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X
Ein tapferer Offizier. – Mein Militärdienst. – Das Gericht. Abermaliges Verhör.

An einem der ersten Tage meiner Einkerkerung in Odessa hatte ich ein kleines Rencontre: Ich wanderte in der Zelle auf und ab, als ich plötzlich überlautes Gespräch an der Tür hörte; ich ging hin und schaute durch das Guckloch. Es war der Offizier du jour, der die Schildwache inspizierte und einen Soldaten abzukanzeln schien.

Ich wollte mich wieder zurückziehen, als draußen die Worte »Schere dich fort, Halunke!« gerufen wurden. Ich wußte nicht gleich, wem das galt, und merkte erst nachträglich, daß der Offizier mich damit meinte. Eine derartige Behandlung versetzte mich vor allem in Staunen, denn die Offiziere pflegten, zu jener Zeit wenigstens, die politischen Gefangenen höflich zu behandeln. Ich trat deshalb von der Tür zurück, ohne ein Wort zu sagen, beschloß aber, dem Offizier eine kleine Lektion zu erteilen. Als daher am Abend der Vertreter des Gefängnisverwalters in Begleitung des Offiziers in meiner Zelle zum Appell erschien, tat ich, als ob ich diesen nicht bemerkte, und fragte den Beamten, ob es den Gefangenen verboten sei, durch das Guckloch zu schauen?

»Nein, natürlich nicht!« meinte der Mann, dem meine Frage sonderbar vorkommen mochte. »Das kann man ja gar nicht verbieten!«

»So! Dann sagen Sie, bitte, darf der Offizier einen Gefangenen beschimpfen einzig deshalb, weil dieser an der Türe stand?«

»Gewiß nicht!«

Ich erzählte dem Beamten, was geschehen war, und forderte ihn auf, mir am nächsten Morgen schriftlich die Personalien des Offiziers mitzuteilen, der den Dienst ausübte, damit ich wisse, wohin ich eine Beschwerde gegen ihn zu richten hätte.

Am nächsten Morgen erzählte mir mein Gendarm, daß der vorlaute Leutnant in der Nacht wiederholt dagewesen sei, um den Gendarmen und den Polizisten zu instruieren, was sie auszusagen hätten, wenn eine Untersuchung stattfinden würde. Der Mann schien also nicht viel Angst bekommen zu haben und mußte selbst vor seinen Untergebenen sich erniedrigen, um die Affäre zu seinen Gunsten zu wenden. Er tat mir jetzt leid. Wahrscheinlich hatte er mich für einen ganz gefährlichen Schwerverbrecher gehalten – warum hätte man mich denn sonst so scharf überwacht! –, und da wollte denn der jugendliche Krieger seine Courage zeigen, indem er den gefährlichen Menschen anschnauzte, wobei allerdings dieser hinter Schloß und Riegel saß. Die Unruhe die ich ihm eingejagt, schien mir schließlich Strafe genug, und ich zerriß die Beschwerdeschrift, die ich aufgesetzt hatte.

*

Die Untersuchung ging unterdessen ihren Gang. Mitte September las mir der Untersuchungsrichter ein Schriftstück vor, welches das Resultat seiner Mühen war: Auf Grund der und der Paragraphen der Prozeßordnung, hieß es darin, übergebe er die Sache dem Staatsanwalt beim Militärgericht. Ich erhob sofort Protest hiergegen, indem ich mich auf die Auslieferungsbedingungen berief, wonach man mich nur vor ein »ordentliches Gericht«, nicht vor ein Ausnahmegericht und auch nicht vor ein Militärgericht stellen durfte. Darauf zeigte mir der Untersuchungsrichter ein Schriftstück, worin ihn das Justizministerium anwies, er habe nach Beendigung der Untersuchung gemäß den und den Paragraphen zu verfahren, diese aber besagten, daß Verbrechen, die von Angehörigen des Heeres begangen sind, vor ein Militärgericht gehören.

»Da Sie zur Zeit des Verbrechens, das Ihnen zur Last gelegt wird, dem Heere einverleibt waren, so müssen Sie von einem Militärgerichtshof abgeurteilt werden,« erklärte mir der Untersuchungsrichter. Um dem Leser klar zu machen, was es mit meiner militärischen Laufbahn auf sich hatte, muß ich mit einigen Worten auf meine Jugendjahre zurückgreifen.

