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Zwölftes Kapitel.
Indret.

Der Sänger stand hochaufgerichtet in dem Boot, in welchem er und der Knabe über die Loire fuhren, und rief begeistert aus:

»Sieh her, mein alter Jack, ist das nicht schön?«

Es war gegen vier Uhr nachmittags. Die Julisonne warf eine leuchtende Strahlenflut über die Wogen. Große, durchsichtige Segel, welche in dem glänzenden Licht goldig schimmerten, zogen in der Ferne vorüber. Es waren Kähne aus Narmoutiers, bis an den Rand mit glitzerndem Salz beladen; Küstenfahrer, die wie schwimmende Karren aussahen und hoch mit Getreidesäcken und Fässern bepackt waren. Trotz der Julihitze wehte ein frischer Hauch durch die hübsche Umgebung, denn der Wind kam vom Meere und ließ dort hinten in der Ferne das Grün des unbegrenzten Ozeans mit seinen Wogen und Stürmen ahnen.

»Und wo ist Indret?« fragte Jack.

»Dort die Insel vor uns.«

Durch den silbernen Nebel, welcher die Insel umgab, erkannte Jack große Pappelalleen und hohe Schornsteine, aus denen dicker, schwarzer Rauch emporstieg und den Himmel verdüsterte. Zugleich vernahm er lauthallendes Geräusch, Hammerschläge auf Eisen und Blech, dumpfes Getöse und besonders ein beständiges Dröhnen, als wäre die ganze Insel ein ungeheurer, schnaubender Dampfer. Je mehr sich das Boot näherte, desto deutlicher unterschied der Knabe lange Gebäude mit flachen Dächern und rußigen Mauern, die sich nach allen Seiten gleichförmig ausbreiteten. Am Ufer lagen in endloser Reihe ungeheure Dampfkessel, deren lebhaftes Rot phantastisch genug wirkte. Regierungsdampfer und andere am Damm liegende Schiffe warteten auf das Verladen der Kessel mit Hülfe eines gewaltigen Krahnes, der von weitem wie ein riesiger Galgen aussah. Am Fuße dieses Galgens stand ein Mann und erwartete das Boot.

»Das ist Roudic,« sagte der Sänger und stieß aus der Tiefe seiner Kehle ein entsetzliches Hurrah aus, welches man sogar in dem Getöse ringsum hören konnte.

»Bist Du es Kleiner?«

»Donnerwetter ja, giebt es wohl noch eine solche Stimme unter dem Himmelsgewölbe?«

Das Boot landete. Die beiden Brüder fielen sich in die Arme und umarmten sich stürmisch.

Sie waren einander ähnlich, nur war Roudic älter und entbehrte jene Körperfülle, mit der Sänger und Schauspieler sobald beglückt werden; unter der verschossenen blauen Matrosenmütze sah ein echt bretonisches, gebräuntes Gesicht mit kleinen Augen hervor, deren Blick durch die mühselige Arbeit des Zusammenpassens noch verschärft zu sein schien.

»Wie geht's denn bei Euch?« fragte Labassindre, »sind Clarisse, Zenaide und die anderen wohl?«

»Gott sei Dank, ja, ach da ist unser neuer Lehrling. Der kleine Kerl ist niedlich, aber er sieht nicht sehr kräftig aus.«

»Stark wie ein Ochse, mein Lieber, von den ersten Pariser Ärzten untersucht.«

»Nun, um so besser, denn unser Handwerk ist schwer. Wenn Ihr wollt, können wir jetzt zum Direktor gehen.«

Sie schlugen eine lange, mit schönen Bäumen bepflanzte Allee ein, welche sich bald in eine mit kleinen, sauberen, ganz gleichen Häusern besetzte Straße verwandelte. Zu dieser Stunde war sie wie ausgestorben, da alles Leben und Treiben in der Hütte versammelt war. Nur die zu den Fenstern heraushängende Wäsche, die hinter den Scheiben stehenden Blumentöpfe; Kindergeschrei oder das Schaukeln einer Wiege, welches aus einer halboffenen Thür tönte, verriet, daß die Stadt bewohnt war.

