Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunundzwanzigstes Kapitel.
Die Kleine will nicht.

Lange Zeit hoffte Jack, seine Mutter würde zurückkehren. Wenn er früh morgens oder spät abends bei seiner Arbeit saß, glaubte er so oft das Rauschen ihres Kleides im Flur, ihren leichten Schritt auf der Treppe zu hören. Wenn er Roudics besuchte, spähte er stets nach dem Häuschen in der Rue des Lilas hinüber in der Hoffnung, seine Mutter in dem Zufluchtsort zu finden, dessen Adresse er ihr übersandt hatte.

»Das Haus ist zu Deinem Empfang bereit. Du brauchst nur zu kommen.«

Aber keine Antwort erfolgte, sie hatte ihn für immer verlassen. Jack litt unbeschreiblich, aber Cäcilie war eine Zauberin, sie kannte alle die bescheidenen, aber schmerzstillenden, beruhigenden Heilmittel, fand tröstende Worte, belebende Blicke und ihrer erfinderischen Zärtlichkeit gelang es, dem Schicksal Trotz zu bieten. Außerdem wurde die angestrengteste Arbeit zu einem mächtigen Bundesgenossen für Jack. So lange seine Mutter bei ihm lebte, hatte sie ihn oft am Studieren gehindert, ohne selbst zu wissen, wie sehr ihr unruhiges, flattriges Wesen ihn störte; jetzt holte er das Versäumte mit Riesenschritten nach. Jeden Sonntag kam er ein wenig verliebter und klüger nach Etiolles. Der Doktor war entzückt über die Fortschritte seines Schülers; wenn er so fortfuhr, konnte er, noch ehe das Jahr um war, Baccalaureus sein und in die Medizinerschule eintreten. Das Wort »Baccalaureus« machte Jack vor Vergnügen lachen, und wenn er es bei Belisar aussprach, dessen Kamerad er nach einem neuen Streich Ribarots geworden war, so strahlte das kleine Dachstübchen in der Rue des Panoyaux förmlich vor Stolz. Auch die Brotfrau war von einer plötzlichen Leidenschaft für die Wissenschaft erfaßt worden; wenn sie Abends mit ihrer Näherei fertig war, mußte ihr Belisar das Lesen beibringen, und ihr mit seinen dicken Fingern die Buchstaben zeigen, die er dabei aber fast ganz verdeckte. Aber wenn Herr Rivals von Jacks Fortschritten entzückt war, so schien er es weniger von seiner Gesundheit zu sein. Seit dem Herbst quälte ihn der alte Husten wieder, seine Augen glänzten, und seine Hände brannten wie Feuer.

»Das gefällt mir garnicht,« meinte der brave Mann, indem er seinen Schüler besorgt betrachtete, »Du arbeitest zuviel. Dein Gehirn ist überanstrengt. Mäßige Dich ein wenig, Teufel auch, Du hast ja Zeit; Cäcilie läuft Dir nicht davon.«

Nein gewiß nicht; sie lief nicht davon. Niemals war sie liebevoller und sorgsamer gegen ihn gewesen, als ahnte sie, welch' verspätetes Glück der arme Ausgestoßene durch sie finden sollte. Und das gerade spornte Freund Jack noch mehr an und verlieh ihm eine Arbeitskraft, die nicht zu bändigen war. Die Widerstandsfähigkeit des menschlichen Körpers ist unerschöpflich; Jack, der den seinen durch anstrengende Nachtwachen aufrieb, ohne irgend etwas zu seiner Stärkung zu thun, fühlte sich beständig so fieberhaft erregt, wie die indischen Fakire, die dann selbst den Schmerz als Vergnügen empfinden. Wenn er an seinem Arbeitstisch saß, empfand er zuweilen ein Gefühl der Leichtigkeit, eine außerordentliche Schärfe seiner geistigen Fähigkeiten, die seine Feder noch hastiger über das Papier fliegen und ihn alle Schwierigkeiten mit spielender Leichtigkeit überwinden ließ. Unter diesen Umständen konnte der geringste Schreck verhängnisvoll werden und ihm stand ein furchtbarer bevor.

»Komm morgen nicht, wir verreisen auf acht Tage.«

Diese Depesche des Doktors empfing Jack an einem Sonnabend Abend, während Frau Belisar ihm die reine Wäsche für den nächsten Tag plättete und er selbst schon im voraus die Freuden des Sonntags genoß.

