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XXV
Stimmungen und Zeitvertreib im Kerker. Zwei neue Kommandanten. – Das Hospital. – Die Teilnehmer an bewaffneten Widerständen.

Einförmig und trübselig war unser Leben. Monat auf Monat und Jahr auf Jahr ging dahin, ohne die geringsten Spuren eines Ereignisses im Gedächtnis zu hinterlassen. Ein Tag war wie der andere und schleppte sich endlos dahin. War ein Jahr um, so war es kaum möglich, ein Geschehnis während der 365 Tage zu verzeichnen, das der Erinnerung wert gewesen wäre. Vergebens strengte man sein Hirn an, um aus dieser monotonen Vergangenheit auch nur einiges ins Gedächtnis zu rufen. Wenn man am Morgen aufwachte, wußte man ganz genau, was der Tag bringen werde. Ja, man wußte im voraus, was alle folgenden Tage, Wochen und Monate bringen werden. Nur sehr selten unterbrach irgendein geringfügiges Ereignis dieses einförmige Leben. Man kannte alle Manieren, Gewohnheiten und Neigungen der Leidensgenossen, man wußte im voraus, was jeder von ihnen bei dieser oder jener Gelegenheit sagen oder tun werde usw. Schon längst ist jeder dem anderen zuwider geworden, man mag nicht einmal die Gesichter mehr sehen, man möchte davonlaufen und sich vor allen verstecken. Aber es gibt eben kein Entrinnen. Jahr um Jahr ist man gezwungen, jeden Augenblick die Gegenwart der anderen zu ertragen und sie mit der eigenen zu belästigen, es gibt hier nicht eine Minute, in der man allein sein könnte. In der gemeinsamen Kerkerkammer hat niemand einen Winkel, in den er sich zurückziehen könnte. Dazu kommen die Härten des Gefängnisregimes: das Rasieren des Kopfhaares, das mit peinlicher Regelmäßigkeit vollzogen wurde, der fortwährende Anblick der verhaßten Gendarmen, der Appell morgens und abends, die Revisionen usw. Man stelle sich das alles vor, und man wird begreifen, wie unerträglich das Leben im Laufe der Jahre wird, wie die Nerven zerrüttet werden. Schon das Kreischen des schweren Schlosses an der oft geöffneten und wieder geschlossenen Tür brachte manchen von uns beinahe zur Raserei. Infolge der Nervosität waren viele von uns in einem Zustand der Reizbarkeit, der vom Standpunkt normaler gesunder Menschen kaum begreiflich erscheinen mochte. Bei einigen äußerte sich das in unglaublicher Empfindlichkeit und Heftigkeit, so daß oft aus den nichtigsten Gründen Verstimmung und Zwist entstand. So kam es zum Beispiel einmal vor, daß zwei Freunde, beide in gesetztem Alter, beide gebildet und intelligent, buchstäblich wegen einer Eierschale sich miteinander überwarfen; eine Eierschale wurde zum Ausgang des Wortwechsels und führte zum Bruche. Ein derartiger Zustand wird nur erklärlich, wenn man bedenkt, daß selbst Menschen, die einander zärtlich lieben, es auf die Dauer nicht aushalten, ununterbrochen beieinander zu sein. Jeden Tag dasselbe Gesicht, dieselben Gewohnheiten sehen müssen, wird mit der Zeit unerträglich.

Freilich gab es auch in unserem Dasein nicht ausschließlich Qual und Pein. Auch wir hatten unsere kleinen Freuden. Zu den willkommensten Ereignissen zählten wir das Eintreffen der Post, die im Winter alle zehn, im Sommer alle acht Tage kam. Ich bin nicht imstande, zu schildern, mit welcher verzehrenden Spannung manche von uns den Posttag erwarteten und die Stunde, wo wir die Post im Gefängnis entgegennehmen konnten. Da stand mancher stundenlang am Zaune und spähte hinaus, um den Kommandanten zur Poststation fahren zu sehen, die einige Werst entfernt war; dann harrten sie ungeduldig seiner Rückkehr und versäumten nicht, die Kameraden zu benachrichtigen, was sie beobachtet hatten. Die Post brachte Geld, Briefe, Zeitungen und Bücher; zuweilen traf auch ein Paket ein, ein Geschenk, eine Liebesgabe; alles dies brachte wenigstens eine kleine Abwechslung in die tödliche Langeweile, und daher interessierte das Eintreffen der Post einen jeden von uns. Von dem Einlaufen des Geldes hing unser Budget ab, die Höhe unseres »Äquivalents« kam dabei in Frage. Zeitungen und Zeitschriften interessierten uns besonders, brachten sie doch Kunde von der Welt, von den politischen Vorgängen, die uns leidenschaftlich bewegten. Mit Heißhunger stürzte man sich in die Lektüre und alsbald gab es Stoff zu Gesprächen und Debatten. Doch waren jene Jahre nicht nur in Rußland, sondern auch in Westeuropa Jahre der schlimmsten Reaktion, und deshalb war, was wir zu lesen bekamen, für uns kaum erfreulich, immer legten wir die Zeitung enttäuscht aus der Hand. Außerdem waren uns nur die uninteressantesten und konservativsten Zeitungen und Zeitschriften gestattet, mit alleiniger Ausnahme der bekannten Revue »Der europäische Bote«, die aus irgendeinem Grunde passieren durfte. Es gab unter uns Zeitungsleser, die jedes Blatt von A bis Z durchstudierten und jede Kleinigkeit im Gedächtnis behielten. Wieder andere unter uns erwarteten die Post sehnsüchtig hauptsächlich wegen der Briefe von ihren Verwandten oder sonst Nahestehenden. Diesen bereitete ihre Korrespondenz viel Freude, aber auch viel Leid. Sie waren beständig in Sorge um ihre Lieben, da die Briefe aus der Heimat furchtbar lange unterwegs waren, oft anderthalb bis zwei Monate, und im Frühjahr und Herbst, wenn die Wege unbefahrbar waren, was in Sibirien oft sehr lange dauert, traf jede Post mit Verspätung ein. Die einlaufenden Briefe wurden natürlich nicht nur von dem Kommandanten gelesen und einer scharfen Zensur unterworfen, sondern sie wurden obendrein mit einer Lösung chlorsaurem Eisen kreuz und quer bestrichen, um zu erkennen, ob etwa Notizen mit chemischer Tinte gemacht worden waren. Besonders grausam war aber, daß uns nicht gestattet wurde, die Briefe nach eigenem Ermessen zu beantworten, sondern nur im Namen des Kommandanten durften wir auf einer Postkarte den Empfang eines Briefes oder einer Sendung bestätigen und kurz über unsere Gesundheit berichten, etwa in folgender Form: »Ihr Sohn (Bruder, Neffe usw.) ist gesund; die ihm übersandten Rubel 00 (den Brief usw.) hat er empfangen und ersucht, ihm folgendes zu senden«, folgt die Unterschrift des Kommandanten. Da die Karte eigenhändig von dem Gefangenen geschrieben wurde, konnten die Angehörigen sich überzeugen, daß er am Leben sei und ihre Sendungen erhalten habe, aber auch nichts weiter.

