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XVI
Reisevorbereitungen. – Flußfahrt auf der Wolga und Kama. In Jekaterinburg. – Auf der Troika. – »hie Europa – hie Asien.«

Der Frühling 1885 kam, und wir trafen Vorbereitungen für die weite Reise. Gleich tauchte eine äußerst wichtige Frage auf: Wieviel Gepäck darf mitgenommen werden? Nach der Vorschrift dürfen die »aller Rechte baren« nicht mehr als fünfundzwanzig Pfund mitführen, und so viel wiegt allein die »Ausrüstung«, die vom Fiskus gestellt wird, wir hätten also verzichten müssen, irgend etwas von unseren eigenen Sachen mitzunehmen, insbesondere die Bücher hätten wir entbehren müssen. Das wäre ein schwerer Schlag gewesen, besonders da unsere Bibliothek im Moskauer Gefängnis ziemlich angewachsen war; so hatte uns Graf Tolstoi ein Exemplar seiner gesamten Werke in zwölf Bänden geschickt und ein Exemplar der Geschichte Rußlands in neunundzwanzig Bänden. Zum Glück entschied die Verwaltung, daß das Gesamtgewicht des Gepäcks nach der Zahl aller Deportierten in der Partie bestimmt werden soll, und da die administrativ Verschickten pro Kopf fünf Pud führen dürfen und viele von ihnen wenig Sachen besaßen, so durften wir unsere Bücher mitnehmen.

Natürlich konnte keine Rede davon sein, daß unter diesen Büchern verbotene sich befanden, da sie ja alle die Hände der Gefängnisbeamten passierten, trotzdem wurden sie noch einmal einer Prüfung unterzogen, und bei dieser Gelegenheit hatte der betreffende Zensor die Möglichkeit, sich in unseren Augen bis auf die Knochen zu blamieren. Es war dies ein höherer Beamter, der die juristische Fakultät in Moskau absolviert hatte. Unser Freund Rubinok wandte sich an ihn mit der Frage, ob er das »Kapital« von Karl Marx mitnehmen dürfe?

»Ja, wie können Sie denn fremdes Kapital mitnehmen?« fragte der Beamte, den wir Herr G. nennen, erstaunt.

»Nicht doch» es ist mein Eigentum,« antwortete Rubinok.

»Wenn es Ihr eigenes Kapital ist, so können Sie es natürlich mitnehmen, nur müssen Sie es wie alle Barschaft dem Offizier des Convoi übergeben.«

Wir hatten Mühe, unsere Heiterkeitsausbrüche zurückzuhalten, als wir merkten, daß dieser Herr mit Hochschulbildung, zu dessen speziellen Obliegenheiten die Prüfung von Büchern gehörte, keine Ahnung von der Existenz eines Werkes mit dem Titel »Das Kapital« hatte, und glaubte, daß wir Karl Marx Barschaft nach Sibirien schleppen wollten.

Als die Zeit der Abreise kam, wurde erörtert, ob wir nicht dem alten Kapitän ein wertvolles Andenken stiften sollten. Er erfuhr zufällig davon und ersuchte uns ernstlich, von dem Plane abzustehen; wir dürften uns seinetwegen nicht in Unkosten stürzen, da wir das Wenige, was wir besitzen, sehr notwendig auf der Reise brauchen würden. Ich weiß nicht mehr genau, ob schließlich ein Geschenk angeschafft wurde oder nicht. Jedenfalls war der alte Herr eine Ausnahme. Unter den vielen Gefängnisverwaltern, die ich kennen lernte, war außer ihm nur einer, dem die politischen Gefangenen ihre Dankbarkeit in solcher Weise bezeugt haben. Allerdings kam es dann in letzter Stunde noch zu einem traurigen Vorfall, der uns zwang, die gute Meinung, die wir von Kapitän Maltschinski hatten, zu ändern und der ihm unseren Haß und Groll zuzog.

