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XXVI
Die weibliche Abteilung. – Der Beginn der Tragödie

Zu den traurigsten Erinnerungen aus meiner Kerkerzeit gehört eine Tragödie, die sich im Kreise unserer unglücklichen Genossinnen abspielte. Wir waren stets gut darüber unterrichtet, wie es unseren Damen erging, denn trotz aller Absperrungsmaßregeln wurden doch beständig Briefe zwischen uns gewechselt; viele Einzelheiten erfuhr ich dann noch nachträglich im Verkehr mit einigen der Leidensgenossinnen.

Als ich im Jahre 1885/86 nach Kara kam, waren zehn Frauen dort eingekerkert, von denen Frau Lebedjeff bald darauf starb. Über diese Märtyrerinnen des revolutionären Kampfes will ich das wichtigste, soweit es mir noch in Erinnerung ist, mitteilen.

Da war vor allem Sophie Löschern-von-Herzfeld, damals eine Frau von sechsundvierzig Jahren. Sie war die Tochter eines Generals und ihre Verwandten gehörten den Hofkreisen in Petersburg an. Zu Beginn der siebziger Jahre schloß sich Sophie Löschern der propagandistischen Bewegung an; als Bäuerin verkleidet, lebte sie unter Bauern und suchte dort die Ideen des »friedlichen Sozialismus«, um sich so ausdrücken zu dürfen, zu verbreiten. Sie wurde verhaftet, erlitt vier Jahre Untersuchungshaft und wurde schließlich in dem »Prozeß der 193« zur Verbannung nach Sibirien verurteilt. Den Bemühungen einer ihrer Verwandten, einer Hofdame der Kaiserin, gelang es, ihre Begnadigung zu erzielen, und 1878 wurde sie aus dem Gefängnis entlassen. Damals lernte ich sie in Petersburg kennen. Aber sie sollte sich nicht lange der Freiheit erfreuen. Schon ein Jahr darauf wurde sie in Kiew verhaftet, wobei sie mit der Waffe in der Hand Widerstand leistete; mit Ossinski und Woloschenko wurde sie vor ein Kriegsgericht gestellt. Sie und Ossinski wurden zum Tode verurteilt und das Urteil an Ossinski vollzogen, Sophie Löschern wurde zu lebenslänglicher Strafarbeit begnadigt und im Jahre 1879 nach Kara deportiert.

Sie machte den Eindruck einer bescheidenen, ja schüchternen und in sich gekehrten Frau. Von allen Teilnehmern der Bewegung zu Anfang der siebziger Jahre war sie die einzige, die eine so lange Gefängnishaft zu überstehen hatte.

Auch ihre Freundin Anna Korba lernte ich 1879 in Petersburg kennen. Sie war damals vom Kriegsschauplatz in der Türkei zurückgekehrt, wo sie als Samariterin gewirkt hatte. Sie stammte aus einer russifizierten deutschen Familie namens Meinhardt, die eine große Anzahl hoher Beamten geliefert hat. An einen Ausländer verheiratet, hatte sich Anna einer umfangreichen philanthropischen Tätigkeit gewidmet, und ward der Liebling der Bevölkerung der Provinzstadt, wo sie wohnte. Aber bittere Erfahrungen hatten sie gelehrt, wie unfruchtbar jedes Bestreben sein mußte, in Anbetracht der russischen Verhältnisse auch nur die geringsten Resultate durch friedliche Kulturarbeit zu erreichen und so schloß sie sich zu Beginn der achtziger Jahre der terroristischen Partei »Narodnaja Wolja« an. Es war damals die Zeit, wo der Verzweiflungskampf dieser Partei gegen den Zarismus den Höhepunkt erreicht hatte; Anna Korba sah Dutzende ihrer Freunde und Genossinnen verhaftet, aufs Schafott geschickt, im Kerker begraben. Der weiße Terror wütete; dem Befehlshaber der »Schutzwache« Ssudeikin war es gelungen, im Jahre 1882 die meisten Terroristen, die nach dem erfolgreichen Attentat gegen Alexander II. noch wirkten, zu verhaften. – Anna Korba unternahm mit den letzten Mohikanern die Fortsetzung des Kampfes. In Petersburg entsteht ein geheimes Laboratorium zur Herstellung von Dynamitbomben; Ssudeikin spioniert es aus, und Anfang Juni 1882 wird Anna Korba zusammen mit Grotschewski, dem Offizier Buzewitsch und den Eheleuten Pribyljeff verhaftet. Im nächsten Frühjahr wurde sie mit sechzehn anderen Personen abgeurteilt; das Urteil lautete zwanzig Jahre Strafarbeit.