Unter diesen Umständen mußte begreiflicherweise die Korrespondenz oft zur Qual werden. Und trotzdem beneideten die Einsamen, die von niemand Briefe zu erwarten hatten, die Glücklichen, die auf diese Weise mit ihren Lieben sich in Verbindung setzen konnten; solche absolut einsame Menschen hatten wir mehrere unter uns. Wie traurig blickte zuweilen dieser oder jener drein, wenn die Briefe ausgeteilt wurden! Wie oft hörte ich den sehnlichen Wunsch äußern: »Wenn doch auch an mich irgend jemand eine Zeile schreiben wollte!« In der Tat, es ist unsagbar traurig, im Kerker, in die Einöden Sibiriens verschlagen zu sein, Tausende Meilen von der Heimat entfernt und keine Menschenseele zu haben, von der man weiß, daß sie unser gedenkt. Wie groß war aber die Freude, wenn einer dieser Verlassenen unerwartet von irgendeinem Verwandten einen Brief erhielt. Um seiner Freude Ausdruck zu geben, beschloß wohl der also Beglückte, seine Kameraden zu bewirten; es wurde dann auf seine Kosten für die ganze Kammer Tee aufgebrüht, er ließ gar Bretzeln backen; der Brief selbst wurde zu einem Schatze, von dem man noch lange sprach, und den besten Freunden wurden die interessanten Stellen vorgelesen.

Die Bewirtung der Kammergenossen war auch üblich, wenn jemand eine besondere Nachricht aus der Heimat erhielt. Der Inhalt eines solchen Briefes wurde alsbald in allen Kammern mitgeteilt; zuweilen zirkulierten sogar Abschriften von Briefen, die allgemeineres Interesse hatten. Allerdings waren die Kommandanten, besonders der »Kater«, bemüht, derartige Nachrichten zu unterdrücken, indem sie alles, was über den engen Kreis persönlicher Beziehungen hinausging, durchstrichen, andererseits aber hatten wir stets Mittel und Wege, politische und andere Neuigkeiten, die uns interessierten, zu erfahren; in dieser Beziehung war die Erfindungsgabe einzelner von uns erstaunlich. Mehr noch: wir brachten es fertig, uns durch den Kommandanten Schriften zustellen zu lassen, die in Rußland aufs strengste verboten waren, trotzdem die Kommandanten es sich gewiß angelegen sein ließen, jedes Buch und jedes Paket, das einlief, aufs sorgfältigste zu untersuchen. Natürlich hatten wir auch Mittel und Wege, um beim Versand und Empfang der Korrespondenzen den offiziell vorgeschriebenen Weg zu umgehen, indem wir bestechliche Wächter veranlaßten, uns zu helfen. Die »Geheimpost« vermittelte auch unseren Verkehr mit den Insassen des Frauengefängnisses, denn offiziell war das strengstens verboten. Die Geheimpost setzte uns instand, jederzeit zu erfahren, wie es unseren Damen gehe, und auch mit den Verbannten in verschiedenen Orten Sibiriens standen wir im Briefwechsel.

Im Verkehr mit der offiziellen Post vermittelte der Obmann. Der Kommandant teilte ihm mit, für wen und wieviel Geld eingetroffen sei, und dieser verkündete es alsbald in den Kammern, da, wie gesagt, alle hieran interessiert waren. Ebenso erstattete unser Bibliothekar sofort Bericht, was an Drucksachen eingetroffen war. Die Reihenfolge, in welcher man neue Zeitungen und Bücher zu verlangen hatte, war genau geregelt. Wenn jemand per Post Geschenke erhielt, Wäsche, Kleider, Schuhe oder sonst statthafte Gegenstände, so stand ihm frei, dieselben für sich zu behalten oder dem Starosten zu übergeben. Dieser setzte in diesem Falle alle Gefangenen in Kenntnis, die und die Dinge seien zu vergeben; wer sie brauchen konnte, meldete sich, und dann entschied das Los, wem sie zufielen. Bestand aber das Geschenk aus Eßwaren, so wurden diese stets dem Obmann zur Verfügung gestellt. Dieser verteilte das Quantum auf die einzelnen Kammern. In jeder Kammer befand sich ein »Generaldivisor«, das heißt jemand, dem es oblag, die Leckerbissen mit peinlichster Genauigkeit gleich und gerecht unter alle Insassen zu verteilen, was in manchen Fällen in der Tat ganz besondere Kombinationen und Kunstgriffe erforderte. Dieser »General-Divisor«, in der Regel ein mathematisch veranlagter Geist, wenn nicht gar Mathematiker von Fach, spielte übrigens auch bei den regelmäßigen Mahlzeiten die Rolle eines Kämmerers, indem er die Speisen verteilte, damit ja die Gleichheit gewahrt werde.