»Aha, die Fahne ist herabgelassen,« sagte der Sänger, als sie an den Thüren der Werkstätten angekommen waren, »was hat mir diese verfluchte Fahne oft für Schrecken eingejagt.«

Dann erzählte er seinem alten Jack, daß fünf Minuten nach Beginn der Arbeit die über dem Eingang befindliche, gesenkte Fahne anzeigte, daß die Thüren geschlossen seien. Nachzügler wurden also als abwesend betrachtet und nach dreimaliger Abwesenheit entlassen. Während er diese Erläuterungen gab, verständigte sich sein Bruder mit dem Thürsteher und sie wurden eingelassen.

Es war eine Stadt aus Eisen!

Die Schritte hallten auf Eisenplatten wieder. Man schritt zwischen hochaufgeschichteten Eisenbarren, Gußeisen, Kupferstangen dahin, über lange Reihen fehlerhafter Kanonen, welche wieder eingeschmolzen werden sollten.

Jack sah erstaunt durch die der Hitze wegen geöffneten Werkstattthüren, ein Durcheinander von geschwungenen Armen, rußigen Köpfen, Maschinen, welche in dunkelen nur ruckweise von rotem Licht beleuchteten Nischen arbeiteten. Ein Strom von Hitze drang nebst einem feinen, schwarzen, scharfen Staub heraus, der in der Sonne metallisch schillerte. Aber was diese emsige Arbeit noch hastiger, eiliger erscheinen ließ, war die beständige Erschütterung des Bodens und der Luft, ein fortwährendes Beben. Aus Furcht, zu grün zu erscheinen, wagte Jack nicht zu fragen, wer diesen Lärm verursache, der ihm schon von weitem aufgefallen war.

Plötzlich befanden sie sich vor einem alten Schloß aus der Zeit der Liga, von festen Türmen umgeben, dessen geschwärzte Ziegelmauern ihren ehemaligen Glanz verloren hatten.

»Hier ist das Verwaltungsgebäude,« sagte Roudic, dann fügte er zu seinem Bruder gewendet hinzu:

»Kommst Du mit hinauf?«

»Gewiß, ich möchte gern den ›Alten‹ wiedersehen und ihm zeigen, daß ich trotz seiner Prophezeihungen doch etwas Feines geworden bin.«

Sie gingen durch ein niedriges Ausfallthor und durchschritten eine Menge kleiner, unregelmäßiger, dunkler Zimmer, in denen Schreiber arbeiteten. Im letzten Zimmer saß ein streng und kalt aussehender Mann an einem hohen fensterhell beleuchteten Pulte. –

»Ah, Ihr seid es, Vater Roudic?«

»Ja, Herr Direktor, ich möchte Ihnen den neuen Lehrling vorstellen und Ihnen danken, daß ...«

»Da ist ja das kleine Wunder. Guten Tag, mein Junge. Du sollst ja ein Genie sein, das ist sehr schön.«

Dann fügte er, nachdem er den Knaben aufmerksam betrachtet hatte, hinzu:

»Hört, Roudic, der Bursche sieht nicht sehr kräftig aus, ist er krank?«

»Nein, Herr Direktor, man versichert mir im Gegenteil, daß er erstaunliche Kraft hat.«

»Ganz erstaunliche,« wiederholte Labassindre vortretend und auf einen erstaunten Blick des Direktors glaubte er ihm sagen zu müssen, wer er sei, daß er vor sechs Jahren die Hütte verlassen habe, um im Theater von Nantes und dann in die Pariser Oper einzutreten.

»Oh, ich erinnere mich Ihrer,« sagte der Direktor in vollkommen gleichgültigem Tone und erhob sich sofort, um die Unterredung abzubrechen.

»Nehmen Sie Ihren Lehrling mit, Vater Roudic, und versuchen Sie einen tüchtigen Arbeiter aus ihm zu machen.«

Der Sänger, der seine Wirkung nicht erreicht hatte, ging kleinlaut hinaus. Roudic blieb zurück und wechselte einige leise Worte mit seinem Vorgesetzten. Dann stiegen sie zusammen mit sehr gemischten Gefühlen hinab. Jack grübelte über die Worte, »er ist nicht sehr kräftig« nach, welche jeder wiederholte, Labassindre würgte seine Demütigung hinab, und der Werkmeister schwieg nachdenklich.