Dem Zeitgeist folgend, hatte ich den Bauernkittel angezogen und war »ins Volk« gegangen. Im Herbst 1875 kehrte ich enttäuscht von meiner propagandistischen Tätigkeit nach Hause zurück. Wie so viele Jünglinge jener Zeit, empfand auch ich einen ungestümen Drang in mir, die jugendliche Kraft gärte, ich sehnte mich nach großen Taten, aber was ich mit mir selbst anfangen sollte, darüber hatte ich damals noch keine Klarheit gewonnen. Als ich von meiner Fahrt zurückkehrte, fand ich fast niemand von den Kameraden in Kiew vor: zum Teil waren sie verhaftet, zum Teil in alle Winde zerstreut. Es war damals der Aufstand in Bosnien und Herzegowina ausgebrochen, und eine Anzahl Jünglinge, unter denen sich viele Sozialisten befanden, war zu den Freischaren gestoßen, und so fand ich eine recht kriegerische Stimmung vor. Der Befreiungskampf auf der Balkanhalbinsel bildete das Tagesgespräch. Diese Strömung riß den zwanzigjährigen Jüngling fort, und ich war bereit, in den Krieg zu ziehen, um für die Befreiung der unterdrückten Völker vom Türkenjoche zu kämpfen. Aber – ich kam zu spät. Die Wogen gingen bereits zurück; die Freischärler schrieben vom Kriegsschauplatz Briefe, die durchaus entmutigend waren. Die Zustände waren derart, daß die jungen Leute, die zum weitaus größten Teile den Strapazen des Guerillakriegs nicht gewachsen waren, den Kämpfern nichts nützen konnten, sondern im Gegenteil ein Hemmnis für sie waren. Daher rieten unsere Freunde auch dringend ab, ihrem Beispiel zu folgen. Ich mußte also meinen Plan aufgeben. Da ich nun aber einmal in kriegerischer Stimmung war und auch nichts Rechtes mit meiner Zeit anzufangen wußte, beschloß ich, meiner Militärpflicht als Freiwilliger nachzukommen, obgleich es damit noch ein Jahr Zeit gehabt hätte. Freilich spielte dabei auch die Erwägung eine Rolle, daß man als Soldat im Heere Propaganda treiben könne, und schließlich schien mir die Erwerbung militärischer Kenntnisse ebenfalls von Wert. Dabei hatte ich nach den damals geltenden Bedingungen als Freiwilliger der zweiten Kategorie nur ein halbes Jahr zu dienen. So kam es denn, daß ich Ende Oktober 1875 Soldat im 130. Infanterieregiment in Kiew wurde. Aber bereits zwei Monate darauf habe ich den Dienst wieder verlassen.

Im Gefängnis zu Kiew war zu jener Zeit einer meiner Freunde eingesperrt, der Student Semen Lurje, der in den »Prozeß der 193« verwickelt war. Dieser Prozeß wurde im Winter 1877 vor einem besonderen Senatsgerichtshof in Petersburg verhandelt. Der damals in Kiew allmächtige Gendarmerieoffizier Adjutant Baron Heyking hatte von den Eltern Lurjes große Summen »geliehen«, und diesem Umstand war es zu verdanken, daß der Gefangene leicht fliehen konnte. Bei dieser Flucht hatte ich einige Hilfe geleistet, und deshalb wurde eines Tages in meiner Abwesenheit von Gendarmen Haussuchung bei mir gehalten. Meine Verhaftung schien also bevorzustehen, und als Soldat wäre ich vor ein Kriegsgericht gestellt worden, was zu jener Zeit der grausamen Urteile mein Schicksal besiegelt hätte; daher beschloß ich, mich zu verbergen, bis die Pläne der Gendarmerie klar würden. Es zeigte sich jedoch schon nach ein paar Tagen, daß Baron Heyking, der in erster Linie Schuld an der Flucht Lurjes hatte, weil er dem Gefangenen verschiedene Begünstigungen gewährte, bestrebt war, die ganze Affäre zu vertuschen. Deshalb schien mir das einfachste zu sein, mich wieder zum Dienste zu melden, wo man mich für unbefugtes Verlassen des Dienstes während fünf Tagen disziplinarisch bestrafen würde, was jedenfalls nicht schlimm werden konnte. Es kam jedoch anders.