Überhaupt war das Bestreben nach Gleichheit in jeder Hinsicht bei vielen sehr stark entwickelt. Es gab unter uns solche, denen es sogar peinlich war, daß sie von zu Hause mit allerlei kleinen Gaben versorgt wurden, während andere nichts erhielten; es kam vor, daß sie sich gewissermaßen vor den Kameraden ob dieser Bevorzugung entschuldigten. Dagegen waren die Beispiele von kleinlichem Egoismus, wo die Beschenkten ihre Schätze ausschließlich für sich allein behielten, äußerst selten. Einzelne waren so feinfühlig, daß sie glaubten, nicht das Recht zu haben, neue Bücher, die man ihnen schickte, nach eigenem Geschmack zu bestellen, sondern es den Kameraden überließen, gemeinsam eine Liste solcher Bücher aufzustellen, die erwünscht waren. Damit also auch hier Gleichheit herrsche, bestimmten die Betreffenden eine Summe Geld, für welche Bücher gekauft werden konnten; diese Summe wurde durch die Zahl der Gefangenen geteilt, und nun stand es jedem frei, Bücher im Betrag der auf ihn entfallenden Geldquote zu bestellen. Auf diese Weise wurde allen Wünschen Rechnung getragen, und sowohl die Liebhaber von Belletristik kamen auf ihre Kosten als auch diejenigen, die gelehrte Traktate haben wollten.

Neben der Post war das Badehaus eine Quelle des Genusses. Besonders wenn man eine Woche Küchendienst hinter sich hatte, bei dem man sich mit allerhand wenig reinlichen Dingen beschäftigen und schwer arbeiten mußte, war das Dampfbad und dann reine Wäsche ein Hochgenuß. Und wenn man aus dem Bade kam, sich auf der Pritsche ausstreckte und die müden Glieder dehnte, heißen Tee trank und seine Gedanken spazieren gehen ließ, war es ein physisches Wohlbehagen, das für einen Moment alles andere vergessen ließ. Zwar war die Leibwäsche, die man frisch angezogen hatte, nicht gerade fein, und da sie auch nicht kunstgerecht gewaschen war, scheuerte sie die Haut empfindlich; der graue Gefängniskittel war nicht besonders bequem und noch weniger präsentabel, aber man fühlte sich trotzdem wohl. Wenn es sich dann noch traf, daß an diesem Tage die Post eingetroffen war, so war es erst recht schön.

»Nun, schlemmen Sie? Sie Epikuräer!« hänselte wohl einer der Kameraden, der selbst recht gut wußte, wie behaglich man sich an solchen Tagen fühlte, wenn man es sich auf der Pritsche mit einer Zeitung oder einem Buche bequem gemacht hatte.

Zu den beliebten Zerstreuungen gehörte auch das Schachspiel, und wir hatten unter uns einige »Meisterspieler«, besonders Jazewitsch und Zubrschitzki, die außer Übung sich Kenntnis der Theorie angeeignet hatten. Es wurden denn auch zuweilen Schachturniers nach allen Regeln der Kunst abgehalten und bedeutende Preise ausgesetzt, die natürlich in Tee oder anderen Genußmitteln bestanden. Bei solchen Gelegenheiten nahm das ganze Gefängnis an den Kämpfen auf dem schwarzweißen Brette lebhaften Anteil, und die Resultate jeder Partei in »Match« wurden alsbald verkündet und das Spiel eingehend besprochen.

Auch der Gesang wurde gepflegt, und unser Chor verfügte über ein reichhaltiges Repertoire; melancholische Weisen der Kleinrussen wechselten mit temperamentvollen Volksliedern der Großrussen, selbst zu schwierigen Opernpartien verstieg man sich, nicht zu vergessen die uns allen teuren Lieder der Revolutionäre, die Marseillaise und andere. Als Kommandant Nikolin fort war und wir weniger schikaniert wurden, bauten unsere Tausendkünstler sogar eine Violine, auf der dann einige künstlerisch veranlagte Freunde mit zäher Ausdauer übten, wovon freilich die übrigen, die gezwungen waren zuzuhören, nicht gerade erbaut waren. Posen aber und einige andere marterten dazu die Ohren ihrer Kameraden, indem sie schauderhafte Musik durch Blasen auf Haarkämmen machten.

Vor Langeweile gab man sich auch der angenehmen Beschäftigung des Rätsel- und Charadenspieles hin, was besonders in unserem »Synedrion« im Schwange war. Einige Neulinge brachten auch Karten mit, und das gerade damals in Rußland in Mode gekommene Whistspiel fesselte bald einen Teil der Kameraden derart, daß sie tatsächlich Tage und Nächte dabei zubrachten. Im allgemeinen fand aber das Kartenspiel wenig Anklang.

