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XXI
Eine Rüge an den Polizeimeister. Begegnung mit deportierten Genossen. – von Irkutsk nach Kara. Gestohlene Fesseln. – Ein zweifelhafter Dekabrist. Noch ein Konflikt. – Ankunft in Kara.

Die Erzählung der Frauen über ihr Martyrium hatte auf uns tiefen Eindruck gemacht. Was hatten sie nicht alles erlitten, und wie hatte man sie behandelt, wie kleinlich hatte man sie schikaniert! Als sie ihren Hungerprotest erhoben, ließ man sie in einer Zelle, deren Fenster keine Scheiben hatten, und das während der sibirischen Winterfröste. Es war geradezu ein Wunder, daß sie das alles ausgehalten hatten. Was war natürlicher, als daß unser Zorn gegen den Polizeimeister, der Anlaß zu diesem Drama gegeben hatte, aufloderte, und daß wir sehnlichst wünschten, ihm unsere Verachtung auszusprechen. Die Gelegenheit bot sich bald. Ein höherer Beamter aus Petersburg inspizierte die sibirischen Gefängnisse und kam auch in Begleitung einer großen Suite in unsere Zelle; der Polizeimeister befand sich ebenfalls in der Suite. Kaum war er eingetreten, als unser Obmann, gemäß einer vorhergehenden Verabredung unter uns, auf ihn zuging und mit erhobener Stimme erklärte:

»Wir sind erstaunt ob der Dreistigkeit, mit der Sie, nachdem Sie unsere Genossinnen zu einem entsetzlichen Hungerprotest gezwungen haben, es wagen, uns vor die Augen zu treten.«

Die ganze Gesellschaft nahm schleunigst Reißaus, begleitet von unseren Zurufen, die durchaus keine Schmeicheleien für den Übeltäter waren. Irgendwelche üble Folgen hatte dieser Vorgang nicht, und unsere Genossinnen freuten sich herzlich über die Demütigung ihres Peinigers.

Von den vier Damen hatten wir manches über die Zustände in Kara, unserem Bestimmungsort, gehört, und auch einen Genossen, der aus eigener Erfahrung über das Gefängnis in Kara orientiert war, sprachen wir in Irkutsk. Es war Ferdinand Lustig, ein gewesener Artillerieoffizier und später Student des Technologischen Instituts in Petersburg, der im Prozeß von Suchanoff und Michailoff im Jahre 1882 zu vier Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde, seine Strafe in Kara verbüßt hatte und jetzt in die Verbannung ging. Was er erzählte, klang im allgemeinen recht traurig. Das Regime war hart, und dazu stand der Kommandeur des Gefängnisses, Gendarmerierittmeister Nikolin, in übelstem Rufe.

Die Reise nach dem Osten traten wir zu viert an: Marie Kaljuschnaja, Tschuikoff, Lasareff und ich. Die übrigen sieben Personen waren nach verschiedenen Orten im Gouvernement Irkutsk verschickt worden, und nur der neunzehnjährige Rubinok, dessen Schicksal ich bereits erwähnte, ging nach Norden in die jakutische Wüstenei.

Ende September brachen wir auf, abermals mit einer Partie Kriminalsträflinge. Bis Kara hatten wir einen Weg von ungefähr 1200 Werst vor uns, und die Wanderung mußte mindestens zwei Monate dauern. Der Winter beginnt bekanntlich in Sibirien bedeutend früher als auf den gleichen Breitegraten in Westeuropa, selbst in Rußland, und uns standen somit alle Schrecknisse einer Winterreise bevor. In zwei Tagen ging das letzte Dampfschiff von der Station Listwinitschnaja über den Baikalsee, und es galt, diesen zu erreichen, widrigenfalls wir den Winter im Gefängnis zu Irkutsk hätten zubringen müssen.

Der stürmische Baikal empfing uns noch ziemlich gnädig, obwohl in der Regel die Herbststürme hier eine direkte Gefahr für die Schiffahrt sind. Es ist wiederholt behauptet worden, daß die Ufer dieses riesigen Sees an Schönheit den schweizerischen Gebirgsseen nichts nachgeben; ich mag keinen Vergleich anstellen, doch ist der Eindruck, den die gewaltigen Berge machen, in der Tat unvergeßlich.