Befehlshaber der 33. Division, zu der das Regiment gehörte, war damals Wannowski, der spätere Kriegs- und dann Kultusminister. Die Freiwilligen konnte er überhaupt nicht leiden, und ich, der gar keine Neigung zur Subordination und Disziplin bezeugte, war besonders schlecht bei ihm angeschrieben. Das Unglück wollte, daß gerade bei meiner Abwesenheit der Kommandeur die Freiwilligen unseres Bataillons zu sich befohlen hatte. Als ich mich nun meldete, wurde ich zu ihm geführt, und er schickte mich kurzerhand auf die Hauptwache und ließ mich vor Gericht stellen. So war ich denn doch der »Fahnenflucht« angeklagt, und obendrein zog ich mir noch einen Prozeß wegen Beleidigung eines Offiziers im Dienste zu, weil ich es mir verbat, daß der Offizier auf der Wache mich duzte und grob behandelte. Jetzt konnte die Sache freilich schlimm werden, und Flucht war die einzige Rettung. Unter Beihilfe zweier Kameraden, die mir Zivilkleider in das Badehaus brachten, gelang es mir denn auch – im Februar 1876 – zu entkommen. Ich kleidete mich um und ging an der Schildwache, die an der Tür des Badehauses stand, vorbei.

Seit dieser Zeit bis zum Herbst 1877 war ich, wie gesagt, in Freiheit als »Illegaler«.

*

Gegen den Beschluß des Untersuchungsrichters, mich vor ein Militärgericht zu stellen, reichte ich zwei Proteste ein: an den Präsidenten des Kriegsgerichtes in Odessa und an den Justizminister Nabokoff. Unter Berufung auf das Zeugnis des Staatanwaltes am Petersburger Gerichtshof, Bogdanowitsch, wies ich nach, daß die badische Regierung mich unter der Bedingung ausgeliefert habe, daß ich vor ein »ordentliches« Gericht, also vor ein Zivil- und nicht Militärgericht, gestellt werde. Ein Militärgericht mußte auch wegen Fahnenflucht und Beleidigung des Offiziers gegen mich verhandeln und sei schon aus diesem Grunde nicht zulässig, da gemäß den Auslieferungsbestimmungen einzig wegen des Attentats gegen Gorinowitsch gegen mich vorgegangen werden dürfe.

Wie vorauszusehen war, wurden meine Beschwerden ohne weiteres abgewiesen, und bald darauf wurde mir die vom Staatsanwalt des Militärgerichtes unterzeichnete Anklageschrift zugestellt; gleichzeitig wurde der Termin für die Gerichtsverhandlung vor dem Kreismilitärgericht angesetzt.

Die Anklageschrift ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, welcher Art das Gerichtsverfahren sein würde. Es wurden darin wohl die Tatsachen in bezug auf das Attentat gegen Gorinowitsch aufgezählt, aber die Motive wurden mit keinem Worte erwähnt. Natürlich hatte der Staatsanwalt nicht verfehlt, die denkbar schwersten Paragraphen des Strafgesetzbuchs herbeizuziehen. Nun steht in dem russischen Strafgesetz die höchste Strafe – lebenslängliche Zwangsarbeit – auf Vatermord und analoge Verbrechen, und richtig war auch dieser Paragraph zitiert: diese Strafe ist dann nach dem Gesetz um eine Stufe zu mildern – das heißt zwanzigjährige Zwangsarbeit –, wenn selbst gegen den Willen des Täters es bei dem Versuche blieb, das Opfer also nicht getötet wurde; außerdem ist die Strafe um ein Drittel zu mildern, wenn der Täter zurzeit des Verbrechens nicht volljährig war. Demgemäß beantragte der Staatsanwalt gegen mich dreizehn Jahre vier Monate Zwangsarbeit. Das war das Maximum, zu dem er auf gesetzlicher Grundlage gelangen konnte, wenn die Auslieferungsbedingungen eingehalten werden sollten. Es konnte zwar noch das Manifest in Betracht kommen, das bei der Thronbesteigung Alexander III. erlassen wurde, wonach es dem Richter anheimgestellt wurde, bei allen kriminellen Verbrechen, die vor Erlaß des Manifestes begangen waren, die Strafe herabzusetzen. Doch war natürlich kein Zweifel, daß in meinem Falle von dieser Befugnis kein Gebrauch gemacht werden würde. Überhaupt betrachtete ich die Gerichtsverhandlung als eine Formalität, der nicht die mindeste Bedeutung zukam. Deshalb lehnte ich auch den Verteidiger, den man mir bestimmt hatte, irgend einen Kandidaten auf einen Militärgerichtsposten, ohne weiteres ab und bereitete mich darauf vor, die unsäglich peinliche Prozedur über mich ergehen zu lassen.

