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Fünfzehntes Kapitel.
Zenaidens Mitgift.

In der Schmiede hörte Jack oft die Kameraden untereinander über die Familie Roudic spotten. Das Verhältnis Clarisses mit dem Nanteser war für niemand mehr ein Geheimnis, und dadurch, daß der Direktor sie voneinander entfernte, hatte er, ohne es zu wollen, den Skandal an die Öffentlichkeit gebracht. So lange ihr Neffe in Indret weilte, hatte Clarisse dem schönen Zeichner widerstehen können, aber seit er in St. Nazaire wohnte, und der Direktor seinen Aufenthalt dort absichtlich von Monat zu Monat verlängerte, hatte sich die Sache geändert. Sie schrieben sich und hatten heimliche Zusammenkünfte.

St. Nazaire und La basse Indre lagen nur zwei Stunden weit auseinander und um von Indret nach La basse Indre zu gelangen, brauchte man nur über einen Arm der Loire zu fahren. Dort trafen sie sich. Der Nanteser fand in der Werkstatt der »Transatlantischen« nicht so strenge Vorschriften, wie im Hüttenwerk und konnte sich frei machen, wann er wollte, und Clarisse konnte unter dem Vorwand, Einkäufe besorgen zu müssen, überfahren. In Indret wußte das jeder, und wenn Clarisse zur Arbeitszeit, wenn die gesenkte Fahne sie vor ihrem Manne sicherte, die Straße nach dem Ufer zu hinabschritt, so sah sie, wie die ihr begegnenden Arbeiter oder Beamten vor sich hinlächelten oder sie mit kühner Vertraulichkeit grüßten. Hinter den offenen Hausthüren, den aufgezogenen Vorhängen sahen feindselige Mienen und Späheraugen hervor und im Vorbeigehen hörte sie zischeln.

»Sie geht zu ihm.«

Ja, sie ging zu ihm, begleitet von der Verachtung des ganzen Ortes, halbtot vor Scham und Furcht, mit gesenkten Augen und glühenden Wangen, welche der frische Wind auf der Loire nicht immer zu kühlen vermochte. Aber sie ging, die nachlässigen Naturen sind furchtbar!

Jack wußte darum. Die Werkstatt öffnet Kindern sehr bald die Augen, und die Arbeiter genierten sich seinetwegen nicht, die Dinge beim Namen zu nennen und die beiden Brüder zu bezeichnen:

»Roudic, der Sänger und Roudic, der ...«

Dabei lachten sie, Jack aber lachte nicht. Er bedauerte den armen, blinden, vertrauensseligen Mann und die schwache, willenlose Frau.

Aber was ihn am meisten ärgerte, war, daß sein Freund Belisar mit an der Schurkerei beteiligt war. Der Krämer, welcher infolge seines Handels viel unterwegs war, diente den beiden Schuldigen als Bote. Mehrmals hatte ihn der Lehrling überrascht, wie er gegen einige Münzen einen Brief in Frau Roudics Schürze gleiten ließ und war so entsetzt darüber, seinen Freund zu diesem schändlichen Verrat die Hand bieten zu sehen, daß er seitdem eine Begegnung vermied und nicht mehr stehen blieb, um mit ihm zu plaudern. »Guten Tag, ein andermal, ich habe heute keine Zeit«, damit ließ er den bestürzten Krämer stehen.

Belisar war weit entfernt, den Grund dieser plötzlichen Kälte zu ahnen. Er begriff erst, als er eines Tages mit einer eiligen Botschaft für Clarisse, die er nicht zu Haus fand, auf Jack wartete und ihm den Brief mit geheimnisvoller Miene in die Hand drückte:

»Bst, für Frau Roudic, nur für sie ...«

Auf dem blauen, mit Wachs verklebten Umschlag erkannte Jack die Handschrift des Nantesers; wahrscheinlich wartete er unten im Wirtshaus.

»Nein,« rief der Lehrling, »ich übernehme die Bestellung nicht, und an Eurer Stelle würde ich lieber Hüte verkaufen, als solchen Schacher treiben.«

Belisar sah ihn verdutzt an.

