Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II
Die Ursache meiner Verhaftung. – Professor Thun. Meine Verteidigung. – Fluchtpläne. – Der Rechtsanwalt.

In Deutschland, als einem Rechtsstaate, besteht die gesetzliche Bestimmung, kraft deren niemand länger als vierundzwanzig Stunden ohne richterliche Verfügung inhaftiert werden darf. Mir, dem Ausländer gegenüber hielt man sich jedoch nicht so genau hieran gebunden, und es vergingen zwei Tage, bevor ich dem Richter zugeführt wurde. Nachdem der Richter die üblichen Fragen nach Namen, Herkunft und Stand gestellt, erklärte er mir, daß ich als Ausländer, dessen Personalien nicht sofort festgestellt werden können, in Haft bleiben müsse. Ich könnte zwar, fügte er hinzu, gegen diese seine Bestimmung Beschwerde erheben, aber nützen würde mir das nichts. In der Tat wurde meine diesbezügliche Beschwerde abgewiesen.

So war ich denn nach diesem Verhör ebenso klug in bezug auf die Veranlassung zu meiner Verhaftung wie vorher. Nach wie vor stellte ich die verschiedensten Vermutungen hierüber an. – Die Ungewißheit ist stets ein qualvoller Zustand, aber am meisten haben darunter Gefangene zu leiden. In meiner Lage wurde diese Ungewißheit zur schlimmsten Seelenfolter. – Erst nach drei Tagen, die mir endlos erschienen, wurde ich wieder vor den Untersuchungsrichter geführt. Nachdem abermals die üblichen Personalienfragen erörtert waren, fragte er mich, ob mir die Ursache meiner Inhaftierung bekannt wäre? Als ich dies verneinte, gab er mir folgende Aufklärung:

Einige Tage vor meiner Ankunft aus Basel waren aus demselben Orte zwei Männer eingetroffen, der schweizer Sozialist G. und der Pole Jablonski; sie waren ebenfalls im »Freiburger Hof« abgestiegen und hatten ebenfalls in ihren Koffern Bücher mitgebracht. Diese Bücher hatten sie alsdann nach Breslau gesandt unter der Adresse eines Mannes, der einige Tage zuvor auf Grund des Sozialistengesetzes verhaftet worden war. Infolgedessen waren die Postpakete von der Polizei beschlagnahmt und darin sozialistische Broschüren in polnischer Sprache gefunden worden, die in Deutschland verboten waren. Da die Absender als Adresse den »Freiburger Hof« angegeben hatten, waren die Broschüren nach Freiburg zurückgesandt worden, um gegen die Absender die Untersuchung einzuleiten. Es war daher dem Gasthofe Befehl erteilt worden, im Falle die Genannten oder andere verdächtige Personen aus der Schweiz dort eintreffen sollten, die Polizei zu benachrichtigen. Dies war also die Ursache, daß der Hoteldiener, als er erfuhr, daß ich Bücher im Koffer habe, nach Beratung mit dem Hotelier Anzeige erstattet hatte, worauf die Polizei erschien. Der Agent hatte unter den Büchern eines gefunden, das äußerlich einem von denen ähnlich sah, die sich in den Breslauer Paketen befanden, den »Kalender der Narodnaja Wolja«; zumal er dann bei mir einige Exemplare des »Sozialdemokrat« fand, lag hinreichender Verdacht vor, der meine Verhaftung veranlaßte. Es wurde daher die Anklage erhoben, daß ich im Verein mit anderen Personen mich der Verbreitung polnischer, in Deutschland verbotener Schriften schuldig gemacht habe.

Bei dieser Sachlage war es mir nicht schwer, die Anklage zu widerlegen. Unter meinen Büchern fand sich nicht ein einziges polnisches, überhaupt keines, gegen das ein Verbot in Deutschland ergangen war; der Besitz einiger Exemplare des »Sozialdemokrat« involvierte noch kein Vergehen. Die Untersuchung reduzierte sich somit darauf, ob ich mit jenen Personen in Verbindung stand, und ob ich nicht dennoch in Deutschland verbotene Schriften verbreitet hätte.

Der Zufall allein hatte somit zu meiner Verhaftung geführt. – »Wären Sie nicht im ›Freiburger Hof‹ abgestiegen, hätte niemand daran gedacht. Sie zu verhaften,« meinte der Untersuchungsrichter, Herr Leiblein.