Der Tag der Verhandlung kam. Ein großer Kastenwagen mit vergitterten Fenstern rollte in den Gefängnishof. Ich wurde hineingesetzt, neben mir nahm ein Polizeiwachtmeister Platz, worauf die Tür von außen mit einem gewaltigen Schloß gesperrt wurde. Der Gendarm, der meine Leibwache während der ganzen Zeit gebildet hatte, bestieg den Kutscherbock, eine ganze Kompagnie Infanteriesoldaten nahm den Wagen in die Mitte, und schließlich umzingelten uns noch Kosaken zu Pferde; im Vortrab dieser Prozession fuhr der Polizeimeister, und die Nachhut bildete ein Polizeikommissär. Man konnte glauben, es handle sich um den Transport von mindestens einem Dutzend Räuberhauptmänner, von denen jeder es mit einer Kriegsmacht aufnehme. Als wir im Schritte die Straßen von Odessa durchzogen, erregte der ungewöhnliche Vorgang die Aufmerksamkeit des ganzen Publikums, überall sah ich Menschen an den Fenstern sich drängen. Ich saß unterdessen im Wagen und plauderte ganz gemütlich mit dem Polizeiwachtmeister. Es stellte sich nämlich heraus, daß der Mann vor zwanzig Jahren in Kiew Schutzmann gewesen war und unsere Familie kannte.

»Wer hätte wohl gedacht, daß ich jenen kleinen Deutsch, den ich damals gesehen hatte, in dieser Weise vor Gericht führen würde!« Er begann alte Erinnerungen an jene Zeit auszukramen, plauderte über meinen Vater und unser Haus.

Meine Gedanken schweiften in die Ferne, Bilder aus der Kindheit stiegen vor meinen Augen auf ...

Der Gerichtssaal war von einem sorgfältig durchgesiebten Publikum besetzt: Offiziere mit ihren Damen, Justizbeamte und sonstige Vertreter der Beamtenwelt. Das Zeugenverhör bot nicht das geringste Interesse; die meisten geladenen Zeugen waren überhaupt nicht erschienen, sie waren gestorben oder nicht aufzufinden; die wenigen, die sich gestellt hatten, machten unsichere Angaben, da sie nach acht Jahren, die seither verstrichen waren, sich an nichts mehr erinnern konnten, und einige verweigerten sogar aus diesem Grunde die Aussage. Der Hauptzeuge Gorinowitsch war ebenfalls aus irgendeinem Grunde nicht erschienen, doch wurden seine Aussagen verlesen. Ich meinerseits hatte auf Entlastungszeugen verzichtet, wie ich überhaupt nur geringen Anteil an der Verhandlung nahm. Doch fühlte ich mich erregt; das viele, zum Teil mir wohl feindlich gesinnte Publikum, das mich angaffte, wirkte auf mich ein. Ich suchte nach einem bekannten Gesicht unter der Menge, fand aber keins, außer dem Staatsanwalt, der die Untersuchung geleitet hatte.

Nach dem Zeugenverhör nahm der Staatsanwalt das Wort. Seine Rede war eine wörtliche Wiedergabe der Anklageschrift. Mich interessierte dabei nur, welche Motive er nennen würde. Da weder von einem »selbstsüchtigen Zwecke« noch von »persönlichem Hasse« und »Feindschaft« gegen Gorinowitsch meinerseits die Rede sein konnte, so nannte er als Motiv »Rache«. Aber natürlich hütete er sich, die Ursache dieser Rache zu nennen, weil er das Wort »politische Rache« nicht aussprechen durfte. Der Befehl, den politischen Charakter des Prozesses unbedingt zu verschweigen, führte eben zu ganz unhaltbaren Dingen. Der Staatsanwalt teilte mit, ich sei im Jahre 1877 verhaftet worden, hätte die und die Aussagen in der vorliegenden Sache gemacht, und erklärte dann, ich hätte mich »dem Gericht entzogen«. Wiederum durfte er nicht sagen, daß ich aus dem Kiewer Gefängnis geflohen war. Noch komischer klang es, als er erwähnte, ich hätte mich »dem Militärdienst entzogen«. Meine Verteidigungsrede begann ich mit der Erklärung, es liege mir durchaus fern, eine Milderung des Urteils herbeiführen zu wollen. Das gehe schon daraus hervor, daß ich die Absicht, den Gorinowitsch zu töten, nicht ableugne, während für den Beweis dieses Umstandes nur mein eigenes Geständnis vorliege. Schwere Körperverletzung, ohne die Absicht zu töten, wird nach dem russischen Gesetz mit vier bis sechs Jahren Zwangsarbeit bestraft, und auch hier tritt Herabminderung um ein Drittel ein, wenn der Täter nicht majorenn ist. Ich nahm das Urteil von vornherein auf mich und hatte nur den Wunsch, die Tat wahrheitsgemäß zu schildern, sie im richtigen Lichte erscheinen zu lassen. Daher beabsichtigte ich dem Gericht klarzulegen, auf welche Weise ich und meine Genossen zu dem Entschluß gekommen waren, Gorinowitsch zu töten. Kaum aber hatte ich die Worte »in Elisawetgrad war ein Zirkel entstanden« ausgesprochen, als mir der Vorsitzende General Grodekoff mit der Bemerkung ins Wort fiel, in Anbetracht der Umstände, unter denen der Prozeß stattfinde, hätte ich mich jeder Äußerung über Dinge, die mit politischen Verbrechen im Zusammenhang stehen, zu enthalten.

