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XIV
Der käufliche Aufseher. – Die gesprengten Fesseln. Widerstand gegen das Rasieren. – Wiedersehen.

Im Moskauer Gefängnis standen wir Gefangenen miteinander in fortwährendem Verkehr, und außerdem erhielten wir bald Gelegenheit, alles zu erfahren, was außerhalb der Gefängnismauern sich zutrug. Eines der Mittel hierzu war die Käuflichkeit eines Aufsehers.

Dieser Mann im Alter von ungefähr fünfundzwanzig Jahren – nennen wir ihn Smirnoff – gehörte seiner Abstammung nach dem verarmten kleinen Landadel an. Er hatte nichts gelernt und hatte keinen bestimmten Beruf; seine Schwester war die Mätresse eines hohen Würdenträgers, und ihrer Protektion verdankte er seinen Posten als Gefängnisaufseher. Mit allen Hunden gehetzt, durchtrieben, verwegen, war er zu jedem Abenteuer bereit und wäre wohl auch vor einem Verbrechen nicht zurückgeschreckt. Da er selbst kaum lesen und schreiben konnte, so imponierte ihm Bildung über alle Maßen, und das veranlaßte ihn auch, sich bei uns, den »Politischen«, einzuschmeicheln. So war er uns doppelt ergeben, einmal, weil der Verkehr mit uns seine Eitelkeit kitzelte, zweitens, weil wir ihm jede Dienstleistung freigebig mit klingender Münze bezahlten. Besonders hatte er mich ins Herz geschlossen und kam oft in meine Zelle, um über alles mögliche zu schwatzen. Er hat denn auch, wenn ich nicht irre, aus freien Stücken mir den Vorschlag gemacht, aus dem Gefängnis zu fliehen. Ich überlegte denn auch hin und her, fand aber keinen ausführlichen Plan.

»Hören Sie,« sagte er einmal, »wir kneifen zusammen aus! Ich führe Sie als Heizer oder Lampenputzer verkleidet aus dem Gefängnis, und dann gehen wir zusammen ins Ausland.«

Dieser Plan hatte in der Tat etwas für sich, aber vieles sprach wiederum dagegen. Vor allem verbot das Gefühl der Solidarität, daß ich allein die Flucht ergriff, während die beiden anderen Kameraden, die zumal schwerere Strafen zu verbüßen hatten, im Kerker blieben. Sodann waren dazu große Geldmittel notwendig, über die ich nicht verfügte, und schließlich wäre ich in diesem Falle zeitlebens den Mann nicht los geworden. Diese Erwägungen veranlaßten mich, das Angebot abzuschlagen.

Meine Kameraden hatten unterdessen selbständig einen Fluchtplan gefaßt, indem sie die Mauer durchbrechen wollten. Obwohl sie ihre Vorbereitungen sorgfältig geheim hielten, kam Smirnoff doch dahinter.

»Meinen Sie, ich weiß nicht, daß Ihre Kameraden ausbrechen wollen?« sagte er eines Tags. »Sie sollen es nur so einrichten, daß ich nicht hereinfalle, verraten werde ich sie nicht.«

Ich versprach ihm natürlich, daß man ihn auf jeden Fall schonen werde, und verständigte die Kameraden. Bald sahen sie jedoch ein, daß die Flucht auf diesem Wege unmöglich war, und gaben ihren Plan auf.

Anzeige gegen uns hätte dieser Mann nicht erstatten können, dazu war er zu sehr in unseren Händen. Einmal jedoch zwang ich ihn selbst, mich anzuzeigen.

Wir hatten nämlich erfahren, daß in diesem Gefängnis die Kriminalverbrecher insgeheim sich der Fesseln entledigten, und zwar nicht nur bei Nacht, sondern auch am Tage, und daß die Beamten dabei durch die Finger sahen. Ich beschloß also, ihrem Beispiel zu folgen und meine Fesseln abzuwerfen, aber nicht heimlich, sondern offen.

»Smirnoff, bringen Sie mir mal einen Hammer und einen Nagel,« sagte ich.

»Was wollen Sie damit?«

»Das werden Sie schon sehen.«

Er tat, wie ihm geheißen. Ich betrat darauf die Plattform und schlug in seiner Gegenwart die Nieten aus dem Eisen.