»Nun ja,« versetzte Jack, »Ihr wißt recht gut, was für Briefe Ihr da herumtragt. Glaubt Ihr, daß Ihr ehrlich handelt, wenn Ihr den braven Mann betrügen helft?«

Das fahle Gesicht des Krämers färbte sich purpurn.

»Das sind harte Worte, Herr Jack. Ich habe noch nie einen Menschen hintergangen, das wird Ihnen jeder sagen. Man giebt mir Briefe mit, und ich besorge sie, nicht wahr? Das sind meine kleinen Nebeneinkünfte, und ich darf sie nicht zurückweisen, denn wir sind eine zahlreiche Familie, und das Geld verdient sich sauer. Ich hausiere nun schon so lange und habe mir noch keine passenden Schuhe anschaffen können.«

Er machte ein so ehrliches Gesicht, daß man ihm wirklich nicht böse sein konnte. Jack versuchte, ihm sein Unrecht zu beweisen, aber vergebens!

»Meine kleinen Nebeneinkünfte ... soviel Kinder zu ernähren ... der Alte kann nicht mehr arbeiten ...« Es waren Gründe genug, Belisar brauchte weiter keine.

Daß Vater Roudic von dem, was bei ihm zu Hause vorging, nichts wußte, war nicht zu verwundern bei seinem arbeitsvollen Leben und seinem blinden, zärtlichen Vertrauen. Aber woran dachte Zenaide? War sie nicht mehr da? Hatte Argus seine Augen eingebüßt?

Im Gegenteil, Zenaide war mehr als sonst zu Hause; seit einem Monat ging sie nicht mehr auf Arbeit. Ihre guten, schlauen Augen waren freilich weit offen, außerordentlich lebhaft und glänzend.

Diese zufriedenen, glücklichen Augen sagten, nein schrieen sogar:

»Zenaide wird sich verheiraten, Zenaide hat einen Schatz.«

Einen hübschen Schatz, wahrhaftig, einen Steuerbeamten mit schöner grüner, enger Uniform, einem kleinen, unternehmenden Schnurrbart und Tressenmütze. Er war sehr teuer, wenigstens für Vater Roudic. Siebentausend Franken in Scheinen und blanken Stücken, die Vater Roudic in zwanzig Jahren erspart hatte, verlangte der Brigadier. Für siebentausend Franken willigte er ein, Zenaidens Züge regelmäßig und ihre Figur weniger ungeschickt zu finden und ihr den Vorzug zu geben. Vater Roudic fand die Forderung ein wenig hoch, seine ganzen Ersparnisse gingen dahin. Und was wurde aus Clarisse, wenn er sterben sollte! Seine Frau hatte sich in dieser Angelegenheit sehr großmütig gezeigt:

»Bah, was thut das? Du bist jung und kannst noch lange arbeiten. Wir können sparen, gieb ihr nur ihren Brigadier, sie ist ja ganz vernarrt in ihn.«

Seit also nun Aussicht vorhanden war, Frau Mangin zu werden und dem unwiderstehlichen Brigadier die Hand fürs Leben zu reichen, vergaß Zenaide Essen und Trinken darüber. Sie versank in Träumereien, stand stundenlang vor dem Spiegel, strich sich die Haare zurecht und streckte sich schließlich in komischer Verzweiflung die Zunge heraus. Das arme Mädchen täuschte sich über ihr Äußeres nicht.

»Ich weiß, daß ich häßlich bin,« sagte sie, »und daß mich Mangin nicht meiner schönen Augen wegen nimmt. Aber das thut nichts, er wird mich schon lieben lernen.«

Der Gedanke an diese Heirat, die Angst, ob sie auch wirklich stattfinden würde, und die Freude, als die Angelegenheit endlich geordnet und der Hochzeitstag festgesetzt war, hatten ihre Wachsamkeit abgelenkt. Überdies wohnte der Nanteser nicht mehr in Indret. Und dann hatte sich Clarisse bei dieser Angelegenheit so großmütig gezeigt, daß Zenaide ihren Argwohn vergessen hatte – plötzliche Dankbarkeitsanwandlungen überkamen sie, sie warf Fingerhut und Scheere hin und stürzte über die weißen Stoffe bis zu ihrer Stiefmutter hin.