Wir waren die ganze Zeit in Moskau mit der Verwaltung friedlich ausgekommen; während der ganzen acht Monate war es zu keinerlei heftigen Auftritten gekommen, zumal die eigenmächtige Lösung der Fesseln und unser Protest gegen das Rasieren stillschweigend hingenommen wurden. Aber diese beiden Dinge sollten schließlich noch zu einem Zusammenstoß am Tage der Abreise führen. Es wurde uns nämlich erklärt, daß wir uns jetzt neuerdings der barbarischen Prozedur des Anschmiedens der Fesseln und des Rasierens der Kopfhälfte unterwerfen müßten, weil angeblich der Offizier des Convoi darauf bestände. Rundweg weigerten wir uns dessen, und die administrativ Verschickten, die persönlich von dieser Prozedur verschont blieben, erklärten sich insgesamt solidarisch mit unserem Protest.

Die Stunde der Übergabe der Partie kam. Wir beschlossen, auf keinen Fall einzeln in die Kanzlei zur Einschreibung zu gehen, sondern zusammenzubleiben. Die Beamten sahen sofort, daß ein Versuch, Gewalt anzuwenden, zu einem eklatanten Skandal, zur Meuterei führen würde, und beschlossen, uns zu überlisten. Man tat, als gebe man die barbarische Prozedur auf, und wir wurden dem Offizier des Convoi übergeben. Die »Partie« war nahezu reisefertig, als uns plötzlich erklärt wurde, wir könnten, wenn wir wünschen, ein ärztliches Attest erhalten, kraft dessen wir per Wagen befördert würden, während nach der Vorschrift die zu Zwangsarbeit Verurteilten den Weg durch Sibirien zu Fuß zu machen haben. Alle drei erklärten wir uns bereit, ein solches Attest uns ausstellen zu lassen. Kaum hatten wir uns aber von unseren Kameraden getrennt, als ein Haufen Schließer, die man hinter der Tür in Bereitschaft gehalten hatte, uns umzingelte. Wir sahen, daß man uns eine Falle gestellt hatte, und waren entschlossen, uns nach Kräften zu wehren. Wir klammerten uns fest, wo wir konnten, und schlugen mit Fäusten und Füßen auf die Schließer ein, die uns fortzerren wollten. Natürlich behielten sie schließlich die Oberhand, wir wurden fortgeschleppt, mit Gewalt auf einen Schemel gesetzt und festgehalten, bis der Bader uns die eine Hälfte des Haupthaares wegrasiert und der Schmied die Fesseln zusammengenietet hatte. Kapitän Maltschinski stand dabei und erteilte die Befehle. Das genügte, um unsere Sympathie für den alten Herrn zu vernichten, und unser Abschied von ihm war denn auch mehr als kühl.

*

Ein wundervoller Tag war es, als wir unsere Reise antraten. Es war Mitte Mai, und der Frühling hielt seinen Einzug in Moskau. Die Sonne schien hell und warm; Frühlingsluft ringsum. Unsere Stimmung aber war durchaus nicht im Einklang mit dieser Lenzesfreude. Die meisten von uns zogen es vor, den Weg zum Bahnhof zu Fuß zurückzulegen, und unsere »Partie« bot einen recht sonderbaren Anblick: Sträflinge mit Ketten an den Füßen, in grauen Kitteln und dem ominösen Viereck auf dem Rücken marschierten neben Frauen und Männern in bürgerlicher Kleidung. Die meisten von uns waren ganz junge Leute, nur wenige schon bejahrt. Von den zwölf Frauen, die zu uns gehörten, folgten drei aus freiem Willen ihren Gatten nach Sibirien.

Die Szene der gewaltsamen Fesselung hatte uns alle niedergedrückt, und schweigend zogen wir durch die einsamen Straßen von Moskau, wo die wenigen Passanten stehen blieben und die Leute aus den Fenstern der Häuser uns nachblickten. Auch auf dem Bahnhof, den wir nach kurzer Wanderung erreichten, war es menschenleer; einige Gendarmen, Gefängniswächter, Packträger, sonst niemand auf dem Perron. Die Polizei hatte den Bahnhof abgesperrt und ließ niemand, der nicht einen speziellen Schein vorweisen konnte, an den besonders für uns bestimmten Zug heran.

