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Erstes Kapitel.
Die Mutter und das Kind.

»Mit einem K, mein Herr Oberer, mit einem K! Der Name wird englisch geschrieben und englisch ausgesprochen – bitte, so! J. a. c. k! Der Pate des Kindes war Engländer, Generalmajor in der indischen Armee. Lord Peambock. Sie kennen den Mann vielleicht? Ein höchst vornehmer Herr und vom besten Adel. O! aber, mein Herr Oberer, Sie verstehen doch, vom allerbesten Adel! Und was für ein Walzertänzer! – Er ist übrigens vor einigen Jahren in Singapore auf eine schreckliche Weise ums Leben gekommen, bei einer Tigerjagd, die ein ihm befreundeter Rajah ihm zu Ehren veranstaltet hatte. Wie es den Anschein hat, sind das richtige Monarchen dort, diese Rajahs ... Der, von welchem ich spreche, ist dortzulande ganz besonders berühmt. Wie heißt er doch gleich? Warten Sie doch! Gott! Der Name schwebt mir auf der Zunge. Rana ... Rama ...«

»Bitte recht sehr um Verzeihung,« unterbrach sie der geistliche Vorsteher, der wider Willen über diesen Schwall von Worten und über diese fortwährenden Sprünge von einem Gedanken zum andern lächelte. – »Und nach Jack ... was setzen wir dann?«

Mit dem Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, wo er eben mit leicht vorgeneigtem Haupte schrieb, betrachtete der ehrwürdige Priester mit einem von Schalksinn und geistlichem Scharfblick geschliffenen Augenzwinkern die junge Dame, die vor ihm saß, während ihr Jack (mit einem K) neben ihr stand.

Es war eine sehr elegante Persönlichkeit von untadelhafter Toilette, ganz nach dem herrschenden Geschmacke und gemäß der Jahreszeit – (man befand sich zur Zeit im Dezember 1859) – gekleidet. Es kam sogar in der Weichheit ihrer Pelze, in dem Reichtum ihres schwarzen Anzugs und in der diskreten Originalität ihres Hutes der ruhige, gesetzte Luxus einer Dame zum Ausdrucke, die sich im Besitz einer Equipage befindet und von der Schmuckheit ihrer Teppiche, ohne den banalen Weg über die Straße machen zu müssen, sich auf die Polster ihrer Karosse begiebt.

Sie hatte einen sehr kleinen Kopf – ein Umstand, welcher die Frauen immer größer erscheinen läßt – ein hübsches Gesicht, von einem Flaum überhaucht wie frisches Obst – ein Gesicht, das beweglich und lebendig war, in einem fort lächelte und von einem harmlosen, hellen Augenpaar und zwei Reihen blendendweißer, bei jedem Anlaß gezeigter Zähne erleuchtet wurde. Diese Beweglichkeit ihrer Gesichtszüge erschien ganz außerordentlich: und ich weiß nicht, was es in dieser ansprechenden Physiognomie war, ob etwa die von einem fortwährenden Redebedürfnis leicht gespannte Unterlippe, oder vielleicht die unter dem Demant der Flechten im schmalen Streifen erscheinende Stirn – wie gesagt, ich weiß nicht, was es eigentlich war, das auf die Abwesenheit von Denk- und Überlegungsvermögen, auf einen etwas begrenzten Verstand hinwies und die Parenthesen erklärte, die sich in der Unterhaltung dieser niedlichen Person alle Augenblicke öffneten, nach Art von jenen japanesischen Körbchen berechneter Größenmaße, die sich eins immer ins andre hinein fügen und von denen das letzte immer leer ist.

Was das Kind anbetrifft, so denke man sich einen Buben von sieben bis acht Jahren, schmächtig, zu schnell gewachsen, nach englischer Weise gekleidet, wie es das K seines Namens Jack verlangte, nacktbeinig, auf dem Kopfe ein Barett mit silberner Distel und über den Schultern ein schottisches Plaid. Das Kostüm entsprach vielleicht seinem Alter, schien aber im Mißklange zu stehen mit seinem langen Leibe und seinem schon kräftig entwickelten Nacken. Seine muskligen und frostgeröteten Waden zwängten sich auf allen Seiten in einem ungeschickten Drange eines in offener Empörung begriffenen Wachstums aus seinem wunderlichen Anputze heraus. Er war selbst darüber betroffen. Linkisch, schüchtern, mit niedergeschlagenen Augen, lenkte er von Zeit zu Zeit einen verzweifelten Blick über die nackten Beine, gleich als ob er im innersten Herzen Lord Peambock und die gesamte indische Armee, die ihm als Ursachen für seine derartige Kostümierung dünkten, ins Pfefferland gewünscht hätte.

In körperlicher Hinsicht ähnelte er seiner Mutter bis auf etwas Zierlicheres, Vornehmeres, das ihm eigen war, und bis auf den Umstand, daß sich eine hübsche Frauen-Physiognomie hier so recht ganz in die eines intelligenten männlichen Gesichts umgewandelt hatte. Es war derselbe, aber vertiefte Blick, dieselbe, aber breiter geformte Stirn, derselbe, nur durch einen ernstern Ausdruck verengerte Mund.

Auf dem Gesichte der Dame glitten die Ideen, die Eindrücke dahin, ohne weder eine Spur noch eine Falte zu hinterlassen, mit so großer Hast, mit solcher Geschwindigkeit einer den andern jagend, daß es schien, als wenn sich aus ihren Augen die Verwunderung darüber, wohin sie denn geflohen seien, gar nicht verlieren mochte. Bei dem Kinde dagegen fühlte man, daß der Gedanke dort immer seine Wohnung hatte, und seine etwas zu reflektierende Art würde beängstigend gewesen sein, wenn sie nicht mit einer gewissen Trägheit in Haltung und Wesen, mit einer Schlaffheit dieses ganzen kleinen Organismus zusammen aufgetreten wäre, wenn sich nicht zusammen mit ihr auch das schmeichlerische, schüchterne Gethue des immer der Mama an den Röcken hängenden Knaben gezeigt hätte.

In diesem Augenblick stand er da, an sie angelehnt, während er die eine Hand in den Muff hinein geschoben hatte, und hörte ihr zu, von stummer Bewunderung erfüllt – faßte dann von Zeit zu Zeit den Priester und alles, was sich in seiner Umgebung befand, mit neugierigem, in Schranken gehaltenem und schüchternem Blicke zusammen.

Er hatte der Mama versprochen, nicht weinen zu wollen.

Manchmal jedoch schüttelte ihn ein erstickter Seufzer, gleichsam das Überbleibsel eines Schluchzers, von den Füßen bis zum Scheitel. Da senkte sich dann der Blick der Mutter auf ihn und schien zu sagen: »Du weißt, was Du mir versprochen hast ...« Und dann drängte das Kind Seufzer und Thränen zurück; aber man merkte ihm einen großen Kummer an, jenen grausamen Eindruck von Verbannung und Vereinsamung, welchen die erste Pension bei Kindern hervorbringt, die bis zum späten Kindesalter hinter dem heimischen Ofen gehockt haben.