»O Mama, Mama!«

Und sie umarmte und drückte sie an sich, trotz der Nadeln, mit denen ihre Taille jetzt bei der eifrigen Näherei mehr als sonst gespickt war. Sie bemerkte weder Clarissens Blässe, noch ihre Unruhe, auch nicht die langen, häufigen Spaziergänge; sie dachte nur an ihr Glück und lebte in einer Art Rausch dahin.

Endlich war das erste Aufgebot geschehen, die Hochzeit sollte in vierzehn Tagen stattfinden, und das kleine Roudic'sche Haus befand sich in der freudigen Aufregung, welche jeder Hochzeit vorauszugehen pflegt. Zenaide stieg wohl täglich zehnmal die kleine Holztreppe auf und ab und hüpfte dabei, wie ein junges Nilpferd. Und all die Besuche von Freundinnen und Gevatterinnen, Anproben und Hochzeitsgeschenke! Die Braut bekam sehr viel, denn trotz ihres plumpen Äußeren war das gute Mädchen bei allen gern gesehen.

Auch Jack beabsichtigte, ihr ein kleines Andenken zu verehren. Seine Mutter hatte ihm hundert mühsam ersparte Franken geschickt.

»Dies Geld gehört Dir, mein Jack,« schrieb Charlotte, »ich habe es für Dich beiseite gelegt. Du sollst davon ein kleines Geschenk für Fräulein und einen Anzug für Dich kaufen; denn Deine Garderobe muß in elendem Zustande sein, wenn Du, wie Du schreibst, den schottischen Anzug nicht mehr tragen kannst. Erwähne diese Sendung aber in Deinen Briefen nicht, auch nicht Roudic gegenüber. ›Er‹ ist jetzt ordentlich aufgeregt. Der arme Freund arbeitet zu viel.«

Seit zwei Tagen fühlte sich Jack ganz stolz, soviel Geld in der Tasche zu haben. Er freute sich auf seine neuen, sauberen Kleider, die er statt des häßlichen, verwaschenen Kittels tragen sollte. Am nächsten Sonntag wollte er sich alles in Nantes besorgen. Nur eins beunruhigte ihn, das Hochzeitsgeschenk für Zenaide. Was schenkt man wohl einem jungen Mädchen, das sich verheiraten will! Womit erfreut man sie?

Jack dachte an einem Winterabend daran, während er das Roudicsche Haus betrat. Der Abend war sehr dunkel. In der Nähe des Hauses stieß er gegen einen Menschen, welcher die Mauer entlang schlich.

»Seid Ihr es, Belisar?«

Keine Antwort, aber als der Lehrling die Thür aufstieß, sah er, daß er sich nicht getäuscht hatte. Clarisse stand mit wehenden Haaren, blau vor Kälte, im Flur so eifrig beschäftigt, in dem aus der guten Stube dringenden Lichtschein einen Brief zu lesen, daß sie Jack garnicht bemerkte. Der Brief mußte eine außergewöhnliche Nachricht enthalten. Jack erinnerte sich in der Werkstatt gehört zu haben, daß der Nanteser in St. Nazaire mit den Mechanikern eines englischen, eben von Calkutta gekommenen Schiffes gespielt und eine bedeutende Summe verloren habe. Ohne Zweifel teilte der Brief dies mit, das sah man an Clarissens Erregung.

In der guten Stube waren Mangin und Zenaide allein.

Vater Roudic war am Morgen nach Chateaubriant gefahren, um die Papiere seiner Tochter zu holen und sollte erst am nächsten Tage zurückkehren, was aber den schönen Brigadier nicht hinderte, zum Essen nach Indret zu kommen; überdies war ja auch Frau Roudic da.

Der Brigadier sah übrigens sehr ruhig und ungefährlich aus; in diesem Augenblick streckte er sich behaglich in dem schönen Lehnstuhl des Werkmeisters, während die geputzte, von der Stiefmutter frisierte, karmoisinrote Zenaide den Tisch deckte und beide sich ernsthaft über Zollsätze unterhielten, wieviel Ölkörner, Indigo und Stockfisch an Eingangszoll kosteten.

