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V
Nach Rußland: im Viehwagen, im Frankfurter und im Berliner Gefängnis. – Auf der Grenzstation. Über Warschau nach Petersburg.

Der Abend kam, und ich wurde in einem geschlossenen Wagen in Begleitung von zwei Polizeimännern, die man in Zivilkleider gesteckt hatte, unter allen möglichen Vorsichtsmaßregeln fortgeschafft. Der Wagen hielt an einer Rampe der Eisenbahn irgendwo fern vom Bahnhofe; dort wurde ich mit samt meinen Begleitern in einen Waggon gebracht, einen gewöhnlichen Viehwagen. Als der Waggon an den Bahnhof gebracht wurde, wo man ihn an einen Personenzug hing, bemerkte ich auf dem Perron eine auffällige Bewegung, und meine Wächter, denen es gleichfalls nicht entgangen war, flüsterten eifrig miteinander. Aus den abgerissenen Worten, die ich auffangen konnte, ersah ich, daß jemand verhaftet worden war, und dachte gleich, daß der Vorgang wohl im Zusammenhang mit meiner Person stand. – Nach vielen Jahren erfuhr ich dann, daß in der Tat damals auf dem Freiburger Bahnhof zwei meiner Kameraden verhaftet wurden, die beabsichtigten, den Zug zu benützen, um unterwegs einen Fluchtversuch meinerseits zu unterstützen. Dieser Versuch war also auch fehlgeschlagen. Die beiden Freunde wurden einige Tage in Freiburg in Haft gehalten und dann nach der Schweiz ausgewiesen.

Gegen Morgen kamen wir in Frankfurt a. M. an, wo man mich wieder in ein Gefängnis brachte.