Natürlich war unter solchen Bedingungen eine wahrheitsgemäße Charakterisierung der Sache nicht möglich, ja selbst eine einfache Darstellung der Tatsachen war ausgeschlossen. Ich sagte zum Beispiel: »Als Gorinowitsch im Gefängnis zu Kiew saß ...,« sofort aber sprang der Vorsitzende auf und forderte, ich solle nicht darüber sprechen. Ich wußte tatsächlich nicht, wie ich es anstellen sollte, um die einfachsten Dinge zu sagen. Obwohl ich mich bemühte, weder Namen, noch Orte, noch politische Verhältnisse irgendwie zu erwähnen, wurde ich fortwährend vom Vorsitzenden unterbrochen und selbst mit Wortentziehung und Hinausweisung aus dem Gerichtssaal bedroht. Ich kam daher bald zum Schlusse dieser eigenartigen Verteidigungsrede, in der ich mich nicht nur nicht verteidigen, sondern nicht einmal nackte Tatsachen mitteilen durfte. Und trotzdem trieb der Staatsanwalt die Komödie so weit, sich über meine Verteidigung zu entrüsten und mir mit großem Eifer Widersprüche vorzuhalten, deren ich mich angeblich schuldig gemacht hätte. Ich gab ihm kurz Antwort und verzichtete auf ein Schlußwort.

Die Beratung des Gerichtshofs dauerte nicht lange, und das Urteil lautete natürlich gemäß dem Antrag des Staatsanwalts, nämlich dreizehn Jahre vier Monate Zwangsarbeit.

Als ich dann im gleichen Aufzug den Weg zum Gefängnis zurücklegte, fühlte ich mich gewissermaßen erleichtert, als wenn mir eine Last von den Schultern genommen wäre, obwohl ich von vornherein ein solches Urteil erwartet hatte. Es war doch endlich alles entschieden, klar und bestimmt; die Ungewißheit ist eben, wie gesagt, die schlimmste Pein für einen Gefangenen. Jetzt blieb mir noch die Entscheidung abzuwarten, wohin man mich schaffen werde.

Da ich als Kriminalverbrecher verurteilt war, konnte man mich nach Kara in Sibirien senden, wo ich einige alte Freunde und Bekannte von mir wußte, und wo das Kerkerleben noch am erträglichsten im Vergleich zu anderen Deportationsorten war. Oder man konnte mich auf die Insel Sachalin schaffen, wo die Zustände, wie in ganz Rußland bekannt, furchtbare waren. Aber am meisten schreckte mich der Gedanke, die Regierung könne, um die Strafe zu verschärfen, die nach ihrem Dafürhalten zu gering war, weil man sich an die Auslieferungsbedingungen halten mußte, mich in der Schlüsselburger Feste lebendig begraben. Dort war gerade zu jener Zeit der Bau eines Kerkers vollendet worden, und man erzählte allgemein, daß in diesem Kerker ein geradezu mörderisches Regime herrschen würde, weil man die gefährlichsten Staatsverbrecher dort hinschaffen wolle.