Das Eintreten des Lehrlings unterbrach die beiden Liebesleute in ihrem gemütlichen, praktischen Gespräch.

»Ach mein Gott, da ist Jack schon, und die Suppe ist noch nicht angerichtet, schnell in den Keller, Freund Jack! Und wo ist denn Mama geblieben? Mama!«

Clarisse trat ein, sie sah zwar sehr blaß, aber wieder ruhiger aus, hatte ihr Haar wieder geordnet und die Flocken von ihren feuchten Kleidern geschüttelt.

»Arme Frau,« dachte Jack, als er sah, wie sie sich zum Essen, Plaudern und Lachen zwang, um die furchtbare Erregung zu unterdrücken. Zenaide bemerkte es nicht, sie ließ den Teller ihres Brigadiers nicht aus den Augen und sah entzückt, mit welcher majestätischen Ruhe er alle ihm vorgelegten Stücke verschwinden ließ, ohne auch nur auf einen Augenblick seinen Vortrag über den Zoll von rohem Talg und Schweineschmalz zu unterbrechen. Dieser Mangin war ein menschgewordenes Steueramt! Er sprach sehr gewählt, in langsamen, regelrechten Sätzen, aber noch nicht so langsam, als er aß.

Wenn er da war, nahmen die Mahlzeiten kein Ende. Besonders heute schien es Clarisse lästig zu werden. Es litt sie nicht länger auf ihrem Platz, sie ging ans Fenster, lauschte auf das Klappern des Hagels gegen die Scheiben und meinte dann, zum Tisch zurückkehrend:

»Sie haben schlechtes Wetter zum Heimgehen, armer Mangin, ich wünschte, Sie wären schon zu Hause.«

»Aber ich nicht,« sagte Zenaide so verschämt, daß alle lachten, das junge Mädchen am lautesten.

Dennoch hatte Clarisse's Bemerkung Erfolg.

Der Brigadier unterbrach seine lange Rede und erhob sich. Aber noch war er nicht draußen und die Vorbereitungen zur Abreise nahmen die dicke Zenaide eine volle Viertelstunde lang in Anspruch. Da war die Laterne anzuzünden, der Mantel zuzuhaken, die Handschuhe zuzuknüpfen!

Endlich ist der Schatz eingepackt; und Zenaide sieht ihm mit ziemlich bangem Herzen nach, wie sich seine Eskimofigur, von der schaukelnden Laterne beleuchtet, die dunkele Straße entlang bewegt.

»Komm Zenaide, wir wollen hineingehen.«

Die Unruhe der jungen Frau wächst von Stunde zu Stunde und entgeht Freund Jack nicht.

Dann und wann sieht Clarisse nach der Uhr.

»Schon so spät!«

»Hoffentlich verpaßt er den Zug nicht,« ruft Zenaide, die nur an ihren Schatz denkt und ihn in Gedanken begleitet. Es schlägt zehn Uhr, Clarisse erhebt sich hastig, als wolle sie die Lästigen entfernen:

»Wollen wir nicht zu Bett gehen?«

Als sie sieht, daß der Lehrling wie allabendlich den Schlüssel der Hausthür noch einmal herumdrehen will, hält sie ihn zurück:

»Schon gut, schon gut, ich habe zugeschlossen, kommt.«

Aber Zenaide kann mit ihrem Mangin garnicht fertig werden.

»Findest Du blonde Schnurrbärte hübsch, Jack? Wieviel Eingangszoll kosten doch gleich die Ölkerne.«

Jack weiß es nicht mehr; sie muß Herrn Mangin fragen, es ist so interessant!

»Wollt Ihr zu Bett gehen, oder nicht?« fragt Frau Roudic mit erzwungenem Lachen. Nun steigen alle drei die kleine Treppe hinauf.