Als wir »Politischen« in dem uns angewiesenen Wagen Platz genommen hatten, kamen noch etliche Personen, Verwandte der Gefangenen, um Abschied zu nehmen. Die Gendarmen ließen sie jedoch nicht nahe an die Wagen treten, und wir mußten uns von ferne die Abschiedsgrüße zurufen.

»Lebt wohl! Seid glücklich! Vergeßt unser nicht!« erscholl es aus den vergitterten Fenstern.

»Laßt den Mut nicht sinken! Auf baldiges Wiedersehen!« tönte es zurück.

»Singt ein Lied zum Abschied!« riefen die Freunde, und Kameraden, die bereits im Gefängnis einen Gesangschor gebildet hatten, stimmten das kleinrussische Lied vom »Fährmann« an. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung, und die Klänge des ergreifenden, wunderbar schönen Liedes schwebten harmonisch dahin. Die Freunde da draußen und auch manche von uns konnten ihrer Tränen nicht Herr werden, und bald hörte man lautes Schluchzen, das dann vom Getöse des Eisenbahnzuges übertönt wurde ...

Lange noch blickten wir, an die Gitter gedrückt, nach Moskau hin. Jetzt hatten wir die Vorstädte hinter uns, und mit Wonne schweifte das Auge über die weiten Fluren. – Als unser Zug an der nächsten Station hielt, waren ziemlich viel Menschen dort, Bauersleute und Arbeiter. Manche von ihnen kamen ungeniert an die Gefangenenwagen und schienen etwas durch die Fenster hineinzustecken.

»Da nimm, bete zur heiligen Jungfrau,« hörte ich eine Stimme neben dem Fenster, und als ich hinblickte, gewahrte ich eine alte Bäuerin, die mir eine Kopeke entgegenstreckte.

»Ich brauche es nicht, Mütterchen, gebe dein Almosen einem anderen!« sagte ich und fühlte, wie mir das Herz warm wurde beim Anblick dieser alten gutmütigen Frau aus dem Volke. Der kleine Vorfall löste eine ganze Kette Erinnerungen in mir aus, und ich versank in Gedanken. Je weiter wir uns von Moskau entfernten, desto trauriger wurde mir zu Mute; mir war, als wenn ich in dieser Stadt viele mir nahestehende Menschen zurückließ, die ich nie Wiedersehen sollte. Ich mochte mit niemand sprechen und starrte in die Ferne. Der Schienenweg führte hier durch eine Fabrikgegend; auf den Stationen war überall viel Volk, und auch längs des Bahndammes sahen wir zahlreiche Arbeitergruppen. Die Frauen und Männer in ihren grellfarbigen Kattunkleidern blieben stehen, riefen dem vorbeisausenden Zuge laut etwas zu und machten ausdrucksvolle Gebärden. Ob diese Leute wohl wußten, daß hier politische Verbannte nach Sibirien geschafft wurden und uns ihre Sympathie kundgaben, weiß ich nicht zu sagen; vielleicht ist es hier, wo so viele Gefangene transportiert werden, Sitte geworden, dem Gefühle des Mitleids Ausdruck zu geben, das das russische Volk allgemein den »Unglückskindern« So nennt das Volk überall in Rußland und Sibirien die Gefangenen. entgegenbringt.

Am Morgen des nächsten Tages waren wir in Nischni-Nowgorod angelangt, wo wir auf den Flußbarken eingeschifft wurden, um auf der Wolga und ihrem Nebenflusse Kama nach der Stadt Perm gebracht zu werden. Unsere Partie schien auf dem Bahnhof und auf den Straßen allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen, als wir nach dem Kai wanderten. Die Ehepaare und Brautpaare gingen Arm in Arm voraus, ihnen folgten wir anderen, umzingelt von unserem Convoi.