Am jenseitigen Ufer, an der Landungsstation Mysowaja, hatten wir zu übernachten. Man hatte uns bereits eingeschlossen, da kreischte das Schloß der Kerkertür, und die Wache führte eine junge Dame herein, die direkt auf mich zukam.

»Sonja!« rief ich freudig überrascht, als ich sie erkannte. Es war Sophie Iwanoff, eine gute Freundin, die ich seit sechs Jahren nicht gesehen. Wie Sophie Perowskaja, Wera Figner und andere hervorragende Terroristinnen, war Sophie Iwanoff im Herbst 1879, nachdem die Organisation »Land und Freiheit« sich aufgelöst hatte, der neu entstandenen Partei »Narodnaja Wolja« beigetreten. Gerade in jener Zeit des Überganges hatte ich Sophie Iwanoff und andere Terroristen kennen gelernt. Kurz darauf, im Januar 1880, war sie in Petersburg verhaftet worden; sie arbeitete mit mehreren Genossen in der Geheimdruckerei, wo das Parteiorgan »Narodnaja Wolja« gedruckt wurde. Bei der Verhaftung wurde bewaffneter Widerstand geleistet, an dem Sophie Iwanoff aktiv teilnahm, und deshalb wurde sie zu vier Jahren Katorga verurteilt. Jetzt wurde sie nach Verbüßung der Strafe nach einem westlichen Gouvernement in Verbannung geschickt. Wir waren herzlich erfreut, uns wiederzusehen, aber es war uns nur eine Frist von wenigen Stunden vergönnt, denn das Dampfschiff sollte alsbald den Rückweg antreten, und meine Freundin durfte den Anschluß nicht versäumen. In aller Eile teilten wir einander unsere Erlebnisse mit und fragten nach gemeinsamen Bekannten und Genossen, dann mußten wir uns trennen, und ich habe sie nie wieder gesehen. Soviel ich weiß, weilt Sophie Iwanoff heute noch in Sibirien.

Bald darauf kamen wir in Werchny-Udinsk, der ersten Stadt jenseits des Baikal, an. Wie nahezu überall in Sibirien, war das Gefängnis überfüllt, und man fand kaum Raum für uns, die »Politischen«. Der Feldwebel – auf dem Wege in Transbaikalien kommandierten überall Feldwebel statt der Offiziere die Gefangenentransporte – führte uns daher nach dem Polizeiamt, um uns dort unterzubringen. Da es aber spät geworden war, waren die Bureaus geschlossen und kein Beamter mehr zu finden, der uns in Empfang nehmen konnte, was aber dem Feldwebel wenig Kopfzerbrechen zu bereiten schien; er ließ uns einfach in der Kanzlei allein bei geöffneten Fenstern und Türen und ging seiner Wege. Wir konnten also gehen oder bleiben, wo wir wollten, und waren höchst erstaunt über diese gemütliche Lösung der Frage. Aber der Mann wußte schließlich, was er tat. Freilich konnten wir unbemerkt davongehen, aber was dann? Es war ja überhaupt stets leicht, aus dem Gefängnis zu kommen, aber es war fast unmöglich, der Verfolgung zu entgehen. War doch zum Beispiel Elisabeth Kowalskaja nicht ein, sondern sogar zweimal aus dem Gefängnis in Irkutsk geflohen (das eine Mal war sie als Schließer verkleidet), aber beide Male war sie wieder eingefangen worden, ehe sie noch die Stadt verlassen hatte. Wenn es daher so schwer war, in einer relativ großen Stadt wie Irkutsk sich zu verbergen, trotz der Verbindungen und Geldmittel, über die Kowalskaja verfügte, so war es sicher unmöglich in einem Nest wie Werchny-Udinsk, wo alle Einwohner bekannt waren, zumal für uns, da wir weder Verbindungen noch Geldmittel hatten. Aber es war ein eigentümliches Gefühl, wie ich mich jetzt noch erinnere, sich frei zu fühlen, durch keine Wache beengt und trotzdem gefangen zu sein. Wir ärgerten uns schließlich, daß man uns derart der Verlockung aussetzte.