»Gutenacht,« sagt die Stiefmutter, in ihr Zimmer tretend, »ich bin todmüde.«

Jack hat schon den Fuß auf der Leiter, aber Zenaidens Zimmer ist so voll von Hochzeitsgeschenken, daß er dem Wunsche, sie anzusehen, nicht widerstehen kann. Da lagen alle die Schätze auf der Kommode ausgebreitet. Eine Jungfrau mit dem Jesuskinde aus Wachs. Daneben leuchteten zwölf silberne Theelöffel aus ihrem Behälter. Eine silberne Kaffeekanne, ein Gebetbuch mit Beschlägen, eine Schachtel mit Handschuhen und daneben zerknittertes Papier und rosa und blaue Schleifen, welche diese vom Schloß gekommenen Überraschungen umhüllt hatten. Nun kamen die bescheideneren Gaben der Beamten- und Meistersfrauen. Der Schleier und die Brautkrone, eine Wanduhr, eine Tischdecke, Stick- und Häkelarbeiten, ein Heiligenbild, ein Fläschchen mit Wohlriechendem und endlich zwei Brautleute aus Batz, zwei ungeschickte kleine Puppen aus bunten Muscheln.

Zenaide zeigte stolz ihre Schätze und wickelte sie sorgsam wieder ein.

»Und nun noch meine Aussteuer, Jack, die hast Du noch nicht gesehen, warte.«

Sie zog einen alten, ziselierten Schlüssel hervor, und öffnete den seit hundert Jahren im Familienbesitz befindlichen Eichenschrank. Ein süßer Lavendelgeruch strömte heraus und Jack konnte die hohen Stöße roten, von der ersten Frau Roudic gesponnenen Wollstoffes und die Haufen fertiger getollter und zusammengefalteter Wäsche bewundern.

»Genug, nicht wahr?« fragte Zenaide triumphierend.

Selbst bei seiner Mutter, deren Spiegelschrank von Stickereien und Spitzen strotzte, hatte Jack nicht so viel sauber gelegte Wäsche gesehen.

»Aber das ist noch nicht das Schönste, Freund Jack, sieh her.« –

Sie schob einen schweren Stoß Unterröcke bei Seite und zeigte ihm einen halb in Wäsche vergrabenen Kasten.

»Weißt Du, was darin ist? Meine Mitgift, meine hübsche kleine Mitgift, die mir erlaubt, in vierzehn Tagen Frau Mangin zu heißen. Da ist Geld drin, Papa Roudic hat mich reich gemacht, das ist alles für mich und meinen kleinen Mangin ...«

Und in einem Freudenausbruch hob das dicke Mädchen seinen Rock mit beiden Händen zierlich in die Höhe, spreizte die Finger und begann schwerfällig um den Kasten zu tanzen, als ein Klopfen an der Wand sie plötzlich unterbrach.

»Holla, Zenaide, laß den Jungen schlafen gehen. Du weißt doch, daß er früh aufstehen muß.«

Es war Clarissens Stimme. Die zukünftige Frau Mangin schloß beschämt ihren Schrank, sagte leise »Gutenacht«; Jack kletterte auf seinen Hängeboden und fünf Minuten später schien das kleine, von Schnee und Wind eingewiegte Häuschen wie seine Nachbarn zu schlafen.

Aber sein Äußeres täuscht, hinter den gleich müden Lidern geschlossenen Läden spielt sich ein trauriges Drama ab.

Unten in der guten Stube ist das Licht erloschen, nur im Kamin prasselt das Feuer noch und beleuchtet einen Mann und eine Frau. Im flackernden Flammenschein erscheint das Antlitz der Frau von dunkler Röte bedeckt. Von dem knieenden Mann sieht man nur das lockige, dichte Haar und die kräftige, schlanke Figur, welche sich bittend vorbeugt.

»Ich beschwöre Dich,« sagte er leise, »wenn Du mich liebst ...«

Was will er noch von ihr? Bisher war ihr das Haus ihres Mannes noch heilig gewesen, und nun? Der Nanteser brauchte ihr nur ein Zeichen zu geben, ein Wort zu schreiben, »ich komme heute Abend, laß das Haus offen,« um sie zu bestimmen, ihren letzten Zufluchtsort aufzugeben.

Was wollte er noch? Wahrscheinlich verlangte er irgend etwas Furchtbares, was sie nicht geben konnte. Wie hätte sie sonst den leidenschaftlichen Umarmungen, der flehenden Bitte der begehrlich glänzenden Augen widerstanden.