Nachdem ich das erfahren, wurde mir leichter zu Mute. – »Es ist also vorläufig noch nicht alles verloren,« überlegte ich; »möglich, daß die Sache glatt abläuft und ich bald freigelassen werde; wenn nur die russische Regierung aus dem Spiele bleibt.« – Das ungefähr waren die Gedanken, die mich beschäftigten, während der Untersuchungsrichter das Protokoll niederschrieb. Ganz unvermittelt sagte er dann, auf einen Herrn deutend, der etwas abseits an einem Tische saß: »Das ist der Übersetzer, der uns in Ihrer Sache unterstützt, ein Professor unserer Universität ...«

Ich hatte nicht genau hingehört. Während des Verhörs hatte ich mich bereits einigemal nach jenem Herrn umgeschaut; er schien mir bekannt, und seine Anwesenheit beunruhigte mich unwillkürlich.

»Sie können mit dem Herrn Professor sich russisch unterhalten,« schloß Herr Leiblein, als er für kurze Zeit das Zimmer verließ, um ein Schriftstück zu holen.

»Erkennen Sie mich nicht wieder?« wandte sich der Übersetzer an mich.

»Professor Thun?!« rief ich, im höchsten Grade erstaunt.

»Freilich! Habe ich mich denn so verändert, daß Sie mich nicht gleich erkannten?« Er erwartete jedoch kaum eine Antwort auf seine Frage und fügte unvermittelt hinzu: »Also, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Wissen Sie, wer ich eigentlich bin?« fragte ich, statt zu antworten, und es überlief mich kalt.

»Allerdings, ich kenne Ihren wirklichen Namen ... Aber erschrecken brauchen Sie deshalb nicht! Sie sind ja ganz bleich geworden.«

In der Tat hatten mir seine Erklärungen einen nicht gelinden Schrecken eingejagt.

Ich hatte Professor Thun ungefähr anderthalb Jahre vor dem in Rede stehenden Vorgang kennen gelernt, und zwar in Basel, wohin ich mich begeben hatte, um etwas abseits von den Kolonien russischer Flüchtlinge zu sein. Ich war an der Universität immatrikuliert und hörte Nationalökonomie und Statistik bei Professor Thun. Einer der Baseler Arbeiterführer, Karl Moor, hatte mich persönlich mit dem Professor bekannt gemacht, der mich einfach für einen russischen Studenten hielt, meinen wirklichen Namen damals nicht kannte, sondern den angenommenen Namen Nikolaus Kridner. Er hatte mich aufgefordert, ihn zu besuchen, und mich in seinen Plan, eine Geschichte der revolutionären Bewegung in Rußland zu schreiben, eingeweiht. Von diesem Plane hatte ich bereits vorher erfahren, und zum Teil hatte mich das nach Basel gelockt. – Professor Thun war ein geborener Rheinländer, hatte in Dorpat studiert und dann einige Jahre im Innern Rußlands zugebracht, sprach daher geläufig Russisch und wußte in russischen Verhältnissen ziemlich gut Bescheid. Als er aus unseren Gesprächen ersah, daß mir die Geschichte der russischen revolutionären Bewegung nicht unbekannt sei, schlug er mir vor, ihm bei der Arbeit zu helfen, was ich natürlich mit Freuden annahm. So kam es, daß wir ziemlich intim bekannt wurden.

Auf diese Weise lernte ich denn auch die Anschauungen kennen, die Professor Thun in bezug auf die russischen Terroristen und ihre Taten hegte; er verdammte sie rückhaltlos. Seiner Überzeugung nach war es Pflicht der europäischen Regierungen, solchen Personen das Asylrecht zu verweigern und sie wie gewöhnliche Verbrecher der russischen Regierung auszuliefern. Besonders erinnerte ich mich lebhaft des folgenden Vorganges. Professor Thun hatte im Baseler »Freisinnigen Verein« vor einem zahlreichen Publikum einen Vortrag gehalten über »zwei Episoden der russischen revolutionären Bewegung«. Diese Episoden waren: das Attentat gegen Alexander II. und der Tschigiriner Prozeß. Als er auf den letzteren zu sprechen kam, beschrieb er eingehend, wie »Stefanowitsch, Bochanowski und Deutsch aus der Kiewer Feste ausgebrochen waren«, und schloß mit der Bemerkung, daß derartige Verbrecher im Auslande weilen und daß »es leider« bisher nicht gelungen sei, ihrer habhaft zu werden.

Ich hatte dann Gelegenheit, nach dem Referat mit ihm über diese Dinge zu sprechen, und empfing den Eindruck, daß wenn Professor Thun meinen wirklichen Namen kennen würde, er zweifellos nicht nur den Verkehr mit mir abbrechen, sondern unter Umständen vielleicht bereit sein würde, mitzuwirken, daß man meiner »habhaft werde«. Das veranlaßte mich denn auch, meine persönlichen Beziehungen zu ihm auf ein Minimum zu reduzieren, und bald darauf verließ ich Basel.

Jetzt stand ich diesem Manne plötzlich als Gefangener gegenüber, und er wußte, wer ich bin! Man male sich also meine Empfindungen aus.

»Woher wissen Sie meinen Namen?« fragte ich, vor Erregung bebend.

»Ihr Freund Karl Moor hat ihn mir mitgeteilt, als Sie Basel verlassen hatten.«

»Und obwohl Sie wissen, wer ich bin, bieten Sie mir Ihre Hilfe an?« fragte ich erstaunt.

»Ja; sagen Sie, womit Ihnen gedient ist, und ich will tun, was ich kann.«

Ich konnte es kaum fassen, aber ein Blick in seine Augen sagte mir, daß ich ihm vertrauen dürfe. Es war jenes intuitive Vertrauen, das man zu einem Menschen faßt und das dann auch grenzenlos ist.

»Ich danke Ihnen,« sagte ich. »Also, wenn es mir nicht gelingt, auf legalem Wege aus diesem Gefängnis zu kommen, werde ich versuchen zu fliehen. Würden Sie mir beistehen?«

»Einverstanden,« sagte er einfach und ernst.

Ich konnte es noch immer nicht fassen; derselbe deutsche Professor, der in meiner Gegenwart öffentlich sein Bedauern darüber geäußert hatte, daß die Schergen des Zarismus meiner noch nicht »habhaft« geworden sind, mit anderen Worten, daß ich noch nicht am Galgen hing, derselbe Mann bietet mir seine Hilfe, um aus einem deutschen Kerker zu fliehen!

Er lieferte mir jedoch unverzüglich den Beweis, wie ernst es ihm war.

Als Übersetzer war er im Besitz aller Bücher, Briefe usw., die man mir abgenommen hatte. Er nahm mein Notizbuch, das man ihm ebenfalls eingehändigt hatte, bot es mir an und gab mir den Rat, einige Seiten, auf denen, wie er bemerkt hatte, Adressen eingetragen waren, welche mir schaden konnten, zu vernichten. Ich machte natürlich sofort Gebrauch davon.

Dann schlug ich ihm vor, er möchte unverzüglich nach Zürich reisen, dort meinem Freunde Axelrod mitteilen, was vorgefallen, ihn instruieren, wie er bei meiner Befreiung auf legaler Weise mitwirken könne, schließlich mit ihm die Mittel zur Bewerkstelligung meiner eventuellen Flucht zu erwägen, im Falle die Gefahr entsteht, daß die deutsche Regierung mich an Rußland ausliefere.

Diesen Auftrag erfüllte Professor Thun aufs genaueste, und während meiner Haft in Freiburg erwies er mir unendlich viele Liebesdienste, wobei er ernstlich Gefahr lief, seine Stellung zu kompromittieren. So veranstaltete er geheime Zusammenkünfte in der Freiburger Kathedrale mit meinen Freunden, die herbeigeeilt waren, um im Notfalle mir behilflich zu sein; er vermittelte den brieflichen und mündlichen Verkehr zwischen mir und meinen Genossen usw. Da er beständig zu mir Zutritt hatte, infolge des Vertrauens, das ihm die Gerichtsbehörde als einem angesehenen Professor entgegenbrachte, ließ er mich öfters in das Übersetzerbureau rufen, wo wir ungestört verhandelten oder auch plauderten. Bei diesen Besuchen sah ich, wie er von ganzem Herzen bestrebt war, mir zu helfen. Das ging so weit, daß er mir seine Wohnung als Zufluchtsort anbot, wenn ich gezwungen wäre zu fliehen. Zuweilen machte er sich dabei über seine eigene Rolle lustig.

»Nun schau einer an,« sagte er lachend, »ich, ein deutscher Professor in Amt und Würden, bin zu einem russischen Verschwörer geworden, und die friedliche badische Stadt ist der Schauplatz einer Verschwörung.«

Aus dem Verkehr mit dem Untersuchungsrichter wußte er genau, wie meine Sache stand, und hielt mich natürlich darüber auf dem laufenden.

*

Bei dem ersten Verhör gab ich dem Untersuchungsrichter folgende Darstellung der Sachlage:

Ich bin als russischer Student studienhalber ins Ausland gegangen. Hier habe ich geheiratet und habe ein Kind. Bisher hielt ich mich in der Schweiz auf, jetzt wollte ich in Freiburg bleiben, wohin meine Frau, die in Zürich weilt, mir folgen sollte. Meinen Unterhalt erwarb ich zum Teil durch literarische Arbeiten, zum Teil bestritt ich ihn aus eigenen Mitteln. In der Schweiz besuchte ich die Universität als Hospitant. Diese Angaben waren insofern notwendig, als Buligin, auf dessen Paß ich reiste, verheiratet war, mit Frau und Kind in Zürich weilte und dort die Universität besuchte. Was meine politischen Anschauungen anbetrifft, so war ich in dieser Beziehung bisher nicht zur vollen Klarheit gelangt; während meines Aufenthalts in der Schweiz jedoch wurde ich unter dem Einfluß der deutschen Literatur Anhänger der Sozialdemokratie und beschloß, soweit meine Kräfte reichen zur Verbreitung dieser Anschauungen in meinem Vaterlande zu wirken. Das entsprach so ziemlich der Wirklichkeit. Etwa ein Jahr vor den hier geschilderten Vorgängen, im Sommer 1883, hatten Plechanow, Wera Sassulitsch, Axelrod und ich die sozialdemokratische Organisation »Zur Befreiung der Arbeit« begründet; Zweck dieser Organisation war die Verbreitung der Marxschen Lehre in Rußland durch Übersetzungen und Originalabhandlungen. Die Schriften, die ich in meinem Koffer führte, waren eben dieser Art, die Erstlinge unserer schriftstellerischen Tätigkeit, die vor kurzem die Druckerpresse in der eigens hierfür errichteten Druckerei verlassen hatten. Als ich aus verschiedenen Gründen beschloß, nach Deutschland zu übersiedeln, nahm ich die bei mir vorgefundenen sozialdemokratischen Schriften mit, um sie hier eventuell an Landsleute zu verkaufen. Diese Schriften sind in Deutschland nicht verboten, ihr Besitz involviert daher nicht im entferntesten ein Vergehen, geschweige denn ein Verbrechen gegen deutsche Reichsgesetze.

»Und nun,« schloß ich, »werde ich in der freien deutschen Stadt, in Freiburg, ohne jede gesetzliche Grundlage verhaftet! Verhaftet ohne Einhaltung irgendwelcher gesetzlicher Formalitäten, allen möglichen Erniedrigungen unterworfen, in den Kerker gesperrt wie ein gemeiner Verbrecher. Dessen nicht genug: in meiner Gegenwart erdreistet sich die Polizei, eine freie Bürgerin des deutschen Staates ohne jeden Anlaß wie eine Dirne, wie eine Verbrecherin anzugreifen und zu verhaften. Da möchte ich doch wirklich fragen: Welcher Unterschied besteht zwischen dem konstitutionellen Rechtsstaate Deutschland und dem absolutistisch-despotischen Rußland? Schlimmer kann schließlich auch niemand in Rußland behandelt werden!«

Diese Worte schienen einigen Eindruck auf den Richter gemacht zu haben. Er schritt aufgeregt auf und ab, indem er dem Schreiber meine Aussagen diktierte, gab mir wiederholt sein Mitgefühl kund und äußerte sein scharfes Mißfallen über das Verhalten der Polizei bei meiner und der jungen Dame Verhaftungen. An einer Stelle meinte er: »Ganz wie bei Shakespeare: ›Aber das Tuch, das Tuch!‹«

Ich hatte den Eindruck, daß der Mann auf meiner Seite war. Später bestätigte mir auch Professor Thun, daß Herr Leiblein erklärt hatte, ihm komme die Sache durchaus harmlos vor, seiner Meinung nach werde hier ein »vollkommen Unschuldiger« in Haft gehalten, und er hoffe, ich werde bald in Freiheit gesetzt werden.

So hatte ich denn begründete Hoffnung, auf vollständig legalem Wege das deutsche Gefängnis verlassen zu können. Trotzdem stiegen immer wieder Zweifel in mir auf, und der Gedanke an die Flucht kam immer von neuem. In der ersten Zeit meiner Haft wäre diese Flucht bei einiger Hilfe von auswärts auch durchaus nicht schwierig gewesen.

Als ich so zwischen Hoffnung und Fluchtplänen hin und her schwankte, wurde ich eines Tags in das Besuchszimmer geführt. Ich erwartete, dort Professor Thun zu finden, und war erstaunt, als ich einem mir gänzlich unbekannten Manne gegenüberstand. Er nannte mir seinen Namen, der mir leider jetzt entfallen ist, und teilte mir mit, er sei Rechtsanwalt, und meine Freunde hätten ihn aufgefordert, meine Verteidigung zu führen; er gerierte sich sofort als Mitglied der deutschen Sozialdemokratie, als Parteigenosse und forderte mich auf, ganz offen gegen ihn zu sein, da meine Freunde ihm bereits alles, was meine Vergangenheit anbetreffe, erzählt hätten.

»Sie wollen einen Fluchtversuch unternehmen?« fragte er mich im Flüsterton, und als ich bejahte, erwiderte er eifrig: »Das wäre ein unverzeihlicher Schritt Ihrerseits! Ich habe soeben die Akten eingesehen. Ihre Sache steht sehr günstig, und ich zweifle nicht, daß man Sie bald freiläßt. Warum wollen Sie sich der Gefahr einer Flucht aussetzen? Mißlingt der Versuch, dann verschlimmern Sie Ihre Lage bedeutend. Ich habe auch mit dem Untersuchungsrichter gesprochen; er ist überzeugt, daß nichts von Bedeutung gegen Sie vorliegt. Sobald die Recherchen über Ihre Personalien in der Schweiz ein günstiges Resultat ergeben, wird man Sie freilassen.«

»Nun, und wenn man gleichzeitig Recherchen über meine Personalien in Rußland anstellt?« wendete ich ein.

»Es liegt nicht der geringste Grund für eine solche Annahme vor,« erwiderte der Jurist. »Ein solches Vorhaben müßte doch auf irgendeine Weise sich bemerkbar machen. Wir haben doch schließlich hier in Deutschland nicht russische Zustände, das Verfahren ist nicht geheim. Im Gegenteil, das Gesetz bestimmt, daß die Untersuchung nicht geheim gehalten werden darf, und mir, als Ihrem Rechtsbeistand, sind anstandslos alle Akten in Ihrer Angelegenheit ausgeliefert worden. Es müßte also in diesen Akten irgendwo erwähnt sein, daß man sich mit Rußland verständigen wolle. Bei unserem Prozeßverfahren ist es absolut ausgeschlossen, daß eine derart komplizierte Erhebung geheim bleiben sollte.«

»Ja,« warf ich ein, »woher haben Sie aber die Gewißheit, daß nicht die Gerichtsbehörde, wohl aber die administrativen oder politischen Behörden unterdessen mit den russischen sich ins Einvernehmen setzen?«

»Verwaltung und Polizei dürfen sich in Deutschland nicht unaufgefordert in Gerichtssachen mischen. Sie wurden verhaftet, weil Gründe für die Annahme Vorlagen, daß Sie in Beziehung mit Personen stehen, die in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden; sind Sie jedoch einmal freigesprochen – und weder ich noch der Untersuchungsrichter haben den geringsten Zweifel, daß man Sie freispricht –, so werden Sie unbedingt entlassen; es handelt sich einzig um die Bestätigung Ihrer Personalien in der Schweiz. Sie können sich darauf verlassen: als deutscher Jurist kenne ich doch unser Gesetz und Gerichtsverfahren; Sie dagegen urteilen auf Grund der russischen Zustände, die aber absolut andere sind.«

Zwar sagte mir eine innere Stimme, daß der deutschen Gesetzmäßigkeit nicht so ganz zu trauen sei, aber Vernunftgründe hatte ich nicht zur Verfügung, da mir ja in der Tat die deutschen Verhältnisse gänzlich fremd waren, und ein Fluchtversuch, wenn auch in der ersten Zeit leicht zu bewerkstelligen, schloß doch immerhin ein bedeutendes Risiko ein; niemand konnte für den Ausgang garantieren. Diese Erwägungen führten mich dazu, die Fluchtpläne zwar nicht ganz aufzugeben, aber doch zu verschieben, bis Beweise vorlagen, daß die deutschen Behörden sich über meine Person mit der russischen Regierung ins Einvernehmen setzten. Es schien, daß derartige Schritte mir nicht verborgen bleiben würden, hatte ich doch den angesehenen und einflußreichen Professor Thun auf meiner Seite, zu dem die Freiburger und badischen Behörden in besten Beziehungen standen; es mußte also gelingen, durch ihn Nachricht zu erhalten, ob und was gegen mich geplant war.


 << zurück weiter >>