In Werchny-Udinsk begegneten wir abermals einem Genossen, der aus Kara kam und in die Verbannung ging; es war Steblin-Kamenski, Er war 1879 zusammen mit Marie Kowalewskája wegen Widerstandes bei der Verhaftung zu zehn Jahren Katorga verurteilt worden. In Irkutsk hat er sich später das Leben genommen.] den seine Frau freiwillig begleitete. Er hatte das Dampfboot nicht mehr erreicht und mußte nun in Werchny-Udinsk bleiben, bis die Wege passierbar wurden, das heißt drei bis vier Monate; diese Zeit durfte er sich an dem genannten Orte frei aufhalten. Selbstverständlich blieben wir die beiden Tage, die unsere Partie hier zu warten hatte, bei einander, und Kamenski mußte vor allem erzählen, wie es ihm in Kara gegangen. Er war ein glänzender Causeur und schilderte mit unerschöpflichem Humor das Leben und Treiben unserer Genossen in allen Einzelnheiten. Es war freilich ein Lächeln unter Tränen, denn was er erzählte, war traurig genug. Vor allem litten unsere Genossen bittere Not und unter einem unmenschlichen Kerkermeister. Auch Kamenski schilderte den bereits erwähnten Rittmeister Nikolin, unter dessen Kommando das Gefängnis in Kara stand, als einen bösartigen, launenhaften und listigen Menschen, der allerlei Nichtswürdigkeiten ersann, um die Gefangenen zu plagen.

Wir hatten also bereits einige Genossen kennen gelernt, die von Kara kamen. Sie machten alle einen traurigen Eindruck. Die lange Kerkerhaft hatte ihnen den Stempel aufgedrückt. Ihre Stimme war gedämpft, ihr Antlitz mit tiefen Furchen durchzogen; die meisten waren kahlköpfig trotz der jungen Jahre, es gab kaum über dreißig Jahre alte Leute unter ihnen. Aber gebrochen an Geist, entmutigt waren sie nicht, mit einigen Ausnahmen. Nur die wenigsten sahen der Zukunft in bezug auf ihr eigenes Schicksal hoffnungsvoll entgegen. Es standen ihnen lange Jahre der Verbannung bevor; in irgendeinem verlorenen Neste Sibiriens sollten sie hinvegetieren, allen Entbehrungen ausgesetzt, dem Leben entrückt. Manchen erschien es fraglich, ob das Los, das ihrer harrte, nicht schlimmer sei als die Kerkerhaft. Schließlich war es doch wenigstens ein Schein von »Freiheit«, der winkte! Freilich eine problematische »Freiheit«, denn die Deportierten, die »Ansiedler«, wie es in der Amtssprache heißt, waren auf Schritt und Tritt tausenderlei Beschränkungen unterworfen, aber diese Freiheit lockte immerhin. Nur einem begegnete ich, der zuversichtlich der Zukunft entgegensah, trotzdem er in das Jakutengebiet, dem schlimmsten Teile Sibiriens, deportiert wurde; es war dies Iwan Kaschinzeff, Er wurde im Jahre 1881 zu zehn Jahren Katorga verurteilt wegen Teilnahme an dem südrussischen Arbeiterbunde; infolge des Krönungsmanifestes war ihm ein Drittel der Strafe erlassen worden. damals fünfundzwanzig Jahre alt und voller Lebensfreude. Er erklärte mir, als wir uns auf einer Etappenstation begegneten – wir hatten uns früher gekannt –, daß er unter allen Umständen flüchten werde. In der Tat entkam er später und lebt jetzt im Ausland.

Ehe die aus dem Gefängnis Entlassenen ihren Bestimmungsort erreichten, hatten sie zu jener Zeit Schweres auszustehen. Wir, die wir nach Kara gingen, bewegten uns im Schneckentempo, aber die von Kara kamen, hatten es noch schlimmer, sie mußten nahezu auf jeder Etappenstation warten, bis der Convoi auf dem Rückweg sie eine Station weiter brachte, und das dauerte oft eine ganze Woche. So kam es, daß sie im Durchschnitt kaum fünf Werst täglich zurücklegten; da es sich um Entfernungen von Hunderten und Tausenden von Werst handelte, dauerte also die Reise oft viele Monate.

Unwillkürlich dachte ich bei jeder Begegnung mit einem Genossen, der von Kara kam, an meine eigene Zukunft: Wie wird es um dich stehen, wenn du nach Jahren diesen Weg gehst? Ja, wirst du ihn überhaupt jemals wieder gehen?