»Hat er Dir etwas Verdrießliches gesagt?« fragte Labassindre seinen Bruder, »er sieht noch tückischer aus als früher.« Roudic schüttelte traurig den Kopf:

»O nein, er sprach mit mir nur über Charlot, unserer armen Schwester Sohn, der uns sehr viel Kummer bereitet.«

»Der Nanteser macht Euch Sorgen?« fragte der Sänger, »was giebt es denn.«

»Nach dem Tode seiner Mutter ist er ein vollendeter Trunkenbold geworden, er spielt und hat Schulden. Dennoch hat er als Zeichner einen schönen Verdienst; es giebt in Indret keinen besseren Zeichner, aber was willst Du, die Karten verschlingen alles. Ich habe schon oft für ihn gezahlt, aber jetzt kann ich nicht mehr. Ich habe einen Haushalt und dann wächst Zenaide heran und muß ausgestattet werden. Das arme Mädchen! Ich hatte die Absicht, sie mit dem Vetter zu verheiraten, aber sie wollte nicht, trotzdem er ein hübscher Bursche ist und zu schwatzen versteht, wie keiner. Die Frauen sind gescheidter als wir.

Wir wollen jetzt versuchen, ihn seinem schlechten Umgang zu entreißen. Der Direktor will ihm eine Stelle in Guerigny verschaffen. Aber ich weiß nicht, ob der Schlingel dorthin will; irgend eine Bekanntschaft muß ihn hier festhalten. Sprich doch heute Abend mit ihm, Kleiner, Dir gehorcht er vielleicht.«

»Ich nehme es auf mich, sei unbesorgt,« sagte Labassindre mit wichtiger Miene.

Plaudernd durchschritten sie die, jetzt, da der Tag zu Ende ging, von Menschen jeden Alters und Handwerks wimmelnden Straßen.

Labassindre wurde bald erkannt.

»Sieh da, Kleiner, wie geht's?«

Man umringte ihn, reichte ihm die groben Fäuste und erzählte sich gegenseitig:

»Das ist Roudics Bruder, der jährlich hunderttausend Franken mit Gesang verdient.«

Jedermann wollte ihn sehen, denn der Reichtum des ehemaligen Schmiedes war eines der Märchen, die man sich in der Hütte erzählte, und mehr als ein junger Arbeiter hatte seine Kehle probiert, ob der kostbare Ton nicht zufällig darinnen wäre. –

Roudics Haus war das erste einer langen, neuen Häuserreihe in einer breiten Straße hinter dem Schloß. Eine junge Frau, welche auf den zur Hausthür hinaufführenden Stufen stand, hörte mit gesenktem Kopf einem langen Burschen zu, der an die Mauer gelehnt, lebhaft zu ihr sprach. Jack vermutete, daß es Roudics Tochter sei, als er den alten Werkführer zu dem Sänger sagen hörte:

»Sieh meine Frau hält ihrem Neffen eine Strafrede.«

Der Knabe erinnerte sich, daß ihm Labassindre unterwegs erzählt hatte, daß Roudic seit einigen Jahren wieder verheiratet sei.

Die Frau war jung, hübsch, groß und schlank, mit einem sanften Gesicht und einer eigentümlich nachlässigen, schlaffen Haltung. Entgegen der bretonischen Sitte war sie in bloßem Kopf und ihr Kleid aus leichtem Stoff, ihre kleine schwarze Schürze ließen sie eher als die Frau eines Beamten erscheinen.

»Nun, findest Du sie hübsch?« sagte Roudic, indem er still stand und seinen Bruder mit den Ellbogen in die Seite stieß.

»Alle Achtung, mein Lieber, sie ist seit ihrer Verheiratung noch hübscher geworden.«

Die beiden setzten ihre Unterhaltung so eifrig fort, daß sie nichts sahen und hörten.

Nun intonierte der Sänger, indem er seinen Sