodann kehrt er von seinem »Jagdausflug« heim.

Während unserer Wanderung hörten wir beständig Erzählungen von häufigen Leichenfunden, von Verbrechen, die niemals entdeckt werden. Sibirien war eben damals noch ein ödes, wildes Land; Verkehrswege gab es nicht, die Verwaltung war vollständig in Händen der Polizei, und die Polizeiorgane waren von unten bis oben bestechlich. Was Wunder, wenn die haarsträubendsten Dinge hier geschehen konnten, ohne daß sich jemand darum kümmerte. Ein Menschenleben wird im Reiche des Zaren überhaupt nicht hoch geschätzt, hier in Sibirien galt es – wie ich mich später oft überzeugen konnte – rein gar nichts. Selbst jetzt, wo in mancher Hinsicht der Fortschritt bedeutend ist, wo die Justizverwaltung (seit 1897) reformiert ist, ist es in dieser Beziehung noch nicht viel anders.


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