Leibesübungen wären vielen willkommen gewesen, aber solange der »Kater« das Regiment bei uns führte, waren sie nur in ganz bescheidenem Maße möglich. Alles, was er uns gestattete, war, daß wir im Winter einen Teil des Gefängnishofs, der etwas abschüssig war, in eine Schlittenbahn umgestalten durften, auf der wir uns mit selbstgemachten Schlitten vergnügten.

Einer der Nachfolger Nikolins hatte nichts dagegen einzuwenden, daß wir uns einen Garten anlegten, und im nächsten Frühling waren wir emsig damit beschäftigt. Einige von uns, die besondere Naturfreunde waren, entfalteten hierbei geradezu leidenschaftlichen Eifer; sie bearbeiteten ihre Beete mit peinlichster Sorgfalt, düngten, begossen, jäteten unermüdlich und pflegten jede einzelne Pflanze wie ein geliebtes Kindlein. Es wurden verschiedene Gewächse und Blumen gezogen. Ich hatte besondere Vorliebe für Sonnenblumen, die mich an meine südrussische Heimat erinnerten; wo es irgend anging, steckte ich ihre Samenkörner in den Boden. Im Sommer schossen meine Pfleglinge prächtig in die Höhe, und ihre dicken Stiele standen in gerader Linie längs unseres »Boulevards«, wie wir den Steg an dem Zaune nannten, von wo aus man die Straße und des Kommandanten Haus überblicken konnte, wenn man durch die Zaunlöcher guckte. Wenn dann die Pflanzen ihre Kronen senkten, schien es, als ob sie auf die armen Gefangenen herabblickten und sich ob der Grausamkeit der Menschen verwunderten: »So viele unschuldige Jünglinge verbringen ihr halbes Leben, ihre besten Jahre hier in der Gefangenschaft, einzig deshalb, weil sie in ihrer Art das Glück ihres Vaterlandes erstrebten.« Und wenn die Sonnenblumen sich in die Höhe reckten und ihre goldgelben Blüten emporhoben, schien es uns, als wenn sie sagen wollten: »Verliert den Mut nicht, arme Sträflinge, es wird die Zeit kommen, wo auch ihr stolz erhobenen Hauptes nach der geliebten Heimat zurückkehren werdet.«

*

Der Nachfolger Nikolins, Rittmeister Jakowleff, war bestrebt, die Gefängnisordnung, die der »Kater« so schikanös handhabte, zu mildern. Er schien ein leidlich humaner Mann zu sein, der zwar sich genau an die Vorschriften hielt, aber nicht gesonnen war, durch übermäßige Formalistik und unnötige Härten unser trauriges Los noch zu verschlimmern. Vielleicht war sein Benehmen auch dadurch bestimmt, daß er von vornherein wußte, er würde den Posten nicht lange bekleiden, da er nur als Platzhalter eines Kommandanten, der aus Petersburg eintreffen sollte, des Gendarmerieobersten Masjukoff, galt. Vielleicht hegte er auch nur den Wunsch, möglichst wenig Scherereien mit uns zu haben; er gehörte zu jener in Rußland und in Sibirien so zahlreichen Kategorie von sonst recht braven Menschen, die nur eine Schwäche haben, nämlich den Trunk; er sprach dem Becher überaus fleißig zu und schien sehr oft des Guten zu viel zu tun. Es sei dem wie ihm wolle, wir atmeten auf, als er das Regiment führte, und sahen mit Sorge der Ankunft des neuen Kommandanten entgegen. Nach einem halben Jahre, im Winter 1887, traf Oberst Masjukoff denn auch ein und machte alsbald in Begleitung von Jakowleff einen Rundgang durch das Gefängnis.

Er war ein Mann von kleinem Wuchse, glattrasiertem Gesicht, mit grauem Haare und Schnurrbart, trotz seiner fünfzig Jahre sehr beweglich; er sprach mit unangenehmer Fistelstimme und machte den Eindruck eines gerupften Huhnes. In seinem ganzen Wesen lag etwas, was einen schwächlichen, charakterlosen Menschen verriet, und leider erwies er sich als solcher zu unserem und seinem eigenen Unheil. Von Natur beschränkt und gutmütig, entsprach Masjukoff durchaus nicht der Vorstellung, die man sich bei uns von einem Stabsoffizier des Gendarmeriekorps machte, und in der Tat eignete er sich durchaus nicht für diesen Dienst und fühlte es wohl selbst am besten. Er war übrigens auch nur infolge einer Verkettung ungünstiger Umstände Gendarm geworden. Von Geburt Landjunker, hatte er eine Zeitlang Gardeoffizier gespielt, war dann auf seine Güter zurückgekehrt und hatte in Saus und Braus gelebt. Die guten Diners, die er gab, mochten die Veranlassung gewesen sein, daß er zum »Adelsmarschall« in seinem Kreise gewählt wurde; jetzt lebte er erst recht auf großem Fuße, und das Ende war der wirtschaftliche Ruin. Um seine Finanzen zu regeln und, wie es hieß, um seine Spielschulden zu bezahlen, mußte er wieder in den Staatsdienst treten und wurde Gendarmerioffizier, weil das hohe Gehalt ihn lockte, das diese Herren beziehen, die besser als alle anderen analogen Chargen bezahlt sind, besonders wenn sie nach den entlegensten Posten in Sibirien, wie Kara, geschickt werden. Der Kommandant von Kara bezog vier- bis fünftausend Rubel bei freier Wohnung, Heizung, Bedienung, Dienstpferden usw. Als ehemaliger Gardeoffizier und Adelsmarschall wurde Masjukoff alsbald Oberst und bewarb sich um den gerade damals vakanten Posten in Kara. Er selbst erzählte später gelegentlich, es sei sein aufrichtiger Wunsch gewesen, unser Schicksal nach Möglichkeit zu lindern. Doch vergebens: mit guten Vorsätzen ist bekanntlich der Weg zur Hölle gepflastert, und die politischen Gefangenen haben unter den schlimmsten Wüterichen nicht so viel gelitten als unter diesem gutmütigen Bonvivant. Doch will ich nicht vorgreifen.