Auf der großen Barke, die von einem Flußdampfer bugsiert wurde, waren uns zwei große Kajüten angewiesen, in denen wir uns bequem niederließen, in der einen die Männer, in der anderen die Frauen; außerdem stand uns zum gemeinsamen Aufenthalt im Freien das geräumige Deck zur Verfügung, das an den Seiten und nach oben mit einem eisernen Netz eingeschlossen war. Das Essen bereiteten wir uns selbst aus den Vorräten, die wir uns aus eigenen Mitteln anschafften, und in dieser Beziehung hatten wir, dank der Vorsorge unserer Verwandten und Freunde und dem Geschick und der Umsicht unseres Obmannes Lafareff, nicht zu klagen.

Die Flußfahrt dauerte einige Tage. Das Wetter war ununterbrochen herrlich, und wir saßen vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf dem Deck, uns an dem wunderbar schönen Bilde labend, das die Ufer des Riesen unter den europäischen Flüssen und seines gewaltigen Nebenflusses bieten. Besonders schön war es gegen Sonnenuntergang, wenn unser Gesangchor, in dem sich einige hervorragend schöne Stimmen befanden, die Lieblingslieder anstimmte. Den Kopf an das Eisennetz gelehnt, den Blick auf die endlose, in märchenhafter Farbenpracht glänzende Wasserfläche gerichtet, lauschte man den Klängen der herrlichen, meist wehmütig klagenden Lieder. Die große Barke glitt lautlos dahin, als ob sie eins wäre mit dem mächtigen Wasserstrome. Allmählich verblaßte die Farbenpracht des Sonnenuntergangs, die Sterne stiegen am wolkenlosen Himmel auf und spiegelten sich wider in der silberglitzernden Flut. Alles ringsum – der Strom, die Sterne, die Lieder – erinnerte mich an einen anderen großen Strom, an den »gewaltigen Dnjepr«, an dessen Ufern ich meine Kindheit verlebte.

*

»Woran denken Sie? Warum sind Sie so traurig?« fragte mich an einem solchen Abend eine der »Administrativen«, ein junges Mädchen von etwa zwanzig Jahren, das ich schon früher kennen gelernt hatte.

Bald waren wir in intimem, kameradschaftlichem Gespräch vertieft. Sie begriff vollauf meine Stimmung und brachte nur herzliche Teilnahme entgegen. – Es war ein sonderbares Geschöpf, von eigenartigem, wenn man will, exzentrischem Charakter und recht bedeutendem Verstande. Sie erzählte mir, auf welche Weise sie Sozialistin geworden war, und welche besonderen Umstände sie veranlaßten, sich der revolutionären Bewegung anzuschließen. – Wie so viele andere zu jener Zeit, war Anna Samoiloff – nennen wir sie so – von dem Wunsche beseelt, irgend etwas für das Volk, für die Bauern zu tun. Was und wie sie es anfangen sollte, wußte sie nicht und fand auch niemand, der ihr die Wege wies. So fing sie denn selbst an zu suchen, indem sie alles las, was ihr an entsprechenden Büchern unter die Hände kam. Später reiste sie gegen den Willen ihrer Eltern aus ihrer Heimatstadt in Südrußland nach Petersburg, wo sie Menschen zu finden hoffte, die ihr helfen würden. Während dieses Suchens, ehe sie noch irgendwie Klarheit über die Fragen, die sie quälten, gefunden hatte, wurde sie verhaftet und ging jetzt auf drei Jahre in die Verbannung nach Sibirien. – Wie Hunderte und Tausende andere, hatte dieses edelherzige Mädchen seine Kräfte aufgerieben, sein Lebensglück vernichtet ohne irgendwelchen Nutzen, ohne jemandem zu helfen, ohne Selbstbefriedigung zu finden – einfach ein Opfer der furchtbaren, menschenunwürdigen politischen Zustände unserer Heimat. In Sibirien hat sie sich später das Leben genommen.

Aus Perm wurden wir per Eisenbahn nach Jekaterinburg gebracht, wo wir nach einer mühsamen Tagesreise eintrafen. Hier wurde übernachtet, und am nächsten Tage sollte unsere »Partie«, die aus lauter »Politischen« bestand, per Achse nach der ersten Stadt in Sibirien, Tjumen, gebracht werden. Die sibirische Eisenbahn wurde damals eben erst gebaut, und die Reise, die jetzt sehr einfach vor sich geht, war von Jekaterinburg an mit allen möglichen Hindernissen verbunden.