Und doch gab sie, die Weiche, Schwache, nicht nach. Sie fand Kraft und Widerwillen genug, auf sein Verlangen zu antworten:

»Nein, nein, nicht das, es ist unmöglich.«

»Aber Clarisse, nur auf zwei Tage. Mit den sechstausend Franken bezahle ich die fünftausend, die ich verloren habe, und gewinne mit dem Rest ein Vermögen wieder.«

»Oh nein, ich bitte Dich, laß es, wir wollen auf einen anderen Ausweg sinnen.«

»Es giebt aber keinen.«

»So höre. Ich habe in Chateaubriant eine reiche Freundin, die Tochter des Einnehmers. Ich bin im Kloster mit ihr zusammengewesen. Ich will an sie schreiben und sie für mich um die sechstausend Franken bitten.«

»Unmöglich, ich muß das Geld morgen haben!«

»Nun, so geh' zum Direktor, das ist ein edler Mann, der Dich gern hat, vielleicht ...«

»Ach was, der? Der entläßt mich, das wäre der ganze Nutzen.«

»Und dabei ist die Sache doch so einfach, in höchstens zwei Tagen bringe ich das Geld wieder.«

Als er sah, daß er sie nicht überreden konnte, daß sie sich hinter jenes Stillschweigen verschanzte, welches die Schwachen gegen sich selbst und andere schützt, da entfuhr ihm ein verhängnisvolles Wort:

»Ich hätte Dir lieber nichts davon sagen, sondern einfach an den Schrank gehen sollen, um mir zu nehmen, was ich brauche.«

»Aber Unglücklicher,« murmelte sie zitternd, denn sie fürchtete, er könne seine Worte wahr machen, »weißt Du denn nicht, daß Zenaide ihr Geld alle Tage ansieht und immer wieder zählt? Heute Abend noch zeigte sie dem Lehrling den Kasten.«

Der Nanteser erbebte:

»Wirklich?«

»Gewiß, das gute Mädchen ist so glücklich, es würde sie töten und dann steckt der Schlüssel auch nicht im Schrank.«

»Was soll aus mir werden,« so wiederholte der Elende beständig! Wenn er die Spielschuld nicht bezahlte, war er entehrt. Er weinte wie ein Kind, warf sich vor Clarisse auf die Knie, nannte sie seine kleine Tante, und die arme Frau weinte mit ihm, ohne aber seinen Bitten nachzugeben. Da erhob er sich plötzlich:

»Du willst nicht? Nun gut, so weiß ich, was ich zu thun habe. Adieu Clarisse, ich werde meine Schande nicht überleben.«

Er erwartete einen Schrei, ein Auffahren ...

Nichts dergleichen! Sie erwiderte ruhig:

»Du willst sterben? Nun wohl, ich auch. Ich bin dieses Lebens voll Verbrechen und Lüge überdrüssig, komm.«

Er hielt sie zurück.

»Wie, Du wolltest wirklich? ... Thorheit, sollte man es glauben?«

Aber er war mit seinen Gründen zu Ende. Ein wütender Zorn übermannte ihn.

»Nein, das ist gar zu einfältig,« sagte er und stürzte nach der Treppe.

Aber Clarisse überholte ihn und stellte sich auf die unterste Stufe.

»Was willst Du?«

»Laß mich, es muß sein!«

»Hüte Dich, wenn Du Dich rührst, schreie ich um Hilfe.«

»Schreie nur, damit jeder weiß, daß Du Deinen Neffen zum Liebhaber hast und daß dieser Liebhaber ein Dieb ist.«

In dem roten Licht des ersterbenden Feuers erschien er ihr plötzlich in seiner wahren Gestalt; sie sah das von Leidenschaften verzerrte, ehrgeizige Gesicht, sie dachte daran, was sie für diesen Mann geopfert hatte, und ein tiefer Ekel vor sich selbst und vor ihm überkam sie und zugleich verließen sie ihre Kräfte. Und während der Verbrecher die Treppe hinaufstieg und auf den Zehen durch das alte Haus schlich, dessen Winkel er alle kannte, sank sie auf das Sopha und drückte das Gesicht in die Kissen, um ihr Schluchzen zu ersticken und nichts hören und sehen zu müssen.


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