Diese Erforschung der Mutter und des Kindes, welche der Priester binnen wenigen Minuten bewirkt hatte, würde einem oberflächlichen Beobachter genügend gewesen sein. Der Pater O ... aber, welcher seit einem Vierteljahrhundert das aristokratische Institut der Jesuiten-Patres von Vaugirard leitete, war zu tief bekannt mit dem Laufe der Welt, kannte die hohe Pariser Gesellschaft und alle ihre Schattierungen in Sprache und Benehmen viel zu genau, als daß er nicht sogleich in der Mutter des neuen Zöglings eine Besucherin besonderen Schlages erraten hätte.

Die selbstbewußte, sichere Art, mit welcher sie in sein Zimmer getreten war – eine Selbstbewußtheit, die sich zu deutlich zeigte, als daß sie wahr sein konnte, – ihre Weise, sich beim Sitzen mit dem Körper nach hinten zu biegen – jenes etwas gezwungene jugendliche Lachen, das ihr eigen war – und vor allem jener Schwall von übersprudelnden Reden, unter welchem sie, wie man hätte meinen können, die Verlegenheit verbergen wollte über einen Gedanken, der verborgen in ihrem Gemüte wohnte – das waren alles Umstände, welche den Priester mit Mißtrauen erfüllten. Leider sind ja in Paris die gesellschaftlichen Schichten so durcheinander gemischt; die Gemeinsamkeit der Vergnügungen, der Toiletten, der Spaziergänge hat die Demarkationslinie zwischen den Modedamen der guten und der schlechten Gesellschaft auf einen so schmalen und so leicht überschreitbaren Raum gesetzt – hat zwischen einer Lorette, die sich eines gesetzten Wesens befleißigt, und einer Frau Marquise, die sich gehen läßt, die Unterscheidungsmerkmale so verwischt, daß die erfahrensten, sachkundigsten Beobachter sich auf den ersten Blick in dieser Hinsicht irren können. Und das war der Grund, weshalb der Priester diese Dame mit soviel Aufmerksamkeit betrachtete.

Was ihn in seinem Examen störte, das war vor allem die Zusammenhanglosigkeit, die Abgerissenheit der Unterhaltung, welche die Dame führte. Wie bloß die Zeit dazu gewinnen, sich mitten zwischen diesen Launen und plötzlichen Einfällen, diesen jähen Kehrtwendungen, diesen Sätzen und Sprüngen eines Eichhörnchens im Käfige, zurecht zu finden! Und doch war sein Urteil, das man vielleicht irre zu leiten versuchte, schon halbfertig. Die verlegene, betroffene Stellung, welche die Mutter einnahm, als er die Frage an sie richtete, welcher andere Name zu Jack hinzuzusetzen sei, festigte, vollendete die Meinung, die er sich gebildet hatte.

Sie wurde rot – sie stotterte – sie besann sich eine Sekunde.

»Es ist ja wahr,« sagte sie – »ach! entschuldigen Sie mich ... Ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt ... Wo habe ich denn bloß meinen Kopf?«

Und sie nahm aus ihrer Tasche ein zierliches Elfenbein-Visittäschchen, das wie ein Riechpolster duftete, zog eine Karte aus ihm hervor, auf welcher sich, lächelnd und nichtssagend, in langgereckten Buchstaben der Name spreizte:

Ida von Barancy.

Der Institutsvorsteher zeigte ein seltsames Lächeln.

»Dies ist auch der Name des Kindes?« fragte er.

Die Frage war fast ungezogen. Die Dame begriff das, geriet in noch größere Verlegenheit und versteckte dieselbe unter einem sehr würdevollen Gebahren.

»Aber ... gewiß doch, Herr Abt ... ganz gewiß doch!«

»Ah!« machte der Priester mit ernster Stimme.

Jetzt war er es, welcher nicht wußte, wie er zum Ausdruck bringen sollte, was er zu sagen hatte. Er drehte die Karte zwischen den Fingern mit jenem leichten Beben der Lippen jemands, welcher den Wert und die Wirkung der Worte versteht, die er auszusprechen gedenkt.

»Tretet näher, mein guter Duffieux,« sagte der Obere, »und führet dieses Kind hier ein bischen spazieren ... Zeigt ihm unsre Kirche, unsre Treibhäuser – er langweilt sich dort, der arme kleine Mann!«

Jack war des Glaubens, daß man diesen Spaziergang nur deshalb vorschützte, um dem schmerzlichen Abschied beim Auseinandergehen einen Riegel vorzuschieben, und der Blick, mit welchem er zu der Mutter aufsah, hatte einen solchen Ausdruck von Verzweiflung und Schreck, daß der gute Priester ihn mit den sanft gesprochenen Worten beruhigte:

»Habe keine Furcht, mein kleiner Jack! Deine Mutter wird nicht weggehen! Du wirst sie hier wieder treffen!«

Das Kind zögerte noch immer.

»Na, geh doch nur, mein lieber Junge!« sagte Madame de Barancy zu ihm mit einer Gebärde, würdig einer Königin.

Daraufhin ging er sogleich, ohne ein Wort zu sprechen, ohne eine Klage verlauten zu lassen – ganz so, wie wenn er bereits durch das Leben geknickt und zu allen Dienstleistungen bereitet wäre.

Als er draußen war, trat in dem Zimmer auf einen Augenblick Schweigen ein. Man hörte, wie sich die Schritte des Kindes und seines Begleiters knirschend auf dem durch die Kälte gehärteten Sande weiter und weiter trugen – man hörte das Knistern des Feuers, in den Zweigen das Spatzen-Gezwitscher, Klavierspielen, ein Durcheinander von allerhand Stimmen, das ganze Geflüster eines Hauses, das voll von Menschen steckt – den ganzen, durch den Winter und die abgeschlossenen Fenster gedämpften Trubel eines großen Pensionats während der Lehrstunden.

»Dies Kind hat das Aussehen, als wenn es mit großer Liebe an Ihnen hinge, meine Dame!« sagte der Vorsteher, welcher durch die Anmut und Unterwürfigkeit Jacks gerührt worden war.

»Wie sollte der Knabe denn mich nicht lieben?« antwortete Madame de Barancy mit einer vielleicht etwas melodramatisch angehauchten Stimme und Haltung – »das arme süße Ding hat doch nur seine Mutter auf der Welt!«

»Ach! Sie sind Witwe?«

»Aber freilich! ach, freilich! Herr Oberer! ... Mein Mann ist vor zehn Jahren gestorben, schon im ersten Jahre unserer Verheiratung und unter recht schmerzlichen Umständen ... Ach! würdiger Herr Abt! die Romandichter suchen die Abenteuer für ihre Heldinnen oft in so weiter Ferne und argwöhnen gar nicht, daß das einfachste Leben manchmal für zehn Romane Stoff über Stoff schaffen kann ... Mein Dasein, ach! es ist so recht der Beweis dafür ... Lassen Sie sich erzählen: Der Herr Graf von Barancy gehörte, wie sein Name Ihnen schon sagen kann, einer der ältesten Familien der Touraine an ...«

Sie kam an den Unrechten. Gerade Pater O ... war aus Amboise gebürtig und über den ganzen Adel seiner Provinz von Grund aus zu Hause. Im selben Augenblicke gesellte sich der Graf von Barancy zu den Zweifeln und zu dem Mißtrauen, welche in seinem Geiste bereits in betreff des Generalmajors Peambock und des Rajahs von Singapore bestanden. Er ließ indes nichts davon zum Ausdruck gelangen und begnügte sich damit, die sogenannte Gräfin in sanfter Weise zu unterbrechen.