*

Eines Tages bemerkte ich einen eigenartigen Verlust an meiner Habe. Man hatte mir den Sack gestohlen, in dem ich einiges von meinem Gepäck und einige der Regiesachen verwahrt hatte, und obendrein enthielt der Sack meine Fesseln. Es blieb mir nichts anderes übrig, als das Vorkommnis dem Offizier zu melden; statt die Fesseln an den Füßen zu haben, ließ ich sie mir stehlen! Desto mehr war ich erstaunt, daß der Offizier vor allem sein Bedauern ob meines Verlustes ausdrückte; das Verschwinden der Regiesachen schien ihn weiter nicht zu kümmern.

»Was mache ich jetzt aber ohne Fesseln?« fragte ich endlich. Ich sah, daß ihn das Fehlen dieses wichtigen Requisits in der Ausrüstung eines Sträflings ganz gleichgültig ließ. »Wenn ich nach Kara komme, wird man jedenfalls danach fragen?«

»Allerdings, die müßten Sie eigentlich haben,« meinte er. »Warten Sie einmal, ich glaube, es muß noch irgendwo derartiges Zeug herumliegen.« Darauf gab er dem Feldwebel den Befehl, in der Rumpelkammer nachzusehen, und dieser brachte denn auch ein paar neue Fesseln.

»Geben Sie jetzt acht, daß man ihnen die Dinger nicht abermals stiehlt,« meinte der Offizier, als ich sie bei meinem Gepäck untergebracht hatte.

Wie dieses Beispiel zeigt, wurden die Beziehungen unserer Wächter zu uns sorgloser, sozusagen patriarchalisch, je weiter wir nach Osten kamen.

Unterdessen war der Winter hereingebrochen, der sibirische Winter mit all seinen Schrecken. Wir passierten den Jablonowoi-Bergrücken und näherten uns der Hauptstadt Transbaikaliens, Tschita. Auf der letzten Station vor diesem Punkte bemerkten wir lebhaftes Treiben bei den Kriminalsträflingen; der Feldwebel und die Soldaten machten sich die ganze Nacht bei ihnen zu schaffen, schleppten beständig etwas hin und her und waren überhaupt außerordentlich geschäftig. Wir zerbrachen uns in unserer Zelle vergeblich den Kopf, was eigentlich los war; erst am nächsten Tage löste sich das Rätsel.

Trotzdem die Entfernung bis Tschita sehr beträchtlich für einen Tagesmarsch war – wenn ich nicht irre gegen vierzig Werst –, brachen wir am nächsten Morgen sehr spät auf. Etwa fünfzehn oder zwanzig Werst vor der Stadt stand ein einsames Gehöft ganz isoliert von der Landstraße. Wir wußten bereits von den Genossen, die von Kara kamen, daß hier ein alter Mann hauste, der sich für einen »Dekabristen« Ein Teilnehmer an der Revolte im Dezember 1825 bei der Thronbesteigung Nikolaus I. ausgab. Die Partie rastete in dem Gehöft. Uns »Politischen« wurde eine Kammer angewiesen, und bald stattete uns der Hausherr einen Besuch ab. Es war ein lebhafter alter Herr, sehr präsentabel und würdevoll, der sich uns als gewesener Dekabrist Karawajeff vorstellte. Nach seiner Erzählung war er als Fähnrich der Garde an der Revolte beteiligt und nach Sibirien verbannt worden; daraus ergab sich, daß er gegen achtzig Jahre alt sein mußte, aber seinem Aussehen nach konnte man ihn höchstens auf fünfundsechzig schätzen. Er war eifrig bemüht, uns zu bewirten, und weigerte sich, Geld von uns zu nehmen. Unterdessen ging es in dem Nebenraum und im Korridor sehr lebhaft zu, es schien dort ein Tauschhandel, verbunden mit einem Gelage stattzufinden; Sträflinge und Soldaten kneipten, aßen und waren guter Dinge.

Es war bereits finster geworden, als die »Partie« am nächsten Tage an dem Gefängnistor in Tschita anlangte. Wir »Politischen« hatten hier einen harten Strauß mit dem Verwalter zu bestehen, der uns in der Weise schikanierte, daß er zuerst die Kriminalsträflinge in Empfang nahm und uns schließlich eine Zelle in einem Zustand anwies, daß es absolut unmöglich war, die Nacht darin zuzubringen; erst als wir Lärm schlugen und mit Klagen drohten, gab er uns anständige Unterkunft.