Bei der Abfahrt hatten wir ein Rencontre mit der Behörde zu überstehen, was leicht sehr ernsthafte Folgen hätte nach sich ziehen können.

Es waren nämlich für unseren Transport eine Anzahl Dreigespanne bestimmt, die sowohl uns als unseren Convoi und das Gepäck aufnehmen sollten. Es sollten je vier Gefangene und zwei Soldaten auf jedem Wagen Einer sogenannten Kibitka, das ist ein halbverdecktes Fuhrwerk. untergebracht werden, also mit dem Kutscher sieben Personen. Die Jüngeren unter uns meinten, das wäre zu viel, und forderten von dem Offizier, Kapitän Wolkoff, der uns von Moskau und mich sogar von Kiew an begleitet hatte, er solle anordnen, daß drei oder vier Personen auf einen Wagen kommen und nur ein Soldat. Da nicht genügend Wagen vorhanden waren, schlug der Offizier das Verlangen ab, und unsere jungen Heißsporne erklärten nun rundheraus, dann würden sie nicht einsteigen, mit anderen Worten, sie wollten es auf die Anwendung von Gewalt ankommen lassen, was natürlich zu einem Tumult geführt hätte, dessen Folgen sich kaum berechnen ließen.

Der Isprawnik Polizeikommissar. erschien und erklärte, er könne auf keinen Fall mehr Fuhrwerke liefern, da die Zahl durch die Verordnung der vorgesetzten Behörde bestimmt sei. Man stritt hin und her, wobei besonders einige der jugendlichen »Administrativen« und zwei Frauen sich ereiferten. Wir Älteren dagegen hielten die Angelegenheit nicht für wichtig genug, um es auf einen Konflikt ankommen zu lassen, der möglicherweise hätte dazu führen können, daß die »Administrativen« zur Strafe nach entlegeneren Orten und für längere Zeit verschickt worden wären, während den Sträflingen Schlüsselburg in Aussicht stand.

»Ich ersuche Sie ernstlich, auf die Wagen zu steigen,« baten Wolkoff und der Kommissar.

»Nein, wir werden nicht einsteigen! Wenden Sie Gewalt an,« riefen einzelne aus unserer Mitte.

»Wir werden ein Protokoll aufnehmen, daß Sie den Gehorsam verweigern.«

»Tun Sie, was Ihnen beliebt.«

In unseren Kreisen ist es unbedingt verpönt, im Verhalten den Behörden gegenüber sich nicht solidarisch zu zeigen, worum es sich auch handeln möge. Trotzdem also im gegebenen Falle die Mehrheit keinen Anlaß zum Proteste sah, mußten sich alle dem Begehren einiger Hitzköpfe fügen. Die Situation war aufs äußerste gespannt, und der Konflikt schien unvermeidlich. Da kam es einigen von uns in den Sinn, doch erst einmal zu probieren, ob es nicht möglich sein werde, sich der Anordnung gemäß zu plazieren. Der Versuch wurde gemacht, und es zeigte sich, daß bei einigem guten Willen sieben Personen auf einem Wagen Platz finden konnten. Angesichts dieser einfachen Tatsache mußten die Protestler klein beigeben, was sie auch murrend und zankend taten. Kaum waren wir über die nächste Raststelle hinausgekommen, zeigte es sich, daß die Wagen nur noch je sechs Insassen hatten: die Soldaten zogen es nämlich vor, auf dem Bagagewagen unterzukommen, und es blieb nur einer zur Wache auf jedem Wagen. So hatten wir es bequemer, und alles löste sich friedlich.