Das Überraschende dieser Reise, die lakonische Kürze der Depesche flößte ihm einen eigentümlichen Schreck ein. Er wartete auf einen Brief Cäciliens oder des Doktors, der ihm das Geheimnis erklären sollte, aber es kam keiner, und acht Tage lang schwebte er zwischen der entsetzlichsten Angst und der freudigsten Hoffnung.

In Wahrheit waren weder Cäcilie, noch der Doktor verreist, und Herr Rivals hatte den Liebhabenden nur fern gehalten, um ihn auf einen furchtbaren Schlag, einen Entschluß Cäciliens vorzubereiten, von dem er seine Enkelin noch immer abzubringen hoffte. Es war ganz plötzlich gekommen. Als der Doktor eines Abends heimkehrte, setzte ihn Cäciliens düsteres, entschlossenes Aussehen, ihre Blässe und das ungewöhnliche Zucken ihrer feinen Brauen in Erstaunen. Vergebens versuchte er während des Essens, sie zu erheitern, mitten im Gespräch, als er meinte:

»Sonntag, wenn Jack kommt,« unterbrach sie ihn plötzlich.

»Ich wünsche, daß er nicht kommt.«

Er sah sie bestürzt an.

»Was giebts denn?«

Sie erwiderte totenbleich, aber mit fester Stimme:

»Etwas sehr Ernstes, Großpapa, aus meiner Heirat mit Jack kann nichts werden.«

»Nichts werden? Du erschreckst mich! Was ist denn vorgefallen?«

»Nichts; mir ist nur ein Licht aufgegangen, ich liebe ihn nicht!«

»Kind! Cäcilie! komm zu Dir ... Hat es zwischen Euch Streit gegeben?«

»Nein, Großpapa, ich schwöre Dir, es ist nichts vorgefallen. Ich liebe Jack wie einen Bruder, das ist alles. Ich habe mich bemüht, ihm mehr zu sein, aber es ist mir nicht möglich.«

Der Doktor machte eine Bewegung des Entsetzens; die Erinnerungen an seine Tochter wurden in ihm lebendig.

»Du liebst also einen anderen?«

Sie errötete:

»Nein, ich liebe niemand, ich will nicht heiraten!«

Auf alle Einwendungen Herrn Rivals hatte sie nur die eine Antwort:

»Ich will nicht heiraten.«

Endlich ergriff Herr Rivals ihre Hand.

»Kleine, ich beschwöre Dich, übereile die Entscheidung nicht, warte noch, überleg' es Dir noch einmal.«

Aber sie versetzte mit ruhiger Entschlossenheit:

»Nein, Großvater, das geht nicht. Ich bestehe darauf, daß Jack meinen Entschluß so bald als möglich erfährt. Ich weiß, daß ich ihm großen Kummer verursache, aber jede Verzögerung läßt ihn noch schmerzlicher empfinden und ich bin nicht imstande ihn noch länger zu täuschen.«

»Also ich soll ihm den Abschied geben?« rief der Doktor wütend, indem er aufstand, »nun gut, aber ein Donnerwetter soll die Frauen ...«

Sie sah ihn so verzweifelt an, daß er mitten in seinem Zornausbruch inne hielt.

»Nein, meine Kleine, ich bin nicht böse, denn schließlich trage ich ebensogut die Schuld. Du warst zu jung! O ich alter Narr!«

Das Schlimmste war, daß er nun an Jack schreiben mußte. Er versuchte zwei oder drei Briefe, die alle folgendermaßen anfingen:

»Jack, mein Junge, die Kleine will nicht ...« Schließlich sagte er sich: »Ich will lieber mit ihm sprechen«; und um zu dieser peinlichen Unterredung Zeit zu gewinnen, schob er Jack's Besuch um acht Tage auf, in der unbestimmten Hoffnung, daß Cäcilie im Laufe der Woche doch vielleicht noch ihre Meinung ändern könnte. Aber als Herr Rivals am nächsten Sonnabend zu seiner Enkelin sagte:

»Er kommt morgen, ist Dein Entschluß unwiderruflich?«

Da antwortete sie fest.

»Ja, Großvater.«

Jack kam wie gewöhnlich mit dem Frühzuge an; für ihn war der Weg vom Bahnhof in Evry nach Etiolles nur ein Katzensprung. Seine Erregung war groß, als er über die wohlbekannte Schwelle trat, die ihn an so manchen früheren freundlichen Empfang erinnern mußte.

»Der Herr wartet im Garten,« sagte das Mädchen, welches ihn einließ.