Am folgenden Tage, als die »Partie« zum Abmarsch sich rüsten wollte, zeigte sich, daß den meisten Sträflingen die Regieausrüstung fehlte. Jetzt ging uns ein Licht auf über die Vorgänge der letzten Nacht und das Gelage bei dem »Dekabristen«. Der ehrenwerte, gastfreie Herr Karawajeff war augenscheinlich mit dem Convoi im Bunde, er lieferte den Sträflingen Schnaps, indem er ihnen Regiesachen, Kleider, Stiefel usw., abkaufte, natürlich um ein Spottgeld. Damit die Sache bei der Ablieferung in Tschita nicht ruchbar wurde, sorgte der Convoi dafür, daß die »Partie« möglichst spät ankam; auf die Weise wurde die Revision überhastet und das Fehlen der Sachen übersehen. Kurz, der ehrenwerte Karawajeff hatte jedenfalls nicht ohne Hintergedanken sich an dem einsamen Orte niedergelassen. Für die armen Sträflinge hatte das Gelage üble Folgen; sie wurden, da sie den Verbleib der Kleider und der sonstigen Regiesachen nicht nachweisen konnten, durchgeprügelt und bekamen dann erst neue Ausrüstung.

In Tschita trennten wir uns von unserem braven Obmann Lasareff, der hier interniert wurde. Wir anderen drei beschlossen, uns hier eine längere Rast zu verschaffen. Wir waren seit dem Abmarsch von Irkutsk sechs Wochen auf dem Wege und ganz erschöpft; Eile hatten wir ja ohnehin nicht, uns erwartete das Gefängnis, wo wir jahrelang bleiben sollten; während des Transports dagegen hatten wir immerhin ein minder strenges Regime, auch wenn wir im Gefängnis waren. Außerdem wußten wir, daß in Tschita eine Anzahl unserer Genossen interniert war, mit denen wir verkehren konnten, während weiterhin wahrscheinlich jede Verbindung aufhörte; es war also gleichsam unser Abschied von der Welt, bevor die Kerkertür hinter uns ins Schloß fiel. Wir meldeten uns daher krank und erhielten leicht die Einwilligung des Gefängnisarztes für die Unterbrechung der Reise, bis wir uns der nächsten Partie in vierzehn Tagen anschließen konnten. Unsere Genossen besuchten uns denn auch fleißig, das heißt sie kamen an das Gefängnistor, während wir uns im Hofe aufhielten. Die interessanteste Neuigkeit, die sie uns mitteilten, betraf die Exkursion des amerikanischen Schriftstellers Georg Kennan. Er war damals gerade auf dem Rückweg aus Kara in Tschita eingetroffen, und unsere Freunde waren voll des Lobes für den trefflichen Mann.

In den letzten Tagen des November brachen wir auf, diesmal in Begleitung einer sogenannten »Familienpartie«, das heißt eines Transports von Sträflingen, wo außer Männer auch Frauen und Kinder ins Exil oder ins Gefängnis verbracht wurden. Es war ein schneearmer Winter, und daher kamen keine Schlitten, sondern zweiräderige Karren beim Transport zur Verwendung, auf denen die Fahrt zu einer wahren Marter wurde. Die Kälte wurde von Tag zu Tag strenger, und wir froren entsetzlich, trotzdem wir alles, was wir an warmen Kleidern besaßen, auf dem Leibe trugen und uns kaum bewegen konnten; das einzige Mittel, sich warm zu halten, war, statt zu fahren neben dem Wagen her zu marschieren. Und nun stelle man sich das Los der unglücklichen Kinder vor, die in Begleitung ihrer Eltern den Transport durch die sibirische Wüstenei erdulden mußten. Mit Ungeduld erwartete man wohl die nächste Etappenstation, um sich zu erwärmen, aber gerade diese Stationen ließen alles zu wünschen übrig. Sehr oft waren sie seit langer Zeit nicht geheizt worden, und die abgematteten und halberstarrten Sträflinge mußten erst Holz klein machen, um zu heizen, dabei waren die Öfen zum Teil verdorben und rauchten fürchterlich, so daß der Aufenthalt in den Räumen zur Qual wurde, und stellenweise waren nicht einmal genügend Räume vorhanden, um die ganze Partie unterzubringen. Wiederholt kam es daher vor, daß man uns drei »Politischen« in einer Bauernhütte unterbrachte; zuweilen mußte sogar die ganze Partie derartig einquartiert werden. Wir waren jedesmal froh, wenn wir auf diese Weise kampierten, und die elendeste Hütte kam uns noch komfortabel vor im Vergleich zu der besten Etappenstation. Wie oft wünschten wir damals, daß wir auch in Zukunft in einer solchen Hütte wohnen dürften.