Anna Korba war eine hochgebildete Frau, von mutigem, gleichmäßigem und ausdauerndem Charakter. Ihre Anschauungen sind heute noch die gleichen, wie damals, als sie sich in den Kampf stürzte. Der unerschütterliche Glaube an ihre Sache flößt selbst Leuten, die diese Anschauungen nicht teilen, Achtung ein.

Ehe ich die übrigen Insassen des Frauengefängnisses in Kara schildere, möchte ich an eine Begebenheit erinnern, die seinerzeit das gesamte zeitungslesende Publikum in Atem hielt. Gegen Ende Februar des Jahres 1881 hatte die Polizei in St. Petersburg Verdacht geschöpft, daß in einem in einer starken Verkehrsstraße belegenen Käseladen verdächtige Dinge getrieben werden; eine angestellte Untersuchung fand aber nichts Auffallendes. Am Tage darauf erfolgte das Attentat gegen den Zaren und drei Tage später war der Käseladen plötzlich von seinen Inhabern verlassen. Als Inhaber figurierten die Eheleute Koboseff, Bauern aus dem Innern Rußlands, die einen tadellosen Paß aufwiesen. Jetzt ging die Polizei abermals an eine Untersuchung und fand, daß aus dem Käseladen ein unterirdischer Gang nach der Malaja Sadowaja, einer Straße, die der Zar oft passierte, angelegt war. Der Tunnel sollte dazu dienen, den Wagen des Zaren in die Luft zu sprengen, im Falle die Bomben versagen sollten. Man kann sich vorstellen, was die beiden Revolutionäre, die unter dem Namen Koboseff sich verbargen, ausstanden, als die Polizei in ihren Laden drang; der unterirdische Gang war damals bereits fertig und die großen Tonnen und Kisten, die angeblich Käse enthielten, waren mit der ausgegrabenen Erde angefüllt. Hätte die Polizei bei der ersten Haussuchung nur die Strohmatten gelüftet, die auf den Tonnen lagen, so wäre wahrscheinlich auch damals das Attentat, wie schon so oft vorher, vereitelt worden.

Die Frau, die in jenem Laden als die Bäuerin Koboseff die Kunden bediente, war die Tochter eines Geistlichen, Anna Jakimoff. Sie war ihrem Berufe nach Dorflehrerin, aber wie so viele damals,, ins Volk gegangen« und wurde dann in dem »Prozeß der 193« verurteilt. Das Gericht sprach sie frei, aber trotzdem wurde sie »auf administrativem Wege« nach Nordrußland geschickt; im Jahre 1879 flüchtete sie von dort und kam nach Petersburg, wo ich sie kennen lernte. Später schloß sie sich der »Narodnaja Wolja« an und beteiligte sich aktiv an einer ganzen Reihe Attentate gegen den Zaren. Sie hatte zum Beispiel im Verein mit Scheljaboff, und anderen im Herbst 1879 die Station Alexandrowskaja unterminiert, die der Zar passieren sollte. Später wurde sie verhaftet und in dem »Prozeß der Zwanzig« zum Tode verurteilt, dann aber begnadigt; man sperrte sie in der Peter-Pauls-Feste ein und erst 1884 wurde sie nach Kara gebracht.

Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, daß Sophie Jakimoff eine willensstarke und entschlossene Persönlichkeit war. Alle die Frauen, die an der Bewegung der siebziger Jahre teilnahmen, bildeten in dieser Beziehung einen Typus. Auch Praskowja Ivanowskaja und Nadeschda Smirnizkaja, die in einem Prozeß 1883 verurteilt worden waren, gehörten jener Kategorie an.

Diese Frauen bildeten eine einheitliche Gruppe im Gefängnis zu Kara. Sie waren von früher her miteinander befreundet, bekannten sich zu den gleichen Grundsätzen und harmonierten miteinander in bezug auf Charakter und Temperament.

Außer ihnen waren hier noch eingekerkert Elisabeth Kowalskaja, Sophie Bogomolez und Helena Rossikoff, die man aus Irkutsk im Jahre 1885 abermals nach Kara geschafft hatte. Außerdem war, wie wir bereits wissen, gemeinsam mit mir und Tschujkoff, Marie Kaljuschnaja eingetroffen.