In der ersten Zeit unter Masjukoffs Regiment erfreuten wir uns in der Tat einiger Erleichterungen. Wie bereits gesagt, durften wir einen Garten anlegen; die Türen unserer Kammern wurden tagsüber fast nie verschlossen, und wir durften uns innerhalb des Gefängnishofes frei bewegen. Zu Zeiten des »Katers« stand eine Kammer vollständig leer, weil er aus irgendeinem Grunde verbot, sie zu besetzen, jetzt durften wir sie beziehen, und auch der Bau mit Einzelzellen, der bisher leer gestanden, wurde uns während der Sommermonate freigegeben; so gewannen wir mehr Raum, konnten uns etwas bequemer einrichten, und wer Einsamkeit suchte, konnte ein paar Stunden in jenen Einzelzellen verweilen. Auch unsere Musikanten wurden mit ihren Marterinstrumenten in diesen Raum verwiesen, wo sie weniger lästig fielen. Eine weitere Erleichterung war, daß die Bestimmungen darüber, welche Utensilien wir im Gefängnis haben durften, minder schikanös gehandhabt wurden, und wir brauchten es fortan nicht mehr zu verbergen, wenn wir irgendwelche Handwerksarbeiten verrichteten. Ein Schraubstock und einiges Handwerkszeug wurden angeschafft und die Kunstfertigkeit blühte bei uns auf. Selbst ein Amateurphotograph fand sich unter uns und richtete mit Hilfe unserer Handwerker ein ganzes Atelier ein; seine Leistungen waren allerdings nicht besonders hervorragend.

Überhaupt war Masjukoff bestrebt, uns nach Möglichkeit entgegenzukommen, und befriedigte, soweit es an ihm lag, alle Wünsche, die wir ihm unterbreiteten. Unter anderem hatte er auch gestattet, daß wir ohne weiteres aus einer Kammer nach der anderen übersiedeln durften. Mein Freund Stefanowitsch und ich machten alsbald davon Gebrauch. Der zweieinhalbjährige Aufenthalt in der »Synedrionkammer« war uns beiden recht lästig geworden, und als die »große Völkerwanderung«, verursacht durch den neuen Raum, begann, siedelten wir in die Kammer über, die den Namen »Das Dorf« oder auch »Das Spital« trug. Sie war insofern bequemer wie alle anderen, als hier Bettstellen und außer dem großen Tisch kleine Tischchen zwischen zwei Betten vorhanden waren.

In den ersten drei Jahren, die ich in Kara verbrachte, war die Zahl der Gefangenen ziemlich gleich geblieben. Es wurden zwar einige in die »Strafkolonie« entlassen, aber nahezu ebensoviele neue Leidensgenossen waren wieder eingetroffen. Außer Spandoni, der, wie erwähnt, in Krasnojarsk geblieben und im Frühjahr 1886 in Kara eintraf, kamen im Herbst des gleichen Jahres fünf Genossen, die in Warschau im Prozeß des »Proletariat« verurteilt worden waren: Dulemba, ein Arbeiter, zu dreizehn Jahren Strafarbeit; Cohn, ein Student, zu acht Jahren; Luri, ein Genieoffizier, wurde zum Tode verurteilt und dann zu zwanzig Jahren Strafarbeit begnadigt; Mankowski, ein Arbeiter, bekam sechzehn Jahre; Rechniewski, der die juristische Fakultät in Petersburg absolviert hatte, vierzehn Jahre. Im Jahre darauf wurde Paschkowski eingeliefert, der im Prozeß vom 1. März 1887 als Teilnehmer an einem Attentate gegen Alexander III. zu zehn Jahren Strafarbeit verurteilt war, und der Bauer Ossowski in einer anderen Sache zu drei Jahren. Im Laufe des Jahres 1888 kamen noch Peter Jakubowitsch, mit achtzehn Jahren, und Suchomlin, mit fünfzehn Jahren Strafarbeit, beide im Prozeß Lopatin verurteilt.

Es war eigentümlich, daß in der Regel die Insassen einer Kammer nicht gerne ihren Aufenthalt wechselten; wir nannten das »Kammerpatriotismus«. Derartige »Patrioten« hielten große Stücke auf ihre Kammer, die natürlich stets »die beste« war; sie ließen ihre Kammergenossen nie im Stiche, waren stolz auf jeden Erfolg eines von ihnen und betrübt über jeden Mißerfolg. Die Insassen der Kammer, die wir jetzt bezogen, schienen am wenigsten von diesem Korpsgeist beseelt zu sein, wohl deshalb, weil sie meistens zu den »Nomaden« zählten, die schon vorher mehrmals aus einer Kammer in die andere übergesiedelt waren. Auch war hier im Gegensatz zu anderen Kammern jeder mehr mit sich selbst beschäftigt; wir isolierten uns gern, allgemeine Debatten und Heiterkeit gab es selten; die meisten von uns vertieften sich in angestrengte Arbeit, deshalb ging es auch weniger laut zu.