Sofort ahnte er Unheil, und das bestürzte Gesicht des Doktors bestätigte seine Vermutungen.

»Cäcilie ist nicht da?«

»Nein, mein Freund, ich habe sie ... dort gelassen ... wo wir waren, sie will einige Zeit dort bleiben.«

»Lange?«

»O ja, sehr lange!«

»Also ... also will sie nichts mehr von mir wissen, Herr Rivals?«

Der Doktor antwortete nicht, Jack setzte sich auf eine Bank, um nicht umzusinken; ringsum erinnerte der milde, schöne Herbsttag an die Weinlese in Coudray auf den Hügeln an der Seine, wo das erste schüchterne Bekenntnis ihrer Liebe sich herausgewagt hatte ... Nach einer Pause legte ihm der Doktor väterlich die Hand auf die Schulter.

»Jack, nimm es nicht zu schwer, sie kann noch anderen Sinnes werden, sie ist noch jung, es ist vielleicht nur Laune!«

»Nein, Herr Rivals, das wissen Sie so gut wie ich, daß Cäcilie keine Launen hat. Sie hat reiflich überlegt, ehe sie ihren Entschluß faßte und er hat sie Mühe genug gekostet. Es war auch nicht möglich, daß mir ein solches Glück zuteil werden sollte; ich habe mir so oft gesagt, ›das ist zu schön, das kann nicht sein ...‹«

Mit Aufbietung aller Willenskraft unterdrückte er ein Schluchzen und erhob sich mühsam. Herr Rivals reichte ihm die Hand:

»Vergieb mir, mein armer Junge, ich trage an allem die Schuld, aber ich glaubte zwei Menschen glücklich machen zu können.«

»Nein, Herr Rivals, machen sie sich keine Vorwürfe, das mußte so kommen. Cäcilie stand zu hoch über mir, um mich lieben zu können. Ihr gutes, mitleidiges Herz hat sie einen Augenblick über ihre Gefühle getäuscht. Aber ich zürne ihr deshalb nicht, eins hindert mich daran: An einem ähnlichen Tage im vorigen Jahre habe ich zuerst empfunden, daß ich Cäcilien liebte und an dem Tage begann die glücklichste Zeit meines Lebens und diese gesegnete Zeit verdanke ich Ihnen und Cäcilien, das will ich ihr niemals vergessen.«

Er entzog sich sanft der Umarmung des Doktors.

»Du gehst Jack? Willst Du nicht wenigstens zum Essen bleiben?«

»Nein, danke, Herr Rivals, ich würde ein zu trauriger Gast sein.«

Er ging festen Schrittes durch den Garten, stieß die Thür auf und entfernte sich eilig, ohne sich umzusehen. Wenn er nur einen Blick zurückgeworfen hätte! Oben, hinter den weißen Vorhängen stand die Geliebte und streckte weinend die Arme nach ihm aus. – Die folgenden Tage vergingen still und eintönig. Das Häuschen, das seit Monaten wieder aufgelebt war, versank in seinen alten Trübsinn. Der Doktor beobachtete besorgt seine Enkelin, ihre einsamen Spaziergänge und langen Träumereien in ihrer verstorbenen Mutter Zimmer, wo sie ihren Kummer verbergen zu wollen schien. Was fehlte ihr? Wie war dieser Trübsinn, dieser Hang zur Einsamkeit zu erklären, wenn sie Jack nicht mehr liebte? Angesichts dieses beunruhigenden Zustandes seiner Enkelin vergaß der brave Doktor beinahe Jacks Kummer, er hatte an dem seinigen schwer genug zu tragen.

Eines Abends wurde er noch sehr spät zu einem Kranken gerufen. Die alte Salé stand wehklagend an der Thür. Mit ihrem »armen Alten« schien es diesmal zu Ende zu gehen. Herr Rivals, den weder sein Alter, noch seine trübe Stimmung hinderte, beim ersten Ruf auf den Füßen zu sein, stieg eilends zum Erlenhäuschen hinauf.

Die Salé's bewohnten nämlich neben Parva domus eine richtige Höhle, in die man wie in einen Keller mehrere Stufen hinabsteigen mußte.

In einer Ecke des elenden Raumes lag der sterbende »Alte« auf seiner ärmlichen Lagerstatt. Als Herr Rivals eintrat, wurde er beinahe von einem dichten, aromatischen Rauch erstickt, der sogar den üblen Geruch, der in der Höhle herrschte, zurücktreten ließ. –

»Zum Teufel, was ist denn hier verbrannt worden, Mutter Salé?«

Die Alte geriet in Verwirrung, wollte lügen, er aber ließ ihr gar keine Zeit dazu.