»Aber was tun Sie da? Jetzt werde ich es ausbaden müssen!« rief Smirnoff.

»Keine Spur,« antwortete ich. »Gehen Sie sofort und melden Sie dem Verwalter, ich hätte die Fesseln gelöst.«

»Aber ich kann Sie doch nicht denunzieren, das geht doch nicht.«

»Schwatzen Sie nicht. Tun Sie, was ich Ihnen sage.«

Er ging endlich kopfschüttelnd ab und rief mich bald darauf vor den Verwalter. Ich band die Fesseln an Stelle der Nieten mit einem Bindfaden fest und ging.

»Was? Sie haben die Fesseln kaputtgeschlagen?« rief der alte Herr in höchster Aufregung.

Ich bejahte.

»Also wollen Sie ausbrechen?« Er schlug die Hände über dem Kopfe zusammen ob dieser fürchterlichen Entdeckung.

»Ganz im Gegenteil,« antwortete ich. »An Ihrer Stelle würde ich mich freuen, wenn jemand so offen sich der Fesseln entledigt.«

»Was soll denn Erfreuliches dabei sein?« staunte er. »Ich kann deshalb vor Gericht gestellt werden.«

Überlegen Sie, bitte: Wenn ich flüchten wollte, würde ich doch sicher nicht in Gegenwart des Aufsehers die Fesseln sprengen. Ich würde dann im Gegenteil vermeiden, den leisesten Verdacht zu erregen. Sie müssen also selbst einsehen, daß wenn ich in dieser Weise die Fesseln zerschlagen habe, es mir nur darauf ankam, mich einer unnötigen Last zu entledigen, die mich beim Gehen und besonders beim Schlafen inkommodierte.«

»Ja, aber ich kann doch nicht meine Einwilligung dazu geben, daß Sie so mir nichts dir nichts die Fesseln abwerfen?« ereiferte er sich.

»Ist auch gar nicht nötig. Sie brauchen nur zu tun, als wenn Sie nichts davon wüßten, als wenn ›alles in bester Ordnung‹, wie es ja wohl in Ihren wie in allen anderen Rapporten in Rußland heißt.«

»Sie haben gut reden! Wenn es aber die Vorgesetzten erfahren?« meinte jetzt schon halb und halb einverstanden der alte Herr.

»Die Vorgesetzten! Wenn Sie nichts sagen, erfährt es niemand. Der Gouverneur wird doch nicht etwa meine Fesseln betasten, ob Nieten daran sind oder ein Bindfaden.«

»Also wenn ein Vorgesetzter kommt, das Gefängnis zu visitieren, werden Sie die Fesseln anhaben?« fragte er beruhigt und erfreut.

»Natürlich! Sie sehen ja, ich bin auch jetzt in voller Parade zu Ihnen gekommen,« damit wies ich auf meine zusammengebundenen Fesseln.

Wir schieden, zufrieden mit unserer Abmachung. – So hatten wir also die nichtoffizielle Einwilligung erlangt, keine Fesseln zu tragen. Schwerer war es zu erreichen, daß man uns mit dem Rasieren verschonte; nach der Vorschrift mußte nämlich jeden Monat die Hälfte des Kopfes von neuem rasiert werden. Da hier keine diplomatischen Kniffe verfingen, beschlossen wir einfach, uns nicht zu fügen. – Als daher eines Morgens der Bader in den Turm kam und der Aufseher uns aufforderte, uns rasieren zu lassen, weigerten wir uns kurzweg. Er meldete es natürlich dem Verwalter, und der Kapitän ließ uns einzeln zu sich kommen und redete auf uns ein.

»Ich bitte Sie, was kann ich denn tun?!« rief der gutmütige Alte.