Einer der interessantesten Insassen dieser Kammer und überhaupt ein Original war Leo Zlatopolski, dessen ich mit einigen Worten erwähnen möchte. Er hatte im Petersburger Technologischen Institut studiert, war dann in dem »Prozeß der Zwanzig« vom Jahre 1882 verwickelt und wurde zu zwanzig Jahren Strafarbeit verurteilt. Aktiver Revolutionär war er eigentlich niemals gewesen, aber da er ein hervorragender Mathematiker und Techniker war, ging er den Terroristen an die Hand, wo es sich um rein technische Dinge handelte. Schon als Student galt er als geborener Erfinder, und im Kerker wurde das Erfinden bei ihm zur Manie. Was hat er nicht alles bei uns erfunden! Eine Zeitlang war er in das Projekt einer »kreisrunden Stadt« vertieft; in dieser Stadt sollte alles und jedes elektrisch verrichtet werden. Selbst die Pflanzen sollten auf elektrischem Wege zum Wachstum gebracht werden, da Sonnenlicht und Sonnenwärme unserem Erfinder viel zu simpel waren. Dann kam er auf die Idee, einen Flugapparat zu erfinden, der nicht nur uns alle miteinander in lichte Höhen tragen, sondern auch mit der Schnelligkeit der Drehungen der Mutter Erde fortschaffen sollte. Dann wieder schuf er eine »eigene« Werttheorie. Aber auch prosaische Kleinigkeiten beschäftigten ihn; er hatte eine neue Methode, Wäsche zu waschen, Kartoffeln zu schälen, Schuhe zu machen, konstruierte ganz neue Öfen, erfand Kartenspiele – kurz, auf allen Gebieten war er bereit, das Bestehende umzustürzen und auf ungeahnte Weise die alten Vorstellungen, Gewohnheiten und Sitten umzukrempeln. Wie leicht zu erraten, litten jedoch alle seine genialen Ideen an einem kleinen Fehler – sie waren im Leben nicht anwendbar. Natürlich gab er das niemals zu und blieb dabei, seine Erfindungen seien unantastbar und vollkommen, was ihn aber nicht hinderte, sie beiseite zu lassen, um wiederum mit Feuereifer etwas Neues zu suchen. Natürlich wurde er bald zum Gegenstand allgemeinen Spottes, und man erzählte sich über ihn die unglaublichsten Anekdoten. Trotzdem war er zweifelsohne ein ungemein befähigter und sehr kenntnisreicher Mensch, aber es fehlte eben ein gewisses Etwas, um ein Genie aus ihm zu machen; wir zählten ihn nach der Theorie Lombrosos zu den »Matoiden«, was wohl auch richtig sein mochte.

In den beiden Kerkern in Kara, in dem für Männer und dem für Frauen, waren im Laufe der Zeit Teilnehmer nahezu aller politischen Prozesse eingesperrt gewesen, von dem berühmten Prozeß Njetschajeff (im Jahre 1871) an bis zu dem Prozeß Lopatin und Sigidi (1887). Da natürlich jeder der Gefangenen den Leidensgenossen von dem Prozeß erzählte, an dem er selbst beteiligt war, wie ja überhaupt die Ereignisse des revolutionären Kampfes das interessanteste Gesprächsthema bildeten, so war Kara gewissermaßen die lebende Chronik der Revolution; es war wohl der einzige Ort, an welchem man die ganze revolutionäre Bewegung Rußlands nach den Aussagen von Zeugen studieren konnte. Aber niemand von uns dachte wohl daran, daß er jemals von dem, was er hier zu hören Gelegenheit hatte, Gebrauch machen könnte; es ist daher zu bezweifeln, daß irgend jemand heute noch imstande sein sollte, all das Gehörte niederzuschreiben. Die Kenntnis einer Menge höchst interessanter Einzelheiten dürfte somit für immer verloren sein.

Während meiner Gefangenschaft war von den Teilnehmern der ersten Prozesse – aus der Zeit der sogenannten propagandistischen Phase der Bewegung der siebziger Jahre – niemand mehr vorhanden. Alle in diesen Prozessen Verurteilten waren bereits aus dem Kerker in die Verbannung entlassen worden. Aber viele der Revolutionäre jener Zeit hatte ich persönlich in der Freiheit kennen gelernt. Dagegen teilte ich die Gefangenschaft mit Leuten, die in politischen Prozessen aus dem Ende der siebziger Jahre verurteilt worden waren, wo es sich meistens um Gewalttaten handelte, vom bewaffneten Widerstand bis zu Attentaten gegen den Zaren. Freilich, die Hauptteilnehmer am terroristischen Kampfe hatten auf dem Schafott geendet, oder sie waren in den Kasematten der Peter-Paul-Festung oder Schlüsselburgs lebendig begraben. Doch hatte ich auch von diesen Männern und Frauen die meisten persönlich gekannt, ehe das Schicksal sie ereilte. Ich wäre daher wohl imstande, auch heute noch alles, was ich von Kampf- und Leidensgenossen über die terroristische Bewegung der siebziger Jahre gehört, aus dem Gedächtnis niederzuschreiben; doch würde es an dieser Stelle zu viel Raum einnehmen, da meine Erinnerungen schon gar zu umfangreich zu werden drohen. Einige der wichtigsten Ereignisse jedoch will ich hier kurz berühren.