Wie erwähnt, hatte sich das Verhältnis zwischen uns und unserer Wache derart geändert, daß von strenger Disziplin nicht mehr die Rede war. Das hatte seine guten Seiten, aber andererseits erlaubten sich die Soldaten den Kriminalsträflingen gegenüber auch alles mögliche und ließen zuweilen ihrer Roheit die Zügel schießen. So bemerkte ich eines Tages, als wir der Stadt Nertschinsk zu marschierten, daß ein junger Soldat einen alten, hilflosen Sträfling in barbarischer Weise mit dem Gewehrkolben prügelte, weil der arme Kerl auf einen Bagagewagen gestiegen war. Ich intervenierte und sah sofort, daß es sich nur darum handelte, daß der Soldat selbst den Karren besteigen wollte und der Sträfling es nicht erraten hatte. Nachdem ich den Soldaten zur Rede gestellt, rief ich den Feldwebel und erklärte ihm, ich würde mich beschweren, daß er seine Leute so wenig in Zucht halte. Am nächsten Tage, als wir auf dem Wege nach dem Gefängnis die Stadt passierten, trat ich in einen Wurstladen ein, um Einkäufe zu machen, und sofort war der Soldat, der die Ausschreitung begangen hatte, hinter mir her: »Wohin? weshalb?« Ich ließ ihn maulen, besorgte mein Geschäft und ging. Der Feldwebel war gerade abwesend; ich sah, wie er mit dem Bauern, der das Fuhrwerk stellte, vorausgefahren war, wahrscheinlich kneipte er unterwegs, denn er traf erst am Gefängnistor bei uns ein. Ich war erstaunt, als mir dann der Verwalter des Gefängnisses erklärte, daß der Feldwebel eine Beschwerde gegen mich vorgebracht habe wegen Beleidigung der Wache und eigenwilligem Verlassen der Kolonne. Der schlaue Patron wollte augenscheinlich die Beschwerde, mit der ich ihm gedroht, die ich aber ganz vergessen hatte, zuvorkommen. Jetzt drehte ich aber den Spieß um und verfaßte eine Beschwerdeschrift. Das Ende vom Liede war, daß der Feldwebel in Gegenwart mehrerer Zeugen um Verzeihung bitten mußte, worauf wir dann beide unsere Beschwerden zurückzogen.

In Nertschinsk wurden Tschuikoff und ich in das Gefängnis für Männer eingeliefert. Marie Kaljuschnaja bekam eine besondere Zelle angewiesen. Das Bild, das sich uns in diesem Gefängnis darbot, werde ich nie im Leben vergessen. Von einem schwach beleuchteten Korridor aus konnte man eine Reihe von Zellen übersehen; es war spät am Abend und die Sträflinge hatten sich bereits niedergelegt. Mann an Mann gedrängt lagen sie da, nicht nur auf den Pritschen, die in zwei Reihen übereinander angebracht waren, sondern überall auf den Dielen, es war buchstäblich nicht ein Stückchen Raum frei. Die meisten der Sträflinge waren mit Hemd und Hose bekleidet, viele hatten nur eine Hose an und lagen entblößt auf dem von Schmutz starrenden Boden. Das Gedränge war so groß, daß wir, um in die »Zelle der Privilegierten« zu gelangen, die man uns angewiesen hatte, nicht nur über die Schläfer hinschreiten, sondern direkt auf ihre Körper treten mußten. Der Gestank war geradezu entsetzlich, denn nicht nur die Ausdünstung der Menschen erfüllte die Luft, sondern es standen auch die großen, mit Exkrementen gefüllten Kübel überall umher; da die Gefäße leck waren, war der Boden ringsum verunreinigt, und die Leute hatten die stinkende Flüssigkeit an ihren Füßen überall hingeschleppt. Hier und da sah man auf dem Boden und den Pritschen in Gruppen die Kartenspieler hocken und mit Leidenschaft ihr Spiel fortsetzen, unbekümmert um alles, was ringsum geschah. Trotzdem die meisten zu schlafen schienen, herrschte unglaublicher Radau in allen Räumen. Es war ein geradezu Entsetzen erregender Eindruck, die Hölle Dantes konnte nicht schlimmer sein.