»Glauben Sie denn nicht gleich mir, meine Gnädige,« fragte er, »daß es Grausamkeit sein würde, ein Kind so schnell von Ihnen zu entfernen, das an Ihnen mit so großer Liebe zu hängen scheint? Es ist ja noch so sehr jung. Und ferner, würde es denn wohl auch stark genug sein, den Schmerz einer solchen Trennung zu ertragen?«

»Aber Sie sind durchaus im Irrtum, mein Herr,« antwortete sie mit großer Harmlosigkeit. »Jack ist ein sehr kräftiges Kind. Er ist niemals krank gewesen. Ein bischen bleich von Farbe vielleicht, aber das liegt in der Pariser Luft, an die er nicht gewöhnt ist.«

Verdrießlich darüber, daß sie seinen Gedanken nicht schon beim ersten halben Worte erfaßte, sprach der Priester mit schärferer Betonung weiter:

»Übrigens sind für den Augenblick unsre Schlafzimmer auch vollzählig besetzt ... Das Schuljahr ist schon sehr weit vorgerückt. – Wir haben sogar schon neun Schüler auf das Neujahr zurückschreiben müssen ... Sie verbinden mich deshalb thatsächlich zu großem Danke, wenn Sie sich bis zu dieser Zeit gedulden wollten ... Vielleicht werden wir dann einen Versuch machen können – Bürgschaft dafür übernehmen kann ich indes nicht ...«

Sie hatte verstanden.

»Also verweigern Sie meinem Kinde die Aufnahme?« sagte sie erbleichend – »weigern Sie auch die Angabe des Grundes?«

»Meine Gnädige,« antwortete der Priester – »ich hätte alles in der Welt darum gegeben, daß diese Auseinandersetzung hier nicht Platz gegriffen hätte – da Sie mich aber zu ihr zwingen, muß ich Ihnen nun wohl sagen, daß das Haus, welches ich als Vorsteher leite, an die Familien, die ihm ihre Kinder anvertrauen, außergewöhnliche Moralitäts-Bedingungen stellt ... Es fehlt in Paris an Laienschulen nicht, in welchen Ihrem kleinen Jack all und jede Fürsorge, die ihm von nöten ist, zu teil werden wird. Bei uns aber ist das unmöglich. Ich beschwöre Sie deshalb« – setzte er mit einer Bewegung erregten Widerspruches hinzu – »zwingen Sie mich nicht zu weiteren Erörterungen. Mir steht das Recht nicht zu, Fragen an Sie zu stellen, oder Ihnen über irgend etwas Vorwürfe zu machen ... Ich bedauere die Mühe, die ich Ihnen in diesem Augenblick verursache, und Sie dürfen wirklich glauben, daß mir die Strenge und Härte meines abschläglichen Bescheids ebenso peinlich und schmerzhaft ist wie Ihnen.«

Während der Priester also redete, waren über das Antlitz der Frau von Barancy alle Mienen geglitten, welche Schmerz und Geringschätzung und Verlegenheit zum Ausdruck zu bringen vermögen. Zuerst hatte sie versucht, gute Miene zu bewahren – hatte den Kopf gerade gehalten und die mit Geschick vorgesteckte Gesellschaftsmaske beizubehalten versucht – aber die im wohlwollenden, gütigen Tone gesprochenen Worte, die auf dieses kindliche Herz herniederfielen, bewirkten schließlich, daß sie plötzlich in Klagen und Thränen zerfloß, in Bekenntnissen, in Ergießungen geräuschvoller und trostloser Natur sich ausschüttete.

O ja! ja doch! man rede nur nicht! sie war ein unglückliches Weib! Man wußte ja das alles garnicht, was sie schon um dieses Kindes willen gelitten hatte ...

Nun denn, ja doch! Der arme, liebe kleine Schlingel hatte keinen Namen, keinen Vater; aber war denn das ein Grund, ihm sein Unglück zu einem Verbrechen zu machen? ihn für die Schuld und Sünde seiner Eltern verantwortlich zu machen? ... »Ach! gütiger Herr Abt, lieber Herr Abt! ich bitte Sie darum ...«

Während sie also sprach, hatte sie in einer Regung von Hingebung, die in einem minder ernsten Anlasse ein Lächeln hätte heraufrufen können, die Hand des Priesters ergriffen, eine schöne, bischöfliche Hand, weich und weiß, die der wackere Pater mit sanftem Rucke freizumachen strebte, nicht ohne daß er von leichter Verlegenheit befallen wurde.

»Beruhigen Sie sich, meine liebe Dame! ...« sagte er, erschreckt über diese Ergüsse, über diese Thränen; denn sie weinte wie ein Kind, was sie im Grunde ja auch war – und ihre Thränen waren von Schluchzern, von Erstickungsanfällen begleitet – von dem unbefangenen und harmlosen Sichgehenlassen einer etwas gewöhnlichen Natur.

Der arme Mann dachte: »Was soll denn bloß mit mir werden, Du mein gütiger Gott! wenn der Dame schlecht werden sollte?«

Aber die Worte, die er zu ihrer Beruhigung vorbrachte, erregten und reizten sie nur noch mehr.

Sie wollte sich rechtfertigen, wollte Dingen Erklärung geben, wollte eine Schilderung von ihrem Leben geben – und wohl oder übel sah sich der geistliche Obere genötigt, ihr in eine düstere, halb zerrissene, kriechende, endlose Erzählung zu folgen, in welche sie sich ganz sinnlos stürzte – bei jedem Schritte den leitenden Faden zerreißend, ohne sich um die Kenntnis der Mittel und Wege zu kümmern, durch welche sie wieder zum Lichte heraufsteigen würde.

Dieser Name Barancy wäre nicht ihr Name ... O! wenn sie ihren Namen, ihren richtigen Namen hätte sagen können, da würde man gar sehr verwundert, erstaunt gewesen sein. Aber die Ehre einer der ältesten Familien Frankreichs, Sie verstehen doch! einer der ältesten, würde mit diesem Namen verknüpft sein, und man würde ihr eher das Leben rauben, als ihren Lippen diesen Namen entreißen können!

Der Vorsteher wollte Einspruch erheben, wollte sie versichern, daß es gar nicht in seinem Willen läge, ihr irgend etwas zu entreißen – aber es gelang ihm gar nicht einmal, sich in einem solchen Sinne verständlich zu machen. Sie war einmal im Zuge, und man hätte leichter den Flügeln einer im vollen Gange befindlichen Windmühle Stillstand gebieten können, als dieser im leeren Raume wirbelnden Rede. Was sie vor allem beweisen zu wollen schien, war der Umstand, daß sie zu dem höchsten Adel gehörte, daß ebenso ihr schändlicher Verführer der liebe Gott weiß was für einen vornehmen Namen trüge, und daß sie das Opfer eines unerhörten Verhängnisses geworden wäre.

Was sollte man von all diesem glauben? Kein Wort wahrscheinlich, denn der Verschweigungen, der Widersprüche gab es in diesem unzusammenhängenden Berichte die Menge. Etwas Ernstes, Ergriffenes, Rührendes sogar ging aus dem allen doch hervor, nämlich die Liebe, die zwischen dieser Mutter und diesem Kinde bestand. Sie hatten immer mitsammen gelebt. Sie ließ ihn zu Hause mit Schullehrern arbeiten und wollte sich von ihm nur trennen wegen dieses Verstandes, der zu schnell erwachte – wegen dieser Augen, die dem Kinde anfingen aufzugehen, und gegen die man nicht Vorsicht genug walten lassen konnte.