Zu den hervorragendsten Persönlichkeiten in der »propagandistischen« Bewegung gehörten Wolnoralski und Kowalik, beide waren Friedensrichter gewesen. Als sie im Untersuchungsgefängnis in Petersburg eingekerkert waren, versuchten ihre Genossen, sie zu befreien. Im Mai 1876 gelang es den beiden denn auch, aus der Zelle zu entkommen und auf einer Strickleiter aus dem Korridorfenster zu klettern. Sie waren nahezu befreit, als ein Beamter, der gerade am Gefängnis vorbeifuhr, sie bemerkte; da dieser glaubte, es handle sich um gemeine Verbrecher, schlug er Lärm, und die beiden wurden wieder gefangen. Sie wurden später in dem »Prozeß der 193« unter Anklage gestellt und zu Zwangsarbeit verurteilt. Abermals unternahmen die Genossen einen Befreiungsversuch: man wollte ihnen die Flucht ermöglichen, wenn sie nach dem Gefängnis in Charkow transportiert würden, wo man damals die gefährlichsten Gefangenen einsperrte; es bestand die Absicht, die Gendarmen mit Waffengewalt zu überfallen. Und in der Tat wurden am 1. Juli 1878 die beiden Gendarmen, die die Gefangenen auf einem Wagen transportierten, von einer Anzahl Bewaffneter, von denen zwei beritten waren, angefallen. Einer der Gendarmen wurde erschossen, und der Anschlag wäre beinahe gelungen, aber die Pferde des Gefangenenwagens wurden scheu, als die Schüsse fielen, und gingen durch; das vereitelte alles. Wolnoralski und Kowalik blieben dann mehrere Jahre in Gefängnissen im europäischen Rußland eingekerkert und wurden später mit einer Anzahl anderer Revolutionäre nach Kara gebracht, wo sie ihre Kerkerhaft verbüßten, um dann in die Verbannung in das Jakutengebiet geschickt zu werden. Die meisten dieser Personen haben ihr Grab in den Einöden Sibiriens gefunden; Wolnoralski und Kowalik jedoch erlebten die Stunde der Befreiung: im Winter 1898/99 kehrten sie nach dem europäischen Rußland zurück; doch ist Wolnoralski bald darauf in der Heimat gestorben.

Die eben beschriebenen Befreiungsversuche sollten unheilvolle Folgen nach sich ziehen. Am Abend nach dem Überfall des Gefangenentransports wurde einer der berittenen Teilnehmer auf dem Bahnhof in Charkow verhaftet; es war Alexei Medwedjeff, auch Fomin genannt. Es gelang ihm, aus dem Untersuchungsgefängnis in Charkow gemeinsam mit einer Anzahl Kriminalgefangener zu fliehen, indem sie die Mauer untergruben. Da aber jede Hilfe von auswärts fehlte, blieb den Flüchtlingen nichts anderes übrig, als sich in einem nahen Walde zu verbergen, wo sie bald aufgegriffen wurden. Darauf beschlossen die Genossen, Medwedjeff zu befreien. und zwar hatten sie dabei folgenden Plan: Zwei junge Leute, Beresnjuk und Raschko, verkleideten sich als Gendarmen und trugen eine gefälschte schriftliche Ordre nach dem Gefängnis, den Gefangenen zum Verhör in das Gendarmerieamt zu senden. Aber infolge von Verrat, wie die beiden behaupteten, oder vielleicht, weil der Gefängnisverwalter Verdacht gegen diese Gendarmen schöpfte, wurden sie auf der Stelle verhaftet. Gleichzeitig wurde auch Jazewitsch verhaftet, der vor dem Gefängnis wartete, um bei der weiteren Flucht behilflich zu sein, und bald darauf Jefremoff und noch einige Personen. In dem Prozeß wurde dann Jefremoff zum Tode verurteilt, aber zu lebenslänglicher Strafarbeit begnadigt; die gleiche Strafe traf Beresnjuk. Die letzteren und Jazewitsch wurden alsbald nach Kara transportiert. Gegen Medwedjeff wurde besonders verhandelt; man verurteilte ihn zum Tode und milderte auch hier das Urteil zu lebenslänglicher Strafarbeit. Da man neue Fluchtversuche seinerseits befürchtete, hielt man ihn in strenger Haft in verschiedenen Gefängnissen Westsibiriens, brachte ihn dann nach der Peter-Paul-Festung in Petersburg und erst 1864 kam er nach Kara.

Medwedjeff war ein überaus kühner Mensch, der jeder Gefahr trotzte und stets bereit war, sich in die gefährlichsten Abenteuer zu stürzen. Er war früher Postillon gewesen und besaß nur kümmerliche Volksschulbildung, aber bei seiner Begabung hatte er sich im Kerker respektables Wissen erworben. Vor allem aber war er der geborene Techniker und besaß nach dieser Richtung geradezu erstaunliches Geschick. In den Kasematten des Petersburger Gefängnisses knetete er insgeheim aus Brot eine Statuette, die, als die Gendarmen sie schließlich fanden, größte Bewunderung bei dem Festungskommandanten und anderen Beamten erregte, so vortrefflich war sie gearbeitet. Dieser Statuette verdankte er es zum Teile, daß man nachher ein Manifest auf ihn anwendete und die lebenslange Strafarbeit zu zwanzigjähriger milderte, worauf er nach Kara geschickt wurde. Hier wurde er zum allgemein bewunderten Künstler und Handwerker auf allen Gebieten. Er war ein vorzüglicher Schneider, Schuster, Graveur, Bildhauer, und als er später in der Verbannung lebte, wurde er Uhrmacher und Goldschmied. Leider fiel er bald, nachdem er das Gefängnis verlassen, einer unheilvollen Krankheit, mit der er erblich belastet war – dem Alkoholismus –, anheim. Alle Rettungsversuche waren vergebens, und nach ein paar Jahren war er verloren.