Auch die »Zelle der Privilegierten« war voller Menschen. Wir fanden hier abermals zwei Genossen, die von Kara gekommen waren, Tschekoidse und Zuckermann. Sie hockten nebeneinander am Boden, und wir fanden mit Mühe ein Plätzchen neben ihnen, wo wir uns niederlegen konnten. Zuckermann war mir bekannt; er war Schriftsetzer und Mitte der siebziger Jahre zu Fuß von Berlin nach der Schweiz gewandert, wo ich ihn kennen lernte. Später war er dann nach Rußland gegangen, wo er in der Druckerei der »Narodnaja Wolja« gearbeitet hatte. Als man die Druckerei aushob, hatte er in Gemeinschaft mit Sophie Iwanoff und anderen bewaffneten Widerstand geleistet, und die Genossen hatten mir erzählt, wie heldenhaft er sich während des Prozesses gehalten. Um die Genossen zu decken, hatte er alle Schuld auf sich genommen und erklärt, daß er es gewesen sei, der den ersten Schuß gegen den Gendarmen abgefeuert habe usw. Man hatte ihn zu acht Jahren Katorga verurteilt und nach Kara geschickt, dort wurde er der Liebling des ganzen Gefängnisses; stets guter Laune, voll witziger Einfälle, verbreitete er überall Frohsinn; dabei war er einer von jenen Menschen, von denen man wohl sagt, sie seien »zu gut für diese Welt«, die personifizierte Selbstlosigkeit, stets bereit, anderen zu helfen und sich aufzuopfern. Als wir jetzt in dem schauderhaften Gefängnis lagen, wurde er nicht müde, zu erzählen und zu scherzen; besonders ergötzlich malte er das Zukunftsbild seines Lebens im Jakutengebiet, wohin er verbannt wurde. Leider kam die Wirklichkeit anders: der arme, frohlebige Zuckermann hielt die Einsamkeit und die Entbehrungen in einem Jakutenaul nicht aus und nahm sich das Leben.

Tschekoidse hatte ich früher nicht gekannt, aber wir hatten viel gemeinsame Bekannte und Freunde. Er war der Abstammung nach Grusine und hatte die Schule für Artillerieoffiziere in Petersburg absolviert. Mit einigen anderen Kaukasiern hatte er dann an der propagandistischen Bewegung teilgenommen, war 1875 verhaftet und in dem »Prozeß der Fünfzig« zu Deportation verurteilt worden; dann war er aus Sibirien geflüchtet, wurde abermals verhaftet und zu dreijähriger Katorga verurteilt; jetzt ging er nach der Verbüßung der Strafe in die Verbannung in das Jakutengebiet. Er machte damals den Eindruck eines energischen, unbeugsamen, umsichtigen und praktischen Menschen, der sich in jeder Lage zu helfen weiß; es schien, daß er überall, wohin ihn das Schicksal verschlagen möge, sich ein zweckmäßiges Arbeitsfeld zu schaffen wissen würde. In der Tat entsprach sein späteres Leben durchaus diesem Charakter. Alle die Entbehrungen aber haben seine Gesundheit untergraben, und als er anfangs der neunziger Jahre nach Westsibirien verbracht wurde, erkrankte er schwer und starb an der Schwelle Europas in Kurgan im Jahre 1897.

Am Morgen des 24. Dezember 1885 kamen wir endlich in Ustkara an, einem kleinen Dorfe, wo sich das Gefängnis für Kriminalgefangene und das Gefängnis für die weiblichen Staatsgefangenen befand. Hier mußten wir uns also von unserer Genossin Marie Kaljuschnaja trennen, und ich habe sie an jenem Morgen zum letztenmal gesehen. Tschuikoff und ich mußten noch fünfzehn Werst nach Nischnaja-Kara, wo sich das Gefängnis für männliche Staatsgefangene befand, wandern. Wir mußten bis zum nächsten Tage auf den Kommandanten warten, der die Kriminalsträflinge und uns beide in Empfang nahm. Dann wurde unser Gepäck auf einen Karren gelegt, und in Begleitung einer Schildwache marschierten wir ab, nachdem wir noch vorschriftsmäßig die Fesseln angelegt hatten.