»Die beste Vorsicht von allen,« sagte der Priester mit Ernst, »würde die sein, daß Sie sich keiner Unregelmäßigkeit in Ihrem Leben schuldig machten, daß Sie Ihr Haus des Kindes würdig machten, welches darin seine Wohnung hat.«

»Darin beruht ja meine ständige Fürsorge, Herr Abt,« gab sie zur Antwort – »in dem Verhältnis, wie Jack heran wächst, fühle ich meinen Lebensernst wachsen. Übrigens wird ja von heute zu morgen meine Lage sich regeln und ordnen. Eine gewisse Persönlichkeit ist ja vorhanden, die sich seit langem um mich bewirbt ... Bis dahin aber hätte ich mich gern des Kindes entäußert, hätte es gern von meinem noch wirren Leben fern gehalten, hätte ihm gern eine aristokratische und christliche Erziehung – eine Erziehung geben lassen, die des großen Namens, den er tragen sollte, würdig sei. – Ich hatte gemeint, daß er nirgendswo zu diesem Zwecke so gut aufgehoben sein dürfte wie hier – aber nun weisen Sie ihn von sich und nehmen mit demselben Schlage der Mutter auch allen Mut zu ihren guten Absichten ...«

Hier schien der Instituts-Vorsteher in seinem Willen erschüttert zu werden. Er zauderte eine Minute, dann sah er der Dame bis auf den Grund der Augen und sagte:

»Nun! sei es denn, meine Gnädige! Da Sie unbedingt auf Ihrer Absicht bestehen, will ich mich Ihrem Begehr zu Willen zeigen. Der kleine Jack hat mir sehr gut gefallen. Ich gebe meine Einwilligung, ihn unter unseren Zöglingen aufzunehmen ...«

»O! Herr Oberer ...«

»Unter zweierlei Bedingungen aber ...«

»Ich bin bereit, mich allen Bedingungen zu fügen.«

»Die erste Bedingung ist, daß der Knabe bis zu dem Tage, an welchem Ihre Lebensstellung geregelt worden ist, seine freien Tage, ja selbst seine Ferien in unserm Hause verbringen und keinen Fuß mehr in das Ihrige setzen wird.«

»Aber das wird ja sein Tod sein, wenn er seine Mutter nicht mehr sieht, der arme liebe Jack! ...«

»O! Sie werden hierher kommen, ihn hier umarmen und küssen können, so oft Sie Lust haben! Bloß – und dies ist meine zweite Bedingung – werden Sie ihn niemals in dem allgemeinen Sprechzimmer, sondern hier, in diesem meinen Kabinett sehen dürfen, wo ich dafür Sorge tragen werde, daß Sie niemals gesehen werden, daß Ihnen niemals jemand begegnet.«

Sie stand auf, zitternd am ganzen Leibe.

Dieser Gedanke, daß sie niemals ihren Fuß mehr in das allgemeine Sprechzimmer setzen, sich niemals in diesen reizenden Donnerstag-Trubel sollte mischen dürfen, wo man den Ruhm einheimst der Schönheit seines Kindes, des Reichtums seiner Toilette und der vor dem Hause haltenden Equipage – daß sie niemals mehr zu ihren Freundinnen sollte sagen dürfen: »Ich habe gestern bei den Herren Patres die gnädige Frau von C ... oder die gnädige Frau von V ..., richtige gnädige Frauen! gesehen,« – daß sie ihren Jack nur immer insgeheim oder abseits sollte umarmen und küssen dürfen: dies alles empörte sie schließlich doch, wühlte schließlich all ihren Widerspruchsgeist auf.

Der hämische Priester hatte ins Schwarze getroffen.

»Sie sind grausam gegen mich, Herr Abt! Sie nötigen mich, etwas zu verweigern, wofür ich Ihnen noch eben wie für eine himmlische Gnade dankbar gewesen wäre. Aber ich habe meine Würde als Mutter und als Frau zu wahren. Ihre Bedingungen sind unannehmbar. Und was würde mein Kind denken ...«

Sie hielt inne, denn sie sah dort unten, hinter dem Glasfenster, ein kleines blondes Lärvchen, das, von der frischen Luft draußen und von einem unruhigen Fieber innen belebt, hinein in das Zimmer sah. Auf einen Wink seiner Mama kam das Kind sehr rasch herein.

»O! Mama! Wie nett und lieb von Dir! ... Sie mochten mir so viel mal Nein sagen, wie sie wollten, ich glaubte doch, Du wärest schon fort ...«

Sie nahm ihn rasch bei der Hand.

»Du wirst mit mir fortgehen,« sagte sie zu dem Kinde – »man mag uns hier nicht –«

Und sie ging mit großen Schritten, kerzengerade, stolz, aus dem Zimmer und zog das Kind, das ganz verdutzt über diesen, einer Flucht so ähnlichen plötzlichen Weggang war, hinter sich her. Kaum hatte sie dem respektvollen Gruße des Priesters, der sich ebenfalls von seinem Sitze erhoben hatte, durch ein Kopfnicken gedankt. Trotz der Eile, mit der sie aus dem Zimmer zu gelangen strebte, bewirkte sie ihre Flucht doch nicht rasch genug, um zu hindern, daß ihr Jack hinter sich eine weiche Stimme flüstern hörte: »Armes Kind! armes Kind!« mit einem Tone und einem Mitleid, die ihr bis zum innersten Herzen drangen.

Man bemitleidet ihn ... Weshalb?

Er dachte seitdem oft daran.

*

Der Instituts-Vorsteher hatte sich nicht geirrt.

Die Frau Gräfin Ida von Barancy war eine Gräfin, über die einem das Lachen ankommen konnte.

Sie hieß nicht de Barancy, vielleicht nicht einmal Ida. Von wo stammte sie? Was war sie? Was war in allen diesen Adelsgeschichten, von denen sie den Kopf voll hatte, Wahres? Das hätte niemand zu sagen vermocht. Diese komplizierten Existenzen haben so mannichfache Schicksale, schwimmen in soviel Unterwasser, haben eine so lange und wechselvolle Vergangenheit, daß man von ihnen niemals mehr kennt, als das letzte Bild, das sie einem zeigen. Man hätte durch sie an jene Drehleuchttürme erinnert werden können, auf deren intermittierenden Lichtschein lange Schatten folgen.

Das eine, was als gewiß gelten darf, ist dies, daß sie nicht Pariserin war, daß sie aus irgend einem Provinz-Hauptorte stammte, dessen Dialekt sie noch redete, daß sie von Paris nichts wußte, und daß es ihr nach dem Ausspruche von Fräulein Constant, ihrer Kammerzofe, an Art und an Weise absolut gebrach.

»Dämchen vom Lande ...« äußerte sich diese geringschätzig.