»Rapportieren Sie einfach dem Gouverneur: ›so und so, die Gefangenen wollen sich nicht gutwillig den Kopf rasieren lassen, sie erklären, daß sie nur der Gewalt weichen würden‹. Wir haben ja nichts gegen Sie,« setzte ich ihm auseinander, »wir haben auch nichts gegen den Gouverneur, sondern wir lehnen uns einfach gegen ein barbarisches, schimpfliches Verfahren auf und müssen zur Selbsthilfe greifen, da kein anderes Mittel vorhanden ist, um diese Unsitte zu beseitigen; die öffentliche Meinung ist ja geknebelt, wie Sie wissen, Preßfreiheit und Redefreiheit gibt es nicht, also bleibt nur der Protest der Beteiligten.«

Ob er seinen Vorgesetzten unseren Protest gemeldet hat, erfuhren wir nicht, aber wir blieben während der ganzen Zeit in diesem Gefängnis von der widerwärtigen Prozedur verschont.

*

Die Gefängnisordnung bestimmte, daß die Personen verschiedener Kategorien verschieden zu behandeln seien. So waren die Gefangenen, die auf administrativem Wege verschickt wurden, in mancher Hinsicht besser gestellt als die durch gerichtlichen Urteilsspruch Verbannten, und diese wiederum etwas besser, als die zu Strafarbeit Verurteilten. Aber zwei bis drei Monate später hatten wir es so weit gebracht, daß diese Unterschiede nahezu vollständig verwischt waren und nur noch insofern bestanden, als wir, die zu Strafarbeit Bestimmten, die Sträflingskleider zu tragen hatten, während die Verbannten und die »Administrativen« ihre eigenen Kleider beibehielten, außerdem durften wir nicht wie jene unsere Damen, die in einem besonderen Turme eingeschlossen waren, sehen. – Dieser Verkehr war eigentlich nur dann gestattet, wenn die Betreffenden miteinander verwandt, verheiratet oder verlobt waren. Aber dem war bald abgeholfen: Die Frauen und die Männer verständigten sich untereinander und richteten gleichzeitig, eine Bittschrift an den Gouverneur, man möchte ihnen gestatten einander zu sprechen, da sie verlobt seien. Meistenteils war das natürlich fingiert, was die Verwaltung sehr wohl wußte, und der einzige Zweck war, die Einförmigkeit des Kerkerlebens zu unterbrechen. Andererseits führten diese fingierten Verlobungen dazu, manche von den Paaren in der Tat einander näherzubringen; man bedenke, daß es zumeist junge Leute von achtzehn bis achtundzwanzig Jahren waren; dabei hatten die äußeren Umstände, unter denen diese Unterredungen stattfanden, einen eigenen poetischen Reiz. Die jungen Leute sahen einander in der Gefängniskanzlei, einem unheimlichen Raume mit Eisengittern an den Fenstern; jedes Wort wurde von den Beamten überwacht; den Gesichtern prägte das Kerkerleben einen besonderen, gleichsam durchgeistigten und romantischen Ausdruck auf. Diese und andere Umstände mochten dann dazu führen, daß bei den jungen Paaren wirklich oft tiefe Neigung zu einander entstand. Zuweilen blieb das Verhältnis ein rein Platonisches, zuweilen aber führte es auch zur Ehe. Natürlich war im letzteren Fall das junge Paar der herzlichen Teilnahme aller Kameraden sicher, wobei aber ein klein wenig Egoismus mit unterlief. Da nämlich die Trauung in der Gefängniskirche stattfand, so war es jedesmal ein großes Ereignis, das die Einförmigkeit angenehm unterbrach.

Außerdem durften die Gefangenen von Zeit zu Zeit Besuche von auswärts empfangen. Da wiederum die Erlaubnis zu derartigen Besuchen nur Verwandten erteilt wurden, so gaben sich zuweilen Freunde oder nahe Bekannte als Bräutigam oder Braut des oder der betreffenden Gefangenen aus, oder sie waren es auch wirklich. Das führte dann natürlich, wenn plötzlich sich herausstellte, daß dieser oder jener zwei Bräute hatte, zu tragikomischen Situationen, die übrigens in der Regel auf friedlichem Wege geklärt wurden.