Fast zur gleichen Zeit, da in Charkow der Befreiungsversuch mißlang, wurden die Revolutionäre in Petersburg in furchtbare Aufregung versetzt: eine Anzahl der im »Prozeß der 193« Verurteilten harrte in der Peter-Pauls-Feste der Verschickung nach Sibirien. Infolge verschiedener Drangsalierungen, denen sie ausgesetzt waren, beschlossen sie, einen Hungerprotest zu erheben. Die meisten von ihnen hatten bereits jahrelang in der Untersuchungshaft gesessen, und der Hunger konnte für ihre Gesundheit verhängnisvoll werden. Diese Vorgänge erfuhr, nachdem der Hungerprotest bereits mehrere Tage gedauert hatte, die Organisation »Semlja i Wolja«, und eines ihrer Mitglieder, der frühere Artillerieleutnant Krawtschinski, erklärte auf der Stelle, er würde Rache nehmen und den Chef der Gendarmerie, den General Mesenzeff, der in erster Linie schuld an den politischen Verfolgungen sei, umbringen. Die Tat wollte er allein und offen begehen, ohne Rettungsmaßregeln für sich vorzubereiten; ähnlich wie Wera Sassulitsch am 24. Januar 1878 den Schuß gegen den Polizeipräsidenten Trepoff in Petersburg abfeuerte. Aber einige Genossen, zu denen auch ich zählte, widersetzten sich diesem Plane: General Mesenzeff sei ein solches Opfer nicht wert. Wir bestanden vielmehr darauf, daß das Attentat in einer Weise ausgeführt werde, die die Rettung des Täters ermöglichte. Zu diesem Zwecke wurde der General eine Zeitlang beobachtet, um zu erfahren, wann er seine Wohnung verläßt und in der Nähe sollte ein Wagen warten mit dem berühmten Traber »Barbar«, der schon einmal ein Leben gerettet hatte (Fürst Peter Krapotkin hatte bei seiner Flucht aus dem Hospital im Jahre 1876 eben diesen Renner benutzt). Am 4. August 1878 wurde auf einer der belebtesten Straßen Petersburgs General Mesenzeff erdolcht, und Krawtschinski sowie der ihn begleitende Genosse Barannikoff entkamen, dank der Geschwindigkeit des »Barbar«. Später wurden eine Anzahl Leute infolge jenes Attentats verhaftet, worunter auch Hadrian Michailoff, den man beschuldigte, das Gefährt als verkleideter Kutscher gelenkt zu haben. Er wurde zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt und nach Kara gesandt. Hier waren wir lange Zeit Kammergenossen.

Hadrian Michailofs gehörte zu den begabtesten und fähigsten Leuten unter den Gefangenen. Er besaß eine unbändige Wißbegier und ein schier phänomenales Gedächtnis. Er war Student der Medizin gewesen, besaß große naturwissenschaftliche Kenntnisse und war auch in anderen Wissenszweigen bewandert. Man nannte ihn im Gefängnis die lebende Enzyklopädie. Und in der Tat gab es kaum eine Frage, die Michailoff nicht aufs genaueste beantworten konnte; er wußte stets die genauesten Daten über jedes historische Ereignis, behielt alles, was er einmal gelesen hatte, im Gedächtnis und orientierte sich mit Leichtigkeit in allen Problemen. Er war verschlossen, unbeugsam und energisch und übte infolge seiner geistigen Überlegenheit großen Einfluß auf seine Kameraden aus.

Es sei noch Jemeljanoff erwähnt, einer der Teilnehmer an dem Attentat gegen Alexander II. Bekanntlich wurde der Zar von einer Bombe getötet, die Grynewizky unter seinen Wagen warf. Außer diesem Jüngling und Russakoff, der das Schafott bestieg, war Jemeljanoff direkt an dem Attentat beteiligt. Er hatte eine Bombe in Bereitschaft, von der er jedoch keinen Gebrauch machte, da er sich persönlich überzeugt hatte, daß der Zar zu Tode getroffen sei; er stand in nächster Nähe, als die Explosion erfolgte. Man verhaftete ihn bald darauf, und er wurde im »Prozeß der Zwanzig« mit zehn anderen zum Tode verurteilt. Doch wurde das Urteil nur an dem Marineoffizier Suchanoff vollzogen, die übrigen Urteile wurden in lebenslängliche Zwangsarbeit abgeändert. Zusammen mit den anderen Genossen wurde Jemeljanoff in der Peter-Pauls-Feste eingesperrt und sollte dann nach Schlüsselburg kommen, wo der neue Kerker gebaut wurde, da er aber von einer gefährlichen Krankheit befallen wurde, schickte man ihn 1884 nach Kara.

Jemeljanoff war der Sohn eines Kirchendieners, hatte eine Handwerkerschule besucht, war dann auf Staatskosten nach Paris geschickt worden, wo er Chorsänger in der Gesandtschaftskapelle war. Als zwanzigjähriger Jüngling kehrte er nach Rußland zurück, kam hier mit den Terroristen zusammen und wurde, wie gesagt, zum Teilnehmer des Attentats vom 1. März 1881. Er war ein fähiger Mensch und hatte sich im Laufe der Zeit ansehnliche Kenntnisse als Autodidakt erworben. Als ich ihn kennen lernte, war er bereits enttäuschter Skeptiker und behandelte revolutionäre Ideen direkt ironisch. Wie Fomitscheff und einige andere aus unserer Mitte war er zu jener Zeit begeistert für die Macht und Größe des russischen Zarentums; er zog denn auch schließlich die Konsequenzen aus diesen Anschauungen. Doch davon später.


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