Der Verwalter dieses Gefängnisses erwies sich als ein ungemein liebenswürdiger und dienstbereiter Herr, der aber seine sehr feinen Hintergedanken hatte. Als ich ihn fragte, ob ich an meine Verwandten in der Schweiz eine Postkarte schreiben dürfe, versicherte er mir hoch und teuer, er würde sie sofort befördern, und schaffte mir alsbald Schreibzeug herbei. Es zeigte sich später, daß er die Karte meinen Wächtern übergeben hatte zur Auslieferung an die russischen Behörden. Natürlich enthielt die Karte nichts weiter als einen Gruß an meine Freunde.Auch die Zelle, die er mir anwies, war sehr bequem und lag nach einer lebhaften Straße; aber er plazierte mir zwei Schutzleute herein, die mich unterhalten sollten. Dann erhielt ich ein sehr gutes Mittagessen, oder wenigstens schien es mir gut, weil ich in den letzten Tagen infolge der Aufregung nichts gegessen hatte. – Da ich voraussah, daß die Reise sehr lange dauern werde, wollte ich mir einige Bücher besorgen, und der dienstbereite Herr erbot sich sofort, sie bei einem Antiquar zu kaufen, damit es billiger wäre. Ich erinnere mich, daß ich ein paar deutsche und französische Klassiker wählte, und er verschaffte mir die Werke richtig zu einem, wie mir schien, recht billigen Preise. Schließlich schlug er mir vor, mit ihm einen Spaziergang im Hofe zu machen. Als wir allein waren, begann er weitschweifig über seine Verhältnisse zu plaudern und versuchte dann in recht plumper Weise mich auszufragen, ob ich nicht etwa der berühmte Degajeff sei? Ich mußte herzlich lachen, und die eifrige Freundlichkeit und Dienstbarkeit dieses Biedermannes, der sein Interesse hübsch wahrzunehmen verstand, erschien mir jetzt in ganz anderem Lichte. Abgesehen davon, daß ihm, wie mir später die in meiner Zelle mich bewachenden Schutzleute erzählten, sowohl der Einkauf der Bücher als auch das gelieferte Essen einen netten Profit abgeworfen hatten, ging er darauf aus, eine Belohnung zu ergattern, wenn er mir das Geständnis entlockte, daß ich Degajeff sei. Es handelte sich nämlich darum, daß für die Ergreifung dieses Mannes die russische Regierung eine hohe Prämie – zehntausend Rubel – ausgesetzt hatte, und der Name war damals in allen europäischen Zeitungen zu finden Degajeff, ein gewisser Artilleriekapitän, war ein hervorragendes Mitglied der »Narodnaja Wolja«. Anfangs der achtziger Jahre verhaftet, wurde er bald zum Verräter und lieferte viele seiner ehemaligen Genossen aus. Auf diese Weise erzielte er nicht nur seine Befreiung, sondern erwarb auch das Vertrauen des damals berühmten und berüchtigten Oberhäschers, des Kommandanten der Petersburger »Schutztruppe«, des Obersten Ssudjeikin. Gewissensbisse oder auch die Furcht vor der Rache der Revolutionäre veranlaßten ihn jedoch, im Jahre 1883 diesen gegenüber ein vollständiges Geständnis abzulegen, und zur Sühne erbot er sich, ihnen beizustehen, um Ssudjeikin umzubringen. Diesem war schwer beizukommen, weil er ungemein geschickt und vorsichtig war; dabei hatte noch keiner der Häscher den Revolutionären so vielen Schaden zugefügt als er. Der Vorschlag Degajeffs wurde angenommen. Im Winter 1883 also lockte Degajeff den Ssudjeikin unter dem Vorwände wichtiger Mitteilungen in seine Wohnung, wo zwei Revolutionäre ihm auflauerten und ihn niederschossen. – Die beiden wurden später verhaftet, zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt und in Schlüsselburg eingekerkert. Degajeff dagegen entkam ins Ausland und ist seither verschollen. – Ich blieb bis zur Nacht im Frankfurter Gefängnis. Dann holten mich drei Schutzleute ab, die ebenfalls in Zivilkleidern steckten. Jedesmal wenn die Wächter wechselten, wurde ich von neuem visitiert, aber man fand niemals etwas. Ehe mich die Frankfurter Polizisten abführten, legten sie mir Fesseln an, die nicht gerade dick und schwer waren und ganz unauffällig; sie wurden nämlich unter den Kleidern hindurchgezogen, waren also nicht sichtbar, hinderten aber an raschem Gehen und destomehr am Laufen. Ich protestierte lebhaft gegen eine derartige Behandlung, doch die Leute erklärten mir, sie hätten gemessenen Befehl, mich zu fesseln, und meine Proteste würden zu keinem Ziele führen. Mir blieb nichts übrig, als mich zu fügen. Doch damit war die Fürsorge meiner Schutzengel nicht erschöpft: als wir den Bahnhof und den Perron passierten, nahm mich einer von ihnen, ein Hüne von Gestalt, freundschaftlich unter den Arm, einer ging einen Schritt vor mir und der dritte hinter mir; so machten wir auf Uneingeweihte den Eindruck einer Gruppe »guter Freunde«, die in »aller Gemütlichkeit« daherschlendern. Wir plazierten uns in einem Wagen mitten unter das Publikum, wobei wir zwei Bänke besetzten, und wahrscheinlich dachte keiner von den Reisenden, daß in seiner nächsten Nähe ein schwerer, kettenbelasteter Staatsverbrecher transportiert werde. Mir fiel dabei die Redensart unserer russischen Bauern ein, wonach der Deutsche alles fertig bringt: »Selbst den Affen hat er erfunden!«

Ich will übrigens bemerken, daß meine Wächter im allgemeinen durchaus korrekt, wenn auch strikte formalistisch, sich mir gegenüber verhielten; groben Übergriffen, wie in Freiburg, war ich kein einziges Mal mehr ausgesetzt. Soweit es ihre Instruktion zuließ, erwiesen mir die Leute gern kleine Gefälligkeiten, wenn ich etwas wünschte. In den »Begleitscheinen«, die ihnen mitgegeben waren, war ich als der »angebliche Buligin« bezeichnet, und unter diesem Namen figurierte ich bis zur Übergabe an die russischen Behörden.

Von einem Fluchtversuch während der Reise konnte nicht die Rede sein. Meine Wächter ließen mich nicht eine Sekunde aus den Augen, wichen keinen Schritt von meiner Seite, beobachteten jede meiner Bewegungen. In Gespräche ließen sie sich mit mir nicht ein, und ich hatte auch nicht das geringste Bedürfnis, mit ihnen zu schwatzen. Ich fühlte mich niedergedrückt, abgespannt und erschöpft. Meine Gedanken schienen eingeschläfert, nichts fesselte meine Aufmerksamkeit während der ganzen Reise, ich sah und hörte nichts, was um mich vorging. Absolute Gleichgültigkeit und Apathie hatten mich erfaßt. »Was wird, das wird,« sagte ich mir, wenn ein Gedanke an die Zukunft auftauchte. Auf die furchtbare Erregung der letzten Tage in Freiburg war die Reaktion eingetreten.