Somit beherbergte der Frauenkerker in gewissem Sinne eine Elite. Während in dem Männergefängnis ein großer Teil aus blutjungen Menschen bestand, deren Anschauungen durchaus unklar waren und die nur infolge des wahnwitzigen Verfolgungssystems der Ausnahmegerichte in dem sibirischen Kerker schmachteten, waren die Frauen ohne Ausnahme zielbewußte und erprobte Anhänger der revolutionären Bewegung, deren Fühlen und Denken ein für allemal bestimmt war. Nur in Rußland hatte die historische Entwicklung dazu geführt, daß eine so große Zahl enthusiastischer Frauen aus dem Kreise der oberen Gesellschaftsschichten sich der revolutionären Bewegung anschloß.

Die Lebensbedingungen unserer Genossinnen waren im allgemeinen ein wenig günstiger als die der Insassen des Männergefängnisses. Vor allem hatten sie jede eine Zelle für sich, zwar waren diese Zellen klein, düster und feucht, aber die Frauen waren auf diese Weise der größten Qual enthoben, die uns das Leben unerträglich machte. Jede von ihnen hatte die Möglichkeit, sobald es ihr beliebte, sich zu isolieren, sie waren nicht gezwungen, die Gegenwart anderer unablässig zu ertragen und andererseits konnten sie miteinander verkehren, da ihnen außer den Einzelzellen eine große Kammer zur Verfügung stand und die Zellen tagsüber nicht geschlossen wurden. Auch waren sie materiell etwas besser gestellt, da sie von ihren Verwandten mit Geld versehen wurden; sie konnten daher für bessere Beköstigung sorgen und zuweilen überwiesen sie sogar kleine Summen an unsere Kasse. Natürlich fiel für sie auch die barbarische Prozedur des Rasierens fort, sie durften ihre eigenen Kleider tragen und die Verwaltung hütete sich auch, sie mit kleinlichen Schikanen zu reizen. Aber die Eigenart des Charakters dieser Frauen, ihre ganze Denkweise, ihre Standhaftigkeit, die unter den gegebenen Bedingungen in Trotz ausarten konnte, führten zu einer ganzen Reihe Konflikte, sowohl untereinander als auch mit den Behörden.

Es herrschte durchaus keine Einigkeit unter ihnen in bezug auf die Haltung der Gefängnisordnung und den Behörden gegenüber. Während Sophie Bogomolez, Marie Kowalewskaja und Helene Rossikoff es gewissermaßen als einen Teil ihres politischen Programms betrachteten, beständigen Kampf um jedes und alles mit der Behörde zu führen, möglichst schroff aufzutreten, waren die anderen Anhängerinnen der terroristischen Taktik der Meinung, daß man nicht unnötigerweise verhängnisvolle Zusammenstöße heraufbeschwören solle. Diese Meinungsverschiedenheit führte zu beständigen Reibereien und zu sehr gespannten persönlichen Beziehungen.

Gewöhnlich wurden die Frauen in Kara bei der Einlieferung von einer Aufseherin untersucht, ob sie nicht verbotene Dinge bei sich führten; und die Aufseherin erledigte die Prozedur, die nun einmal zu ihren Pflichten gehörte, wie eine einfache Formalität. Sophie Bogomolez und Rossikoff dagegen erklärten, als man sie aus Irkutsk zurückbrachte, schroff, sie würden sich nicht untersuchen lassen. Der Verwalter des Gefängnisses erschien und redete ihnen zu, sie möchten sich den Vorschriften der Instruktion, die er nicht ändern dürfe, fügen. Darauf wurde ihm von den beiden die Antwort: »Nicht uns sollte man untersuchen, sondern euch Staatsdiebe, ihr bestehlt jeden Tag den Staat, ihr habt die Taschen voll gestohlenen Gutes, ihr seid allesamt Spitzbuben, ihr laßt die Magazine verbrennen, um das Brot der Gefangenen zu stehlen.« Das Ende vom Liede war, daß man sie mit Gewalt untersuchte. Derartige Proteste hielten die anderen Frauen für zwecklos.

Im Frühjahr 1887 wurde auch Marie Kowalewskaja aus Irkutsk nach Kara gebracht. Sie kam gerade zu einer Zeit, als die Reibereien im Frauengefängnis unerträglich geworden waren und bald darauf stellten vier von ihnen, Sophie Löschern-Herzfeld, Anna Korba, Anna Jakimoff und Paraskowja Iwanowskaja, das Verlangen an den Kommandanten, man möge sie von den übrigen Gefangenen trennen. Zur gleichen Zeit waren Bogomolez und Rossikowa infolge irgend eines Zusammenstoßes mit der Behörde in ein besonderes Gefängnis gesperrt worden. Es waren daher eine Zeitlang nur vier Frauen in dem Gefängnis in Ust-Kara: Kowalskaja, Kaljuschnaja, Kowalewskaja und Smirnizkaja.

In dieser Zeit nun ereignete sich folgendes: Im Frühjahr 1888 visitierte der Generalgouverneur Baron Korf die Gefängnisse in Kara. Als er mit seiner Suite in das Frauengefängnis kam, saß gerade Marie Kowalewskaja auf einer Bank im Freien; als der Gouverneur auf sie zukam, blieb sie ruhig sitzen und würdigte ihn keines Blickes. Er fuhr sie barsch an: »In seiner Gegenwart habe sie sich zu erheben, er sei der höchste Verwalter des Landes.«

»Ich habe Sie nicht dazu gewählt«, antwortete Kowalewskaja in aller Ruhe und blieb sitzen.

Der Würdenträger schäumte vor Wut; er werde schriftliche Instruktionen schicken, wie mit der störrischen Gefangenen zu verfahren sei, erklärte er dem Kommandanten. In der Tat traf kurz darauf der Befehl ein, Kowalewskaja in das Zentralgefängnis zu Werchny-Udinsk einzuliefern, »da sie durch ihr unbotmäßiges Betragen demoralisierend auf die anderen Strafgefangenen in Ust-Kara einwirke«.

Die Freundinnen von Marie Kowalewskaja behaupteten, sie habe den Konflikt vom Zaune gebrochen, um auf diese Weise ihre Überführung in ein anderes Gefängnis zu erzwingen, so sehr war ihr der Aufenthalt in Kara verhaßt geworden. Auf diese Weise mußte ihr die Maßregel des Generalgouverneurs durchaus willkommen sein. Der stumpfsinnige und feige Kommandant Masjukoff faßte aber die Sache anders auf. Er nahm an, daß Kowalewskaja und ihre Genossinnen Widerstand leisten würden und beschloß infolgedessen, die Gefangene insgeheim zu entführen!

In aller Frühe, als die Gefangenen noch schliefen, drangen Gendarmen, von Kriminalsträflingen unterstützt, in die Zelle ein, packten die schlafende Kowalewskaja und schleppten sie, wie sie war, nur mit einem Hemd bekleidet, in die Kanzlei; erst hier durfte sie sich ankleiden, um sofort nach ihrem neuen Bestimmungsort transportiert zu werden. Natürlich erhob die derart überfallene ein Geschrei, die anderen Gefangenen erwachten, sprangen aus den Betten und waren Zeugen der niederträchtigen Gewaltszene. Der Zorn gegen den Kommandanten war grenzenlos; die Frauen erblickten in dieser barbarischen Behandlung der Leidensgenossin eine gemeinsame Beleidigung der weiblichen Ehre.

*

Lange Zeit drangen nur unklare Gerüchte über diesen Vorgang zu uns, da gerade damals unsere Geheimpost nicht regelmäßig funktionierte. Die Einzelheiten erfuhren wir erst nachträglich durch den Wachtmeister Golubzoff, woran sich eine der schlimmsten Situationen knüpfte, die ich während meiner Verbannung in Sibirien erlebte.

Der einfache Wachtmeister Golubzoff, der kaum lesen und schreiben konnte, war eine höchst wichtige Persönlichkeit in unserem Gefängnis. Es war ein außerordentlich kluger, geschickter und taktvoller Mann; sein Umgang mit den Staatsgefangenen, die er seit einer Reihe von Jahren unter den verschiedenen Kommandanten zu überwachen hatte, hatte ihn viel gelehrt; er kannte unsere Sitten, Anschauungen und Gewohnheiten. Das befähigte ihn, mit uns alle Mißverständnisse und Schroffheiten zu vermeiden, so daß wir stets auf bestem Fuße mit ihm standen. Andererseits sicherte ihm diese seine Stellung und sein erstaunlicher Takt das Übergewicht über den tölpischen und unerfahrenen Masjukoff; der erfahrene Wachtmeister beherrschte seinen Kommandanten vollständig und war eigentlich die maßgebende Persönlichkeit. Als der Befehl des Generalgouverneurs kam und Masjukoff in seiner Beschränktheit auf die unglückselige Idee der Entführung kam, hatte der Wachtmeister ihn dringend gewarnt, fand aber diesmal kein Gehör. Erst als die gefangenen Frauen zu dem traurigen Mittel des Hungerprotestes griffen, suchte der Kommandant Rat bei seinem Untergebenen. Golubzoff empfahl ihm, er möge den männlichen Gefangenen alles klarlegen und unsere Intervention herbeiführen.

Dieser kluge Plan lag um so näher, als sich unter uns der Bruder einer der Protestlerinnen, der Marie Kaljuschnaja, befand. Es war ein Student der Charkower Universität, ein begabter, frohmütiger, geistreicher Mensch, ein prächtiger Kamerad und der Liebling der meisten Genossen. Er war Terrorist und wurde 1883 zu fünfzehnjähriger Strafarbeit verurteilt und mit ihm seine Frau Nadeschda Smirnizkaja. Es waren sowohl seine Schwester als seine Gattin Zeugen jener Szene gewesen und beide hatten natürlich jetzt auch Teil an dem verzweifelten Protest im Frauengefängnis. Darauf eben baute der kluge Wachtmeister seinen Plan und gab dem Kommandanten den Rat, den Bruder und Gatten zum Vermittler zu wählen. Masjukoff war vernünftig genug, darauf einzugehen. Er ließ Kaljuschny zu sich in die Wohnung kommen und erzählte ihm aufrichtig alles, was geschehen war. Schließlich teilte er ihm mit, daß seine Gattin, seine Schwester und Marie Kowalskaja seit einigen Tagen sich weigern, Nahrung zu nehmen. Der Kommandant bat nun, Kaljuschny möge sich nach Ust-Kara begeben und die Frauen beruhigen und sie bewegen, ihren Hungerprotest aufzugeben. Er versprach ihm dabei von vornherein, den Frauen Genugtuung zu geben. Wie Kaljuschny uns dann sagte, bereute der unglückselige Kommandant in der Tat aufrichtig das Geschehene.

Kaljuschny behielt sich vor, seine Genossen zu befragen, ehe er die Mission übernähme und forderte die Erlaubnis, daß wir gemeinsam die Angelegenheit beraten dürfen. Das wurde ihm gewährt und wir traten insgesamt zu einer Versammlung zusammen; ein seit Einführung der Gendarmerieverwaltung im Gefängnis zu Kara unerhörtes Vorkommnis. Der Bericht des unglücklichen Bruders und Gatten über den Hungerprotest der Frauen machte tiefen Eindruck auf uns alle; als er geendet, herrschte Grabesstille in der Versammlung. Der sonst immer schweigende Jazewitsch ergriff als erster das Wort und ohne lange Debatten beschlossen wir, daß außer Kaljuschny noch ein anderer Delegierter aus unserer Mitte sich zu den Frauen begeben und sie bewegen sollten, ihren Protest aufzugeben, dann würden wir die Führung ihrer Sache gegen Masjukoff übernehmen; dem Kommandanten dagegen stellten wir die Bedingung, daß er sich bei den drei Frauen entschuldigen müsse.

Unseren beiden Delegierten wurde gestattet, sich in Begleitung von Gendarmen nach dem fünfzehn Werst entfernten Frauengefängnis zu begeben, trotzdem das ein Verstoß gegen die Instruktion war. Als die beiden von ihrer Mission zurückkehrten und wir abermals uns versammelten, erfuhren wir, daß die hungernden Frauen sich mit einer Entschuldigung seitens des Kommandanten nicht begnügen wollten. Alle drei, und besonders Marie Kowalskaja erklärten, sie würden erst dann ihren Protest einstellen, wenn Masjukoff Kara verlasse.

Die Majorität von uns, darunter auch ich, sahen sofort ein, daß die Forderung unerfüllbar sei; die reaktionäre Regierung mit dem Grafen Demetrius Tolstoi an der Spitze hätte den Kommandanten nicht abberufen, selbst wenn alle Staatsgefangenen in Sibirien sich dem Hungertode geweiht hätten. Doch glaubten wir einen Mittelweg finden zu können, wenn wir den Kommandanten bewegten, aus eigenen Stücken, unter irgend einem Vorwande, seine Versetzung nachzusuchen. Darauf gingen sowohl der Kommandant als die hungernden Frauen ein, aber die letzteren erklärten kategorisch, daß wenn der Kommandant nicht innerhalb der von ihnen festgesetzten Frist von einigen Monaten fort sei, sie abermals die Nahrung abweisen würden und dann auch ausharren würden bis ans Ende.

Wie leicht vorauszusehen, war die Lösung damit nur aufgeschoben.


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