Die Besuche fanden in derselben Kanzlei statt, wo man uns bei der Ankunft in Empfang genommen hatte. Dann bot der Raum einen recht eigenartigen Anblick: Der alte Kapitän sitzt auf seinem Platze und ist mit den Kontorbüchern beschäftigt; an der Tür steht ein Aufseher in Uniform mit Revolver und Patronentasche am Gürtel und dem großen Säbel an der Seite; an den Wänden gruppieren sich die Gefangenen und die Besucher. Das spärliche Licht, das durch die vergitterten Fenster fällt, verleiht den Gesichtern ein besonders charakteristisches Aussehen. Die Besucher gehören den verschiedensten Gesellschaftsklassen an; Frauen, Mädchen, Männer, Greise und Knaben sind darunter zu finden. Hier ein Arzt oder ein Advokat, der in Begleitung seiner Frau mit einem Bruder, dem verbannten Studenten, plaudert. Dort eine alte Bäuerin, die die weite Reise aus einem entlegenen Gouvernement an der Wolga gemacht hat, um ihrem Lieblingssohn Lebewohl zu sagen; sie erzählt, was es Neues im Dorfe gibt, oder klagt wehmütig darüber, wie schwer sie es habe, seit er verhaftet wurde. Daneben ein Sproß eines Magnatengeschlechtes, Fürst Wolkonski mit Gemahlin, und plaudert mit seinem Onkel Maljewanny, und dort hält Senator Tschulejnikoff seiner jungen Tochter eine Strafpredigt, weil sie sich hat hinreißen lassen, an der Bewegung teilzunehmen, wofür sie jetzt nach Sibirien verbannt wird. Stimmengewirr füllt das Zimmer, man unterhält sich laut, scherzt und lacht, während hie und da eine schmerzgebeugte Frau heimlich eine Träne aus dem Auge wischt, andere laut schluchzen, weil der Anblick der abgehärmten, bleichen jungen Leute und Mädchen sie der Fassung beraubt. Wie überall in der Welt ist auch hier Lachen und Weinen, Schmerz und Freude dicht bei einander, nur kommen hier im Gefängnis die Gefühle freier zum Ausdruck; die Gegensätze werden hier leichter ausgeglichen, die Menschen geben sich hier offener, ungenierter, rückhaltloser. Die Leute, die hier Freunde oder Verwandte aufsuchen, schließen bald Bekanntschaft untereinander und mit allen Gefangenen, die sie zu sehen bekommen. In diesem Gefängnis für Revolutionäre gibt es keine Privilegien, der Kerker gleicht Standesunterschiede aus, verbindet alle durch das Band gemeinsamer Leiden und Schmerzen.

Einmal jedoch wurde diese Regel durchbrochen, indem Name und Stand eines Besuchers ihn zum Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit machten. Ein Greis in der Tracht der russischen Kleinbürger, dem langen Kaftan und breiten Gürtel, war eingetreten.

»Zu wem wünschen Sie?« fragte der Kapitän über seine Bücher hinweg.

»Ich möchte einen Menschen sprechen, den ihr hier im Gefängnis habt, Lasareff ist sein Name,« antwortete der Fremde.

»Haben Sie einen Erlaubnisschein?«

»Freilich, freilich, hier ist er!« sagte der Mann im Kaftan und hielt den Zettel hin.

Der Kapitän rückte seine Brille zurecht und las. Plötzlich sprang er auf, als wenn er einen Schlag erhalten hätte, und begann unter tausend Bücklingen in höchster Erregung zu stottern: »Herr Graf, bitte, nehmen Sie Platz, verzeihen Sie, bitte, habe Sie wirklich nicht erkannt.«

»He, Iwanoff!« schrie er den Aufseher an, »laufen Sie schnell, Lasareff soll kommen, der Graf besucht ihn.«

Im ganzen Gefängnis wurde es lebendig, Glocken wurden gezogen, man lief und rannte und schrie: »Lasareff, wo ist Lasareff? der Graf Leo Tolstoi besucht ihn.«

Jegor Lasareff, ein Bauer von Geburt, ein sehr intelligenter und gebildeter Mann, war ein Landsmann des Grafen Tolstoi. Er hatte im Moskauer Gefängnis zu überwintern, um dann nach Ostsibirien geschafft zu werden, wohin man ihn auf administrativem Wege für drei Jahre verschickte, einzig dafür, daß er seine armen Dorfgenossen gegen verschiedene Übergriffe der Beamten verteidigt hatte.


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