Schon während der Fahrt auf der Wolga und Kama hatten sich Gruppen gebildet, die auf der Wagenfahrt zusammenbleiben wollten. Man war dabei auf den Gedanken gekommen, unseren Damen die Wahl der Kavaliere freizustellen. Bei den meisten von uns fand dieser Gedanke Beifall, jedoch fanden sich auch einige Gegner der »Frauenprivilegien« und auch solche, die überhaupt nicht in Damengesellschaft reisen wollten und daher sich kategorisch »außer Konkurs« erklärten. Natürlich gehörten zu diesen eingefleischten »Weiberfeinden« die Allerjüngsten.

Die Fahrt mit einem russischen Dreigespann hat, wie bekannt, einen unvergleichlichen Reiz, man fährt nicht, man fliegt, man saust dahin. Jenseits des Uralgebirges begann zu jener Zeit gerade erst der Frühling, alles keimte und sproßte, Lenzjubel ringsum. Unsere Gespanne flogen in großen Abständen auf der Landstraße, gewaltige Staubwolken aufwirbelnd, dahin. Die Kutscher trieben mit lauten Pfiffen und Rufen ihre Pferde an und ließen sie stellenweise in Galopp übergehen. Zuerst saßen wir zu viert in den Wagen: je zwei Männer und zwei Frauen. Aber bald wurde auf den Haltestellen Stellenwechsel vorgenommen, und dann saßen wohl auf der einen Kibitka fünf oder gar sechs Personen, während auf der anderen nur zwei blieben; hier gab es Scherz, Gelächter und Lieder, während dort ernste Gespräche geführt wurden, die die Wache nicht hören durfte, und manchmal wurden im Flüstertone schwerwiegende Worte gewechselt. Das Zusammensein im Kerker hatte manche einander näher gebracht, die Bande waren erstarkt während der langen Fahrt auf der Eisenbahn und auf dem Schiffe; die Fahrt auf der Kibitka förderte ebenfalls die gegenseitige Annäherung der Leidensgenossen.

Wir legten täglich zwei Stationen zurück, zu je 50 bis 60 Werst ungefähr, wobei die Pferde nur einmal gewechselt wurden; das Umspannen vollzog sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit, da die frischen Pferde in der Regel bereits angeschirrt auf die heraneilenden Gespanne warteten. Während die Kutscher ihr Geschäft besorgten, nahmen wir in aller Eile einen Imbiß, wobei wir uns bei den Hökerinnen, die sich auf dem Hofe einfanden, Proviant kauften: gesottene Eier, Milch, Butter usw. Die Etappen erreichten wir in der Regel zeitig, lange vor Eintritt der Dämmerung. Hier wurde vor allem die Mahlzeit bereitet, unser Mittag- und Abendessen gleichzeitig; das war Aufgabe des Starosten und einiger freiwilligen Gehilfen. Gewöhnlich blieben wir dann noch lange Zeit im Freien; Lieder wurden im Chor gesungen; in kleinen Gruppen und auch paarweise wurden intime Gespräche geführt, oder es gab gemeinsame, zuweilen sehr erregte Debatten.

An einem der ersten Tage unserer Reise hielten plötzlich die ersten Gespanne im freien Felde fern von der Poststation. Wir stiegen aus und standen vor einem Grenzpfahl: Es war der zur traurigen Berühmtheit gekommene, schon oft geschilderte Pfahl mit der lapidaren Aufschrift: »Europa« und »Asien«.

*

Es war Anfang Juni. Ein Jahr und drei Monate waren also seit meiner Verhaftung in Freiburg vergangen, bis ich die Grenze überschritt zwischen Europa und Sibirien.

Unwillkürlich drängen sich beim Anblick des Grenzpfahls, den Hunderte und Tausende von Menschen passiert haben, die man gewaltsam in die Verbannung geschleppt, inhaltsschwere Gedanken auf. Fünfzehn Monate hatte ich im Gefängnis zugebracht in Deutschland und Rußland. »Wieviel Jahre wird jetzt die Gefangenschaft in Sibirien für mich dauern?« fragte ich mich; werde ich wohl je diesen Grenzpfahl wiedersehen auf dem Rückwege nach Europa, oder werde ich mein Grab dort in Sibirien finden?« ...


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