Freilich hatten eines Abends im »Gymnase-Theater« zwei Lyoner Handelsleute gemeint, in ihr eine gewisse Melanie Favrot wiederzuerkennen, die ehedem auf dem Platze des Terreaux ein Handschuh- und Parfümerie-Geschäft gehalten hatte. Aber diese Herren hatten sich geirrt und entschuldigten sich fleißig. Ein andermal behauptete ein Offizier vom dritten Husaren-Regiment, sie für eine Dirne namens Nana halten zu sollen, deren Bekanntschaft er ehedem, vor acht Jahren etwa, in Orleansville gepflegt hatte. Dieser hatte, nachdem er sich des nämlichen Irrtums schuldig gemacht, die nämlichen Entschuldigungen vorgebracht. Es giebt doch fürwahr recht impertinente Ähnlichkeiten.

Indes hatte Madame de Barancy sehr große Reisen gemacht, und hielt damit auch durchaus nicht hinter dem Berge. Aber es hätte schon ein Hexenmeister sein müssen, der etwas Klares, etwas Tatsächliches aus dem Wortschwall hätte herausfitzen wollen, den sie bei jedem Anlaß über ihren Ursprung oder über ihr Leben losließ. Eines schönen Tages hatte Ida in den Kolonieen das Licht der Welt erblickt, sprach von den Pflanzungen, die sie besessen hatte, und von ihren Negerinnen. Ein andermal wieder war sie aus der Touraine gebürtig und hatte ihre Kindheit in einem großen Schloß am Ufer der Loire verlebt. Und neben Einzelheiten, neben Anekdoten von allerhand Weise eine ganz wunderbare Scheu davor, alle diese vom Faden gefallenen Stücke ihres Daseins wieder zusammen zu verknüpfen!

Wie man es hat bemerken können, war in diesen phantastischen Erzählungen die Eitelkeit vorherrschend; eine Eitelkeit, wie sie dem grünen, geschwätzigen Papagei zu eigen ist. Über den Adel, über das Silber, über die Titel, über alles dies kam sie nicht hinaus.

Reich war sie nun freilich ganz gewiß, oder wurde doch zum wenigsten auf sehr reichem Fuße ausgehalten. Man hatte ihr ein kleines Hotel am Boulevard Haußmann gemietet. Sie hatte dort Pferde, Wagen; ihre Zimmer wiesen sehr schönes Mobiliar von einem etwas sehr zweifelhaften Geschmack auf. Sie hielt dort auch drei bis vier Lakaien und führte ein hohles, müßiges Spaziergangs- und Bummler-Leben, wie alle die Damen ihresgleichen, wozu sich bei ihr vielleicht ein, ein klein bischen verschämtes, züchtiges Wesen, Mangel an Sicherheit im Auftreten gesellte – Umstände, die ihren Ursprung ohne Zweifel in ihrer Herkunft aus der Provinz hatten, die sich mit besserem Geschick und Erfolg als Paris gegen die Damen einer gewissen Welt wehrt. Hierdurch, und in ebensolchem Grade auch zufolge ihrer wirklichen Jugendfrische – ein Andenken, das ihr wahrscheinlich aus einer in freier Luft verlebten Kindheit verblieben war – gehörte ihr in dem Pariser Strom eine gewisse Sonderstellung, ohne daß sie es übrigens dort bereits zu einer wirklichen Stellung gebracht hätte, denn sie war noch funkelnagelneu.

Alle acht Tage sprach ein Mann von unbestimmten Altersverhältnissen, etwas ins Graue schon schimmernd und von sehr vornehmem Wesen, in ihrer Wohnung vor. Wenn Ida im Gespräch seiner erwähnte, dann titulierte sie ihn Monsieur und sprach nie anders von ihm, als mit majestätischem Gethue, daß man sich schier an den alten Königshof von Frankreich zurückversetzt wähnen konnte, in die Tage, wo man mit diesem Worte den Bruder des Königs ansprach. Das Kind nannte ihn schlichterweise »lieber Freund.« Die Dienerschaft meldete ihn mit Stolz und Hochmut als den »gnädigen Herren Grafen« an – und doch war es der nämliche Herr, von welchem sie unter sich in vertraulicherer Weise nicht anders als von »ihrem Alten« redeten.

»Ihr Alter« mußte sehr reich sein; denn Madame ließ in allen Dingen fünfe grade sein, sah nach nichts, kümmerte sich um nichts, und es herrschte eine ganz riesige Verschwendung in diesem Haushalte, welcher von Mamsell Constant, einem richtigen Faktotum von Kammerfrau, der einzigen, aber auch wirklichen Person von Einfluß in der Wohnung, geführt und geleitet wurde. Diese Mamsell Constant war es, die ihrer Herrin Adressen von Lieferanten behändigte, die ihr in ihrer Unkenntnis des Pariser Lebens und der guten Gesellschaft ein weiblicher Bädeker war – denn der Traum, der ihrem Geist vor allen Dingen vorschwebte, die Sehnsucht, die ihr Herz vor allem andren erfüllte, und die ihr zweifelsohne in Gemeinschaft mit dem Reichtum zum Bewußtsein gelangt war – gingen dahin, als eine vollendete Dame, als vornehme, adelige, makel- und tadellose Dame in den Augen der Welt zu gelten.

Hiernach stelle man sich nun vor, in welchen Zustand sie der Empfang des Paters O... versetzt hatte, und mit welchem Ingrimm im Herzen sie den Fuß aus seinem Privatzimmer setzte.

Eine vornehme herrschaftliche Karosse erwartete sie am Eingangsthor zu dem Institut. Sie stürzte sich mit ihrem Kinde mehr in den Wagen hinein, als daß sie hineinstieg, und wahrte sich grade noch soviel Kraft, um mit festem Tone zu sagen: »Ins Hotel!« und zwar in einer Weise, daß sie von einer Gruppe von Priestern gehört wurde, die auf der Freitreppe plaudernd umherstanden und vor diesem Wirbel von Pelzen und lockigem Haar geschwind auseinandergestiebt waren.

Als aber der Wagen im Gange war, da warf sich die Unglückliche in eine Ecke zurück. Jetzt hatte sie nicht mehr ihre gefallsüchtige Promenaden-Haltung, sondern war geknickt, zermalmt, sie weinte herbe Thränen, und nur mühsam erstickte sie ihr Schluchzen und Aufschreien in den seidenen Kissen und Polstern.

Welch eine Schmach und Schande! ... daß man sich geweigert hatte, ihr Kind aufzunehmen! daß dieser Priester auf den ersten Hieb hin die Situation aufgedeckt hatte, in welcher sie sich befand! diese Situation, die sie so geschickt unter all dieser üppigen und verschwenderischen Außenseite, unter all diesem Lug und Trug der Weltdame und makellosen Mutter verhüllt zu haben meinte! war das denn denkbar?

Das, was sie war, war also deutlich ersichtlich! sah man also!

Aller Augenblicke trieb dieser kluge, scharfe Blick des Institutsvorstehers, den ihr gekränkter Stolz ihr wie eine unausstehliche Leibesstrafe vor die Augen rückte, sie von ihrem Sitze in die Höhe – sie hatte nichts andres im Sinne als diese Erinnerung! diese Erinnerung, die ihr fliegende Hitze auf die Wangen jagte, die ihr ganzes Gesicht mit jäher Röte übergoß. Sie rief sich sein Geschwätz ins Gedächtnis zurück, alle die Lügen, die er als schieren Zeitverlust so reichlich geredet hatte – dieses ungläubige Lächeln, vor welchem sie sich nicht zu halten vermocht hatte, und das sie vom ersten Worte an so ganz und gar erraten hatte.