Als wir am folgenden Tage in Berlin eintrafen, wurde ich abermals in ein Gefängnis gesperrt. Welches es war, weiß ich nicht; doch erinnere ich mich genau, daß es einen unbeschreiblich deprimierenden Eindruck auf mich machte. Die finstere Zelle, in die eine davorstehende hohe Mauer keinen direkten Lichtstrahl dringen ließ, die finsteren Gesichter der Schließer, die mir niemals direkt ins Auge schauten, sondern immer zu schielen schienen, legten unwillkürlich den Gedanken nahe, daß Menschen, die längere Zeit hier zubringen mußten, sich bestimmt entsetzlich bedrückt fühlen. Ich habe seit jener Zeit noch so manches Gefängnis im europäischen Rußland und in Sibirien kennen gelernt, aber niemals fühlte ich mich so niedergeschlagen, wie in diesem Berliner Gefängnis. Alles schien hier anzudeuten: du bist in Berlin, der Metropole des Militärstaates Preußen, wo Strenge und Disziplin – richtiger Drill und Härte – die Richtschnur für alles und jedes sind.

Die Polizisten, die mich aus Frankfurt gebracht hatten, ließen mich auch in der Kerkerzelle nicht aus den Augen; sie hielten abwechselnd Wache bei mir. Und ich muß gestehen, daß ich dessen sogar froh war. Ihre Gesellschaft war ja nicht gerade angenehm, aber in diesem Kerker milderte die Anwesenheit eines menschlichen Wesens, wer es auch sein mochte, den trostlosen Eindruck. Doch sollte ich nicht lange hier kampieren, und ich war ganz zufrieden, als ich noch am Abend dieses Tages unter Bewachung derselben Mannschaft weitergeführt wurde.

Am nächsten Morgen waren wir in Rußland.

*

Die Grenzstation, an der ich ausgeliefert wurde, war Granitza, jener Ort, wo die Grenzen der drei Kaiserstaaten zusammenstoßen. Da man mich alsbald nach Petersburg transportierte, war es ein gewaltiger Umweg, und ist wohl anzunehmen, daß diese sonderbare Route gewählt wurde, weil man befürchtete, es könnte an der Grenze ein Befreiungsversuch gemacht werden. Das mochte um so näherliegen, als kurz vorher der polnische Sozialist Stanislaus Mendelsohn auf einer Grenzstation, Alexandrowo, wenn ich nicht irre, mit Hilfe seiner Freunde geflohen war, als ihn die preußische Polizei dort an Rußland ausliefern wollte; er entkam glücklich nach der Schweiz.

Ich weiß mich noch ganz genau der Eindrücke zu erinnern, die ich damals empfing. Es war ein wunderschöner Maitag, und die liebe Sonne schien mir neue Kraft spenden zu wollen. Kaum hatte ich mit meinen deutschen Wächtern den Eisenbahnwagen verlassen, als mich eine Anzahl russischer Gendarmen umringte.

»Guten Tag, Herr Deutsch! Da wären Sie ja endlich; wir haben Sie schon immer erwartet und erwartet!« begrüßten sie mich. Ich erblickte ringsum jugendfrische, lächelnde Gesichter russischer Bauernburschen, die in den verhaßten dunkelblauen Uniformen steckten; ihr sorgloses Gebaren veranlaßte, daß ich selbst ihnen zulächelte, als wenn es gute Bekannte wären, die mich da begrüßten.

»Woher kennt ihr mich denn?« fragte ich auf dem Wege nach der Gendarmerieabteilung.

»O, freilich kennen wir Sie; wir haben schon viel von Ihnen gehört!« riefen einige Stimmen. »Wollen Sie gleich Tee nehmen, oder wollen Sie sich zuerst den Staub abwaschen?« fragten sie liebenswürdig und überboten sich an Eifer, mir gefällig zu sein.

Es war ein sonderbarer Kontrast in dem Verhalten meiner deutschen und russischen Wächter. Die letzteren benahmen sich sorglos und einfach, wenn man will, lag sogar etwas freundschaftlich Zutrauliches darin. Für die deutschen Polizisten war ich ein gar gefährlicher Schwerverbrecher, der sich unter falschem Namen verbirgt; sie hatten ihre Instruktion, die sie strikte befolgten, und alles übrige kümmerte sie nicht; nebenbei erhofften sie für den angestrengten Dienst eine Belohnung zu erhalten, wie ich unterwegs ihrem Geflüster entnahm, als sie glaubten, ich sei eingeschlafen. Für die russischen Gendarmen, die mit gewöhnlichen Verbrechern nie zu tun haben, war ich der »politische Verbrecher«, wie es bei uns heißt, der Staatsgefangene, dessen Name sie schon so oft gehört, daß sie mich als einen alten Bekannten betrachteten.

Ich war seit vier Jahren nicht in Rußland gewesen, und die ersten Menschen, die mir begegneten, von denen ich die Laute der Muttersprache vernahm, waren Gendarmen. Es ist begreiflich, daß ich mich, obwohl Revolutionär, in der Gesellschaft der Gendarmen wohl fühlte. Wer als Uneingeweihter in den Raum hätte blicken können, wo ich am Tische vor dem dampfenden Samowar saß, mir den Tee schmecken ließ und mit den ringsumher stehenden Gendarmen plauderte, der hätte sicher gedacht, daß hier eine gemütliche Unterhaltung zwischen guten Bekannten stattfindet.

»Na, wie ist's denn im Ausland? Sicher nicht so schön wie bei uns, was?« fragten mich die Burschen. Und ich erzählte, wie es im »Ausland« sei, daß es dort unvergleichlich besser sei als wie bei uns daheim. Das wollten sie aber nicht glauben; wir stritten hin und her, wobei alle Anwesenden, zehn oder zwölf Mann, eifrig durcheinander schwatzten. Als das Thema erschöpft war, fragte wiederum ich, was es bei uns Neues gebe? wie es gehe? Und nun schilderten sie mir begeistert, wie ganz Rußland vor kurzem die Feier der Mündigkeitserklärung des Thronfolgers, des jetzigen Zaren, begangen habe.

Die deutschen Polizisten hatten gegen Bescheinigung mein Gepäck und mich selbst abgeliefert und waren wieder abgezogen, wohl etwas enttäuscht, denn eine Belohnung war ihnen, wenigstens in Granitza, nicht ausbezahlt worden. – Nach einigen Stunden erschien ein Gendarmerieoffizier und befahl einigen der Leute, sich bereitzuhalten, um mich zu eskortieren, da ich mit dem nächsten Zuge weiter sollte.

Ich sah, daß er einem von ihnen das von den deutschen Polizisten übergebene Geld einhändigte. Ich zog also unbemerkt das russische Geld, das ich versteckt hatte, hervor und übergab es dem Offizier, da ich fürchtete, man könnte es bei einer sorgfältigeren Visitation finden. – Er war hocherstaunt und fragte, ob ich denn in Deutschland nicht visitiert worden sei? Dann befahl er nochmals, meine Kleider zu durchsuchen, was denn auch mit aller Gründlichkeit geschah. Aber das übrige deutsche Geld und die Schere fand man trotzdem nicht.

Drei Gendarmen begleiteten mich auf der Reise nach Petersburg. In Warschau, wo wir in der Nacht ankamen, erwartete mich ein Oberst der Gendarmerie. Wie die meisten Gendarmerieoffiziere war er sehr höflich und gesprächig.

»Sie sind an dem Tschigiriner Prozesse beteiligt?« fragte er, und als ich das bejahte, fügte er zum Troste hinzu:

»Nun, das ist ja schon so lange her. Das war doch zur Zeit des polnischen Aufstandes? – Da kommt Ihnen das Manifest zugute, man wird Ihnen nicht viel anhaben.«

Zur Zeit des polnischen Aufstandes war ich noch nicht einmal acht Jahre alt! Das illustriert, wie wenig manche der Gendarmerieoffiziere über die politischen Prozesse Bescheid wissen, die doch ihr eigentliches Metier sind.

Die freundliche Teilnahme hinderte ihn natürlich nicht, meinen Wächtern die strengsten Verhaltungsbefehle zu geben, was ich im Wagen sitzend belauschen konnte.

»Habt mir gut acht auf ihn! – Das Fenster darf nicht geöffnet werden; er darf den Wagen nicht verlassen. – Daß ihr nicht unterwegs schläft!« flüsterte er.

Die Gendarmen aber ließen sich dadurch nicht stören, behandelten mich nach wie vor mit aller Zuvorkommenheit und zeigten nicht die geringste Furcht, daß ich ihnen davonlaufen könnte.

Als wir in Petersburg ankamen, erwartete uns ein Gendarmeriekapitän und führte mich in einer geschlossenen Droschke direkt nach der Peter-Pauls-Feste.


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