Es war ein furchtbar kalter Tag. Trotz der schweren Kleider und der Fesseln schritten wir rüstig aus, als ob wir es gar eilig hätten, hinter Schloß und Riegel zu kommen. Wir wußten, daß dies unser letzter Marsch war, daß uns jetzt für lange Jahre nur noch das Umhertrotten auf dem Gefängnishofe bevorstand, und unsere Gedanken weilten bei düsteren Zukunftsbildern.

»Dort ist das Gefängnis,« sagte einer der Soldaten, und zeigte uns einen Zaun, der aus hohen, nebeneinander eingerammten Pfählen bestand.

Plötzlich kam von dorther eine Gruppe Menschen: zwei Frauen, ein Kosak und ein Mann in Zivilkleidern.

»Viktor,« rief ich, als wir uns näherkamen und ich den Mann erkannte. Es war Viktor Kostjiwin, mein alter Freund, den ich seit neun Jahren nicht mehr gesehen? Er war in dem Prozeß wegen des Attentats gegen Gorinowitsch zu zehn Jahren Katorga verurteilt worden. Jetzt ging er in die Verbannung.

Wir begrüßten uns herzlich, und er stellte mir die beiden Frauen vor, die ihn begleiteten; es waren Natalie Armfeld und Raisa Pribyljeff, die in Kara in der »Ansiedlung« lebten, worüber ich noch zu berichten haben werde. Die Lebensschicksale von Natalie Armfeld hat Kennan in seinem Buche geschildert, hier sei nur erwähnt, daß sie 1879 zusammen mit Marie Kowalewskaja sich in einer Wohnung befand, wo die Revolutionäre ihrer Verhaftung Widerstand entgegensetzten, und dann in dem Prozeß zu vierzehn Jahren zehn Monaten Katorga verurteilt worden war. Raisa Pribyljeff war ein Mitglied der »Narodnaja Wolja« und wurde im Jahre 1883 zu vier Jahren Katorga verurteilt.

Natürlich hatten wir uns unendlich viel zu erzählen, aber die Zeit war knapp, denn es war unseren Wächtern nicht zu verdenken, wenn sie wenig Lust zeigten, bei der grimmigen Kälte im freien Felde lange zu verweilen, und nach einer kurzen Zeit mußten wir uns trennen.

»Ein Franzose würde hier ein Thema zu großen Worten finden,« meinte ich. »Zwei Freunde an der Schwelle des Kerkers, der eine geht der Freiheit entgegen, der andere verschwindet hinter der Mauer für lange Jahre; eine höchst dramatische Szene!«

Noch ein Händedruck, und wir gingen.

»Ob wir uns wohl noch einmal sehen?« fragte ich.

»O freilich, ganz sicher, in Petersburg am Tage des Triumphes der sozialen Revolution!« rief eine der Damen.

Die Hoffnung war leider eitel. Natalie Armfeld ist 1887 in Kara gestorben, Raisa Pribyljeff (sie heiratete später den Verbannten Totscheff) weilt auch nicht mehr unter den Lebenden, nur Kostjiwin lebt noch in Tobolsk, aber unsere Wege haben sich seither nicht mehr gekreuzt.

*

Man führte uns in die Wachtstube, die sich in der Nähe des Gefängnisses befand. Die Wache meldete unsere Ankunft, und sofort erschien in Begleitung einiger Gendarmerieunteroffiziere der Gefängnisverwalter, Kosakenoffizier Bolschakoff, den wir bereits aus den Erzählungen unserer Genossen als anständigen und humanen Menschen kannten.

Wir sowohl als unsere Sachen wurden sorgfältig revidiert. Von unseren Kleidern wurde uns nur die warme Leibwäsche gelassen, alles andere mußte zum Teil ins Zeughaus, zum Teil wurde es zurückbehalten, bis der Kommandant Nikolin entschied, ob wir es behalten dürften.

»Die Fesseln brauchen Sie nicht anzulegen,« erklärte uns Wachtmeister Golubzoff, »das ist hier nicht nötig.«

Es war unterdessen Abend geworden, bis wir endlich fertig waren und in Begleitung von Gendarmen nach dem Gefängnis geführt wurden.

Seit meiner Verhaftung in Freiburg waren zweiundzwanzig Monate vergangen; ich hatte seither über hundert verschiedene Gefängnisse besucht und war gegen 12 000 Werst gereist.

»Wache heraus!« schrie unser Begleiter. Ein Schloß flog krachend zurück; wir überschritten die Schwelle unseres Kerkers.


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