Eine Woche nach der Gerichtsverhandlung kam der Vorsitzende des Militärgerichts, um mir das Urteil in endgültiger Form zu verkünden. Ich wurde in die Kanzlei geführt, wo General Grodekoff hinter einem breiten und langen Tische Platz genommen hatte, so daß er ziemlich weit von mir entfernt stand; trotzdem befahl er, daß die Schildwache mit aufgepflanztem Bajonett sich zwischen ihn und mich stelle; der Mann schien wirklich noch einen Überfall zu befürchten. Dieses Übermaß von Vorsicht bei einem Militär schien selbst meinen Wächtern zu mißfallen.

»Schau, was der für Furcht hat!« hörte ich jemand von ihnen sagen, als wir in die Zelle zurückmarschierten. Mich amüsierte der Vorgang höchlich, und in der Tat habe ich später niemals wieder beobachtet, daß selbst Zivilbeamte so große »Vorsicht« beobachteten, auch wenn sie es mit den verwegensten Sträflingen zu tun hatten.

*

Obwohl das Gerichtsverfahren gegen mich geschlossen war, wurde ich noch verschiedentlich verhört, jedoch sollte ich jetzt die Rolle eines Zeugen spielen. Zuerst erschien eines Tages ein Gendarmeriekapitän in Begleitung eines Staatsanwalts. Dieser stellte mir folgende Zumutung:

»Man hat in Freiburg einen Brief bei Ihnen gefunden, in welchem eine Adresse angegeben war. Unter dieser Adresse sollten Sie die Absendung von Büchern avisieren. Können Sie uns mitteilen, um was für Bücher es sich handelt und wer der Schreiber dieses Briefes ist?«

Ich erwiderte, daß ich jede Aussage darüber verweigere.

»Bedenken Sie,« meinte der Justizbeamte, »daß infolge jener Adresse eine Anzahl Personen in Wilna verhaftet worden sind. Wenn Sie uns also den wirklichen Verfasser des Briefes nennen, so können jene Personen in Freiheit gesetzt werden.«

Ich kannte diese Finte genau und erwiderte daher sehr ruhig:

»Nach Ihrem Dafürhalten scheint es erlaubt, bei einer Inquisition die Namen derer, mit denen man Briefe tauschte, preiszugeben. Ich halte es damit anders.«

Der junge Herr wurde sehr verlegen und beeilte sich, das Verhör zu schließen.

Jedenfalls haben also in der Tat die Freiburger Behörden sich dazu hergegeben, meine Papiere der russischen Regierung auszuliefern, und auf diese Weise Personen, die durchaus unschuldig waren, der russischen Geheimpolizei denunziert. Diesen Übereifer hätte man sich wirklich sparen können. Ich selbst hatte leider vergessen, die Adresse zu vernichten, als ich mit Professor Thun die Papiere sichtete.

Ein andermal verhörte mich ein Untersuchungsrichter. Er zeigte mir ein Schreiben aus dem Justizministerium, in welchem er beauftragt wurde, mich als Zeugen über die Vorgänge bei der Ermordung des Generals Mesenzeff zu verhören. Darauf verlas er mir die Aussagen eines gewissen Goldenberg.

Danach sollte ich bei einem Spaziergange über den Pferdemarkt in Charkow Goldenberg gegenüber erwähnt haben, es sei S. Krawtschinski gewesen, der den Chef der Gendarmerie erdolcht habe.

Ich erinnerte mich nun genau, daß ich in der Tat einmal mit Goldenberg über jenen Platz gegangen war, und daß er mir erzählt habe, wie er hier den Gouverneur von Charkow, Fürst Krapotkin, umgebracht habe; ob ich mich damals über die Rolle Krawtschinskis bei dem Attentat gegen Mesenzeff geäußert hätte, wußte ich nicht genau. – Mir schoß sofort der Gedanke durch den Kopf, man hätte Krawtschinski auf ähnliche Weise wie mich selbst im Auslande verhaftet, und die russische Regierung wolle seine Auslieferung herbeiführen; die Aussage Goldenbergs, der nur die Worte eines anderen wiederholte, genügte hierzu wohl nicht, und deshalb verlange man mein Zeugnis. Daher hielt ich es für richtig, diesmal eine Aussage zu machen, jedoch so, daß sie das Zeugnis Goldenbergs gegenstandslos machen mußte. Ich erzählte also, ich hätte zwar mit diesem tatsächlich über das Attentat gesprochen, hätte aber dabei nur Gerüchte erwähnt, welche bald Krawtschinski, bald mich selbst als den Täter bezeichneten. Zum Glück waren meine Befürchtungen falsch: Krawtschinski war damals bereits in London und außer Gefahr.


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