»Der Nachbar, der Giftmischer, ist also bei Euch gewesen?«

Es verhielt sich so. Hirsch hatte an dem Elenden seine Heilmethode versucht. Gelegenheit zu Experimenten fand er fast garnicht mehr.

Die Bauern mißtrauten ihm, und des Doktors wegen mußte er sehr vorsichtig zu Werke gehen, denn dieser führte unerbittlich Krieg gegen seine Kurpfuscherei. Schon zweimal war er nach Corbeil vor Gericht geladen und mit strengen Strafen bedroht worden.

Aber die Salé's wohnten so nahe und waren so arm! Trotz seiner Furcht vor dem Polizeidiener war er der Versuchung unterlegen.

»Schnell, öffnet das Fenster, der Unglückliche erstickt ja sonst.«

Die Alte beeilte sich, den Befehl auszuführen, während sie vor sich hin murmelte:

»O, mein armer Alter! Und der schlechte Mensch sagte, er wollt' ihn heilen.«

Während Herr Rivals sich über den Sterbenden beugte und nach dem fast unmerklichen Puls fühlte, tönte eine dumpfe Stimme unter der zerlumpten Decke hervor:

»Sag' es Frau, Du wolltest es thun.«

Die Alte fuhr fort, mit großer Geläufigkeit zu schwatzen, während sie den Ofen schürte, aber der alte Wilddieb begann von neuem:

»Sag' es, Frau.«

Herr Rivals sah die Salé an, deren sonnverbranntes Indianergesicht eine ziegelrote Farbe angenommen hatte. Sie kam verlegen näher.

»Ja, gewiß, der elende Doktor da drüben trägt die Schuld, wenn ich dem armen Fräulein was zuleide gethan habe.«

»Welchem Fräulein? von wem sprecht Ihr?« fragte der Doktor lebhaft, indem er den Arm des Kranken hinabgleiten ließ. –

Sie zögerte mit der Antwort, aber die immer schwächer werdende Stimme des Wilderers murmelte noch einmal:

»Sag' es, ich wills haben.«

»Nun gut, ich will es sagen,« begann die Alte entschlossen: »Sehen Sie, mein lieber Herr Rivals, der Schuft da drüben hat mir zwanzig Franken gegeben ... gütiger Gott, man sollte solche Schlechtigkeit garnicht für möglich halten; also er hat mir zwanzig Franken versprochen, wenn ich Fräulein Cäcilie die ganze Geschichte von ihrer Mama erzählen wollte.«

»Hexe!« schrie der alte Rivals in ausbrechendem Zorn und schüttelte die alte Bäuerin heftig, »hast Du das wirklich gewagt?«

»Ja, lieber Herr ... für zwanzig Franken ... sonst wäre ich ja lieber gestorben, ehe ich ein Wort gesagt hätte, und dann wußte ich auch wahrhaftig nichts von der ganzen Sache, er hat mir alles erst gesagt, damit ich es wiedererzählen sollte.«

»Oh, der Elende! Er hat also seine Drohung, sich zu rächen, wahr gemacht! Aber, wer hat das alles so geschickt einfädeln können?«

Ein dumpfes Stöhnen, wie es ein Mensch ausstößt, der aus der Welt geht, rief den Arzt an das Bett des »Alten«. Nun er »es gesagt hatte« konnte Vater Salé ruhig sterben. Bis gegen Morgen saß der Doktor am Sterbelager und es bedurfte einer gewaltigen Anstrengung seinerseits, um stand zu halten; als aber alles vorüber war, beeilte er sich, nach Etiolles zurückzukehren, nicht ohne sich indessen vorher überzeugt zu haben, daß der schurkische Hirsch sich nicht mehr in Parva domus aufhielt. O, wenn er ihn in diesem Augenblick unter den Händen gehabt hätte, alle seine seemännische Kraft und Energie wäre angesichts des feigen Gegners wiedergekehrt, der, um sich an ihm zu rächen, seine Enkelin angegriffen hatte. Sobald er nach Hause kam, stieg er geradenwegs zu Cäcilie hinauf.

Sie war nicht da, selbst ihr Bett schien unberührt. Ein Angstschauer überlief ihn; er eilte in die Apotheke: niemand zu sehen. Aber Magdalenens früheres Zimmer stand offen und dort fand er Cäcilie, von den Andenken an die teure Verstorbene umgeben, schlafend in einer erschöpften Stellung, die von einer unter Kämpfen und Thränen durchwachten Nacht erzählte. Des Doktors Schritte weckten sie.

»Großpapa!«

»Die Elenden haben Dir also das Geheimnis verraten, das wir so sorgfältig zu verbergen strebten! O Gott, wie habe ich mich gemüht, Dir diesen Kummer zu ersparen und nun wird er Dir von Fremden, Feinden zugefügt. Arme Kleine!«

Sie barg den Kopf an seiner Schulter.

»Sprich nicht davon ... Ich schäme mich.«

»Nein ich muß sprechen. O, wenn ich gewußt hätte, daß dies der Grund Deiner Weigerung war! Denn nicht wahr, Du hast bloß deswegen nicht heiraten wollen?«

»Ja«

»Aber weshalb denn?«

»Ich wollte die Schande meiner Mutter nicht verraten und mein Gewissen zwang mich, demjenigen, der mein Gatte werden sollte, alles einzugestehen; es gab also nur einen Ausweg und ich habe ihn eingeschlagen.«

»Du liebst ihn also noch immer?«

»Von ganzer Seele, aber ich wollte ihm das Opfer ersparen, ein namenloses Mädchen, die Tochter eines Fälschers zu heiraten.«

»Du irrst, mein Kind. Jack war glücklich und stolz, Dich heiraten zu können, überdies kannte er Deine Geschichte, ich selbst habe sie ihm erzählt.«

»Wirklich?«

»Oh, Du kleine Unartige, wenn Du mir nur mehr Vertrauen hättest schenken wollen, so wäre uns alles erspart geblieben!«

»Also Jack wußte, wer ich war, und liebte mich trotzdem?«

»Kind! Gewiß liebte er Dich; überdies sind Eure Loose gleich. Auch er hat keinen Vater, denn seine Mutter ist nie verheiratet gewesen. Der einzige Unterschied zwischen Euch besteht darin, daß Deine Mutter eine Heilige war, während die seinige ...«

Und nun erzählte er Cäcilie Jacks Geschichte, seine einsame Kindheit, die schreckliche Jugend und plötzlich war es ihm, als klärten ihn die wieder wachgewordenen Erinnerungen über die Gegenwart auf.

»Jetzt begreife ich ... Der Racheakt geht von ihr aus,« rief der Doktor plötzlich. »Sie muß Hirsch von Eurer Liebe erzählt haben. Dieser Schlag gegen den armen Burschen konnte nur von seiner Mutter geführt werden.«

Alle diese Erklärungen trugen nur dazu bei, Cäcilie mit Verzweiflung zu erfüllen, so oft sie an Jack dachte, dem sie unnötigerweise so schweres Leid zugefügt hatte. Es trieb sie, ihn um Verzeihung zu bitten, sich vor ihm zu demütigen.

»Jack, armer Freund,« murmelte sie schluchzend, »weißt Du nichts von ihm, Großvater?«

»Nein, aber er könnte wohl selbst kommen, nicht wahr?« meinte dieser lächelnd.

»Er wird jetzt keine Lust mehr haben!«

»Nun, so wollen wir ihn holen. Heut am Sonntag ist er frei, willst Du?«

»Oh, wie gern.«

Einige Minuten später befanden sich Herr Rivals und seine Enkelin auf dem Wege nach Paris.

Sie waren eben fortgefahren, als ein schweißbedeckter, unter der Last seines Tragkorbes gebeugter Mann vor dem Hause stehen blieb. Er betrachtete die kleine, grüne Pforte und buchstabierte mühsam das Wort auf dem Messingtäfelchen »Nachtglocke.«

»Hier ist es,« sagte er und wischte sich die Stirn. Das kleine Dienstmädchen erschien auf sein Klingeln; als es aber den Wanderer erblickte, der einem Landstreicher nur zu ähnlich sah, öffnete es die Thür nur halb.

»Zu wem wollen Sie?«

»Ist der Herr da?«

»Nein.«

»Und das Fräulein?«

»Auch nicht.«

»Wann kommen sie zurück?«

»Ich weiß es nicht.«

Die Thür schlug zu.

»Guter Gott,« murmelte der Krämer mit düsterer Stimme, »soll er denn wirklich ganz verlassen sterben?«

Verzweiflungsvoll und ratlos blieb er mitten auf der Straße stehen.


 << zurück weiter >>