Unbeweglich und stumm saß Jack in der andern Ecke des Wagens und heftete seinen betrübten Blick auf seine Mutter, ohne daß er ein Verständnis gewann für ihre Verzweiflung anders als daß sie vielleicht um seinetwillen Ursache zum Kummer, zur Verzweiflung hätte. Er fühlte sich in unklarer Weise bewußt, Schuld zu tragen, der liebe Kleine; auf dem Grunde dieser Traurigkeit regte sich aber auch die große Freude darüber, daß er nicht in die Pension gebracht worden war.

Denke man doch nur! Seit ganzen vierzehn Tagen war von nichts andrem die Rede gewesen, als von diesem Vaugirard. Seine Mutter hatte ihm das Versprechen abgenommen, nicht zu weinen, sondern recht artig zu sein. »Der liebe Freund« hatte ihn in seinen Schulkenntnissen geprüft. Constant hatte ihm die Ausstattung gekauft. Er lebte nur noch unter Zittern und Beben vor dem Gedanken an dieses Gefängnis, wohin jedermann ihn schob und stieß. Und nun, im letzten Augenblick, ließ man ihm solche Gnade angedeihen!

O! wenn seine Mama nicht so viel Kummer gehabt hätte, wie würde er ihr gedankt haben, wie würde er glücklich gewesen sein, sich dort zu wissen, so ganz dicht in ihrer Nähe, in die Polster dieser kleinen Equipage vergraben, worin sie so feine Spazierfahrten gemacht hatten! worin sie deren noch mehr machen würden! Und Jack besann sich auf die Nachmittage, die er im Wäldchen gewesen war, auf die langen köstlichen Fahrten, die er durch dieses schmutzige und durchfrorene, für sie so teure Paris, auf das sie beide so neugierig waren, in dieser Equipage gemacht hatte. Ein Denkmal, an dem sie vorbeifuhren, der geringfügigste Vorfall auf der Straße, Alles war für sie ein Gegenstand der Freude.

»Sieh doch nur, Jack ...«

»Sieh doch, Mama ...«

Es war als wenn sie ein paar Kinder gewesen wären. Man sah gleichzeitig an dem Vorhange des Wagenfensters die langen blonden Locken des Kleinen und das dichtverschleierte Gesicht der Mutter.

*

Ein verzweifelter Aufschrei aus dem Munde der Frau von Barancy riß das Kind jäh aus allen diesen Erinnerungen guter und freundlicher Art.

»Du mein Gott! Du mein Gott! Was habe ich denn gemacht?« rief sie, die Hände ringend – »was habe ich denn begangen, daß ich so unglücklich werden muß?«

Diese Ausrufung blieb naturgemäß ohne Antwort; denn das was sie verbrochen hatte, wußte der kleine Jack zum mindesten ebensowenig wie sie. Da er nun nicht wußte, was er zu ihr sagen, wie er sie trösten sollte, faßte er sie schüchtern bei der Hand und drückte sie mit Inbrunst gegen seine Lippen, ganz in der Weise eines inbrünstigen Liebhabers.

Sie erbebte – sah ihn an mit zerstreutem Blicke.

»Ach! Du grausames, grausames Kind! Wieviel Böses hast Du mir schon zugefügt, seitdem Du auf der Welt bist!«

Jack wurde blaß.

»Ich? ... Ich hab' Dir Böses zugefügt?«

Er kannte, liebte nur ein einziges Wesen auf der Erde, seine Mutter. Er fand sie schön, er fand sie gut, er fand sie unvergleichlich. Und ohne es zu wollen, ohne es zu wissen, hatte er ihr Böses zugefügt.

Der arme Kleine bekam bei diesem Gedanken einen Anfall von Verzweiflung, auch er! aber bei ihm war die Verzweiflung stummer Art, ganz so, als wenn er nach dem lauten Schmerzensausbruch, dessen Zeuge er gewesen war, Scham davor, seinen Kummer zu offenbaren, empfunden hätte. Es waren Anfälle von Zittern, die er hatte, von erstickten Schluchzern; es war wie ein nervöser Starrkrampf.

Die Mutter wurde von Furcht befallen – sie umschlang ihn mit den Armen.

»Aber nicht doch! ... nicht doch! ... Die Sache ist ja zum Lachen. O! der große dumme Bengel! ... Nimmt man sich denn gleich alles so zum Herzen? ... Da seh mir doch einer diese Schmeichelkatze.«

Sie gingen hinunter in die spanische Zuckerbäckerei, die in diesem Augenblicke gerade sehr beliebt beim Publikum war.

Es waren eine Unmenge von Menschen da.

Kleiderstoffe rieben sich an Pelzen und umgekehrt, und drängten und stießen sich mit einer Hast nach Genuß – und die Frauen-Gesichter, den Schleier bis zur Augenhöhe hinaufgerückt, spiegelten sich wieder in den goldgerahmten, von creamfarbenen Simsen überragten Scheiben des Ladens, mitten zwischen allerhand lustigen Reflexen, welche das milchichte Weiß der Tassen und Schalen, der Kristall der Gläser, die Mannichfaltigkeit der Backwaren warfen.

Madame von Barancy und ihr Kind wurden sehr viel angesehen. Das entzückte sie. Dieser kleine Erfolg, verbunden mit der eben überstandenen Aufregung, bewirkte, daß sie eine ganz stattliche Portion von Zuckerkringeln und Nuß- und Mandeltörtchen verzehrte, die sie sodann mit einem Schluck spanischen Weins befeuchtete. Jack machte es wie sie, nur in bescheidenerem Maße, denn sein Herzchen war von schwerem Kummer so übervoll, daß er der Seufzer noch manchen unterdrückte und an unvergossenen Thränen keinen Mangel hatte.

Als sie von dort weggingen, war das Wetter so schön, wenn auch kalt, und der Markt an der Madeleine tränkte die Luft mit einem so süßen Veilchenduft, daß Ida zu Fuße zurückkehren wollte und den Wagen wegschickte. Behend, aber mit jenem etwas langsamen Schritte von Damen, die daran gewöhnt sind, sich bewundern zu lassen, machte sie sich auf den Weg, ihren Jacques an der Hand führend. Der Gang in der frischen Luft, der Anblick der Kaufläden, die man zu erleuchten anfing, bewirkten, daß sie ihre frohe Laune vollends wieder fand.

Und dann kam ihr plötzlich vor ich weiß nicht welcher Auslage, die heller blinkte als die anderen, der Gedanke an einen Maskenball in den Sinn, den sie am Abend zu besuchen versprochen hatte – einen Ball, dem ein Diner im Restaurant vorausgehen sollte.

»Daß Gott erbarm! ... Und ich habe mit keinem Gedanken mehr daran gedacht ... Sieh doch nur, mein kleiner Jack, wie dumm und einfältig, wie zerstreut ich bin ... geschwind! geschwind!«

Es waren Blumen dazu notwendig, ein Strauß, mancherlei kleine, in Vergessenheit geratene Gegenstände. Und das Kind, dessen Leben fortwährend nichts andres als solche Nichtigkeiten, solcher Tand gewesen war, das fast ebenso wie sie den subtilen Reiz solcher Vornehmheiten fühlte, folgte ihr hüpfend und springend, angeregt von dem Gedanken an dieses Fest, von dem es nicht das geringste vor die Augen bekommen sollte. Es war eines von den Dingen, an denen es seine Freude hatte: die Toilette seiner Mutter, die Schönheit seiner Mutter, diese von Bewunderung getragene Aufmerksamkeit, die sie bei ihrem Vorübergehen erregte.

»Hinreißend! hinreißend schön! ... Ach! Sie schicken mir das wohl nach meiner Wohnung, Boulevard Haußmann?«

Madame de Barancy warf ihre Karte hin, ging aus dem Laden, erzählte Jack mit überschäumendem Redeschwall von diesen Einkäufen. Dann setzte sie eine ernste Miene auf.

»Vor allen Dingen denke an das, was ich Dir ans Herz gelegt habe ... Dem lieben Freunde dürfen wir nicht sagen, daß ich auf diesen Ball gegangen bin ... Die Sache ist ein Geheimnis ... Sapperlot! schon fünf Uhr ... Herr! was mich die Constant ausschelten wird!«

Sie irrte sich nicht.

Ihr Faktotum von Kammerfrau, eine große, kräftige Person in den Vierzigern, männisch und häßlich, kam ihr schon auf den Flur entgegengerannt, sobald sie sie kommen hörte.

»Das Kostüm wäre da ... Es läge doch kein Verstand darin, so spät zurück zu kommen ... Madame würde eben nicht fertig werden ... Man könnte sie doch im Leben nicht in solch kurzer Zeit ankleiden!«

»Zank mich nicht aus, meine gute Constant! ... Wenn Du wüßtest, wie es mir geht. Da! sieh!«

Und sie wies auf das Kind. Das Faktotum schien aufgebracht.

»Wie? Herr Jack ... Sie sind wieder hierher gekommen? Das ist sehr garstig, junger Herr, nach dem Versprechen, das Sie mir gegeben hatten. Na! da wird man Sie wohl mit dem Gendarm nach dieser Schule schaffen müssen ... Freilich! ich sage es ja immer: Ihre Mama ist viel zu gutmütig.«

»Aber nicht doch ... an ihm liegt ja die Schuld nicht! Die Priester dort unten haben ihn ja nicht gemocht! ... Verstehst Du? Mir einen solchen Schimpf anzuthun! mir! mir! ...«

Darüber kamen ihr die Thränen wieder in die Augen, und sie fing wieder an Gott zu fragen, was sie denn nur gethan hätte, daß sie mit solchem Unglück gestraft würde ... Bringe man hiermit noch die Zuckerkringel, den spanischen Wein, die Hitze im Zimmer in Verbindung ... Es war ihr ganz übel.

Sie mußte auf ihr Bett gelegt werden; es mußten Flaschen mit Äthersalzen aufgestöpselt werden, um sie wieder ins Leben zu bringen. Fräulein Constant entledigte sich all dieser Obsorgen als Person, welche solche Arten von nervösen Zufällen genau kennt – sie ging in dem Zimmer ab und zu, öffnete und schloß die Schränke mit jenem herrlichen kalten Blute, das die Frucht der Erfahrung, der Praxis ist, und mit der Miene, die deutlich sagte: »Sowas geht vorbei.«

Während sie diese Obliegenheiten erfüllte, sprach sie bei sich: »Was für ein Einfall aber auch, dieses Kind zu den Patres zu führen! ... Als ob das ein Pensionat wäre, das sich für ein Kind in seiner Lage und Stellung schickte! ... So 'was würde doch ganz gewiß nicht geschehen sein, wenn man mich nur ein wenig um Meinung und Rat gefragt hätte ... Ich würde nicht in Verlegenheit geraten sein, für den Jungen eine Pension zu finden und eine gute dazu!«

Jack, der ganz außer sich vor Schreck war, seine Mutter in solchem Zustande zu sehen, war an das Bett herangetreten und sah sie mit angstvollem Gesicht an, während er sie aus tiefstem Herzen um Verzeihung bat für diesen Kummer, zu welchem er die Ursache geboten hatte.

»Pascholl! ... Scheren Sie sich weg von hier, Musje Jack ...: Ihrer Mama fehlt nichts mehr ... Ich muß sie nun anziehen.«

»Wie! Constant! Du willst, daß ich auf diesen Ball gehe! ... ich hab' so wenig Lust, mich zu amüsieren ...«

»Ah bah! lassen Sie doch nur! ich kenne Sie ja! ... In fünf Minuten wird nichts mehr davon zu spüren sein ... Sehen Sie sich doch nur dieses brillante Narren-Kostüm an und diese rosaseidenen Strümpfe – und Ihre kleine Schellenkappe ...«

Sie hatte das Kostüm in die Hand genommen, breitete es aus, ließ den ganzen Flitterstaat klingeln und schimmern, und Ida ließ sie gewähren und gab ihren Widerstand auf.

Während seine Mutter angekleidet wurde, ging Jack in das Schlafzimmer, ohne Licht, ganz allein.

Schatten füllte das zierliche, auswattierte, dicht mit Möbeln gefüllte Zimmer, wohinein die nahe Straßenlaterne vom Boulevard aus einen unbestimmten Lichtschein warf. Traurig lehnte er die Stirn an die Scheibe und fing an, über diesen an Aufregungen reichen Tag nachzusinnen. Nach und nach, ohne daß er sich zu sagen vermochte weshalb, fühlte er sich das Bewußtsein überkommen, daß er wirklich »das arme Kind« sei, von welchem dieser Priester mit soviel Mitleid und Barmherzigkeit gesprochen hatte.

Es ist so wunderlich, Wehklagen über sich aus andrer Munde zu hören, wenn man sich glücklich glaubt. Es giebt also doch solch wohlverstecktes Unglück, daß diejenigen, welche von ihm die Ursache oder das Opfer sind, es nicht einmal erraten!

Die Thür ging auf. Seine Mutter war in Bereitschaft.

»Kommen Sie herein, Herr Jack ... und sehen Sie sich an, ob auch alles schön ist ...«

O! welch eine reizende Schalknärrin, rosig und silbern und ganz in Atlas! Welch allerliebstes Kettchen- und Blättchen-Geklapper machte sie bei der geringsten Bewegung!

Das Kind sah und bewunderte, und die Mutter, gepudert, luftig und duftig, ihre Schellenkappe in der Hand, lachte Jack an, lachte sich selbst in ihrem Spiegel an, ohne sich noch im geringsten darüber Sorge und Unruhe zu machen, was sie denn dem lieben Gott böses zugefügt hätte, daß sie so unglücklich sein müßte. Hierauf warf Constant ihr einen warmen Ball-Shawl über die Schulter und begleitete sie bis zum Wagen, während Jack, an die Fensterbrüstung gelehnt, die beiden kleinen rosa Schuhe, mit Silber gestickt, lebendig und rührig, als wenn der Tanz sie schon in Bewegung setzte, über den Treppenteppich niedertrippeln sah, – diese Schuhe, die seine Mutter weit, gar weit von ihm hinwegführten, auf Bälle und zum Tanzvergnügen, wohin man die Kinder nicht mitnimmt. Beim letzten Klingeln der Glöckchen und Schellen trat er, ganz erschöpft und mutlos, in das Zimmer zurück, und zum ersten mal in seinem Leben fühlte er sich von banger Sorge beschlichen über diese Einsamkeit und Verlassenheit, in welcher er sich fast allabendlich befand.

Wenn Frau de Barancy außerhalb des Hauses speiste, blieb Jack der Fürsorge des Fräulein Constant überantwortet.

»Sie wird mit Dir zusammen essen,« sagte die Mutter.

Man trug zwei Gedecke in das Speisezimmer, das dem Kind an solchen Tagen recht groß zu sein bedünkte; Constant aber, die sich an diesem Zusammensein mit dem Jungen sehr wenig erbaute, trug die beiden Gedecke nach der Küche hinunter, und dann speiste man unten im Erdgeschoß in Gemeinschaft mit den andern Dienern.

Eine richtige Gasterei! ein Gelage!

Die Lodderwirtschaft zeigte sich in all dem Überfluß der mit Fett beschmierten Tafel und in all der regellosen, wüsten Fröhlichkeit der am Tisch sitzenden Gäste. Natürlicherweise führte das Faktotum den Vorsitz und that sich keinen Zwang an, die Gesellschaft dadurch zu erheitern, daß sie die Abenteuer und Erlebnisse ihrer Herrin zum Besten gab, mit versteckten Worten indes und so, daß der Kleine sich nicht darob erschreckte.

An diesem Abend gab es in dem Erdgeschoß eine große Erörterung über die in Vaugirard erlittene Abweisung. Augustin, der Kutscher, gab die Erklärung ab, daß das schon deshalb viel besser sei, als dies Volk dort doch aus dem Kinde »einen Jesuiten, einen Tartüffe« gemacht haben würde.

Fräulein Constant legte gegen diese Rede Verwahrung ein. Sie »wäre zwar nicht von der Religion dieser Leute,« das sei wahr, sie wollte aber auch nicht leiden, daß man schlechtes von ihr rede.

Nun nahm die Unterhaltung eine andere Wendung, sehr zur Enttäuschung Jacks, welcher seine kleinen Ohren in ihrer vollen Länge spitzte, noch immer von der Hoffnung beseelt, daß er in Erfahrung bringen möchte, warum wohl dieser Priester, der doch ein so gütiges Aussehen gezeigt hätte, nichts von ihm wissen möge.

Für den Augenblick war keine Rede mehr weder von Jack noch von seiner Mutter, sondern nur von den religiösen Meinungen und Überzeugungen jedes einzelnen von der Gesellschaft. Der Kutscher Augustin bekundete deren, nach einem tüchtigen Trunk, mehr als sonderbare ... Sein lieber Gott, sagte er, wäre die Sonne, und einen anderen Gott erkennte er nicht an ...

»Ich bin ganz so wie die Elephanten sind,« wiederholte er unablässig mit dem Starrsinn des Trunkenbolds – »ich bete die Sonne an.«

Schließlich fragte man ihn, wozulande er es denn gesehen hätte, daß die Elephanten die Sonne anbeteten.

»Ich hab's einmal auf einer Photographie gesehen,« sagte er mit einem Wesen majestätischer Dummheit.

Daraufhin schalt ihn Mamsell Constant als einen Gottlosen und Atheisten, während die Köchin, eine große Picardin, voller bäurischer Verschlagenheit ihnen beiden in einem fort sagte:

»Hört Ihr'sch! Ihr scheid alle beide im Ohnrecht ... über de' Glaube darf man nicht dischkutiere' ...«

Und Jack? ... was that er während dieser ganzen Zeit? ...

Ganz am Ende der Tafel, betäubt von der Atmosphäre der Öfen und Herde und von dem endlosen Geschwätz dieser rohen Menschen, war er eingeschlafen, mit dem Gesicht auf den Arm gestützt, während ihm die langen blonden Locken über den Samtärmel fluteten. In jenem Zustande von Unklarheit und Verwirrung, welcher dem Schlaf im sitzenden Zustande voraufgeht, der so sehr ermattet und so unangenehm ist, hörte er das Geflüster der drei Dienstboten-Stimmen ... Jetzt schien es ihm so, als ob man von ihm redete – aber es bedünkte ihn weit, gar weit zu sein, wie in wirrem Nebel ...

»Wem sein Junge ist er denn, dieser holde süße Musje?« fragte die Stimme der Köchin.

»Darüber weiß ich nichts, gar nichts,« gab die Constant zur Antwort – »was aber sicher ist, ist das, daß er nicht hier bleiben kann, und daß sie mir den Auftrag gegeben hat, ein Pensionat für ihn ausfindig zu machen.«

Zwischen einem zweimaligen Aufschlagen lallte der Kutscher:

»Aber warten Sie doch! warten Sie doch! ... Ich kenne ja doch ein Pensionat, das sehr bekannt, das berühmt ist ... und in dem man Ihnen den Kr ... Kram ganz ausgezeichnet be ... besorgen würde ... Das Ding heißt Collegium ... nein, Colleg war's nicht ... Gym ... Gymnasium Moronval! jawohl, so heißt's. Aber wenn's auch so heißt, so ist's doch trotzdem eben ein Colleg. Als ich bei den Saïd's war, bei den Ägyptern, da hab' ich den kleinen Musje dorthin geführt; mir gab nämlich der Anstaltsvorsteher, eine Art von schlecht geweißtem schwarzem Teufel, immer Prospekte. Ich muß noch einen davon in der Tasche haben.«

Er suchte in seiner Brieftasche herum und griff unter den vergilbten Papieren, die er auf dem Tische auskramte, einen Wisch heraus, der noch schmutziger war, als alle andern.

»Da, hier!« sagte er mit triumphierender Miene.

Er faltete den Prospekt auseinander und fing an, mühsam zu lesen oder vielmehr zu buchstabieren.

»G ... y ... Gym ... nasium ... Mo–ron–val ... im ... im ...«

»Geben Sie mir doch das Ding her,« sagte Fräulein Constant – nahm ihm das Papier aus den Händen und las in einem Zuge:

»Gymnase Moronval, Avenue Montaigne Nr. 25. – Im schönsten Stadttheil von ganz Paris. – Familien-Erziehung. – Großer Garten. – Beschränkte Anzahl von Zöglingen. – Lehrkursus in der Aussprache des Französischen nach der Methode Moronval-Decostère. – Berichtigung fremdländischer oder provinzieller Dialekte. – Hebung aller Aussprach-Gebrechen, welcher Art immer, durch die Richtigstellung der phonetischen Organe!«

»Aber das scheint mir ja ganz außerordentlich passend!«

»I' glaub' schon, dasch esch' wasch gut'sch isch,« sagte die Picardin, welche die Augen weit aufriß.

»... der phonetischen Organe,« begann die Constant wieder – »deutliches Lesen mit lauter Stimme ... Anfangsgründe in der Kunst des richtigen Sprechens und richtigen Atmens.«

Die Vorlesung des Prospektes dauerte fort. Aber Jack war eingeschlafen und hörte nichts mehr.

Er träumte.

Ja! während seine Zukunft an diesem unsauberen Küchentisch herum rumorte – während seine Mutter als rosige Schalknärrin sich Gott weiß wo wie eine Person von Sinnen erlustigte, da träumte er von jenem Priester dort unten und von jener durchdringenden und weichen Stimme, welche die Worte gesprochen hatte: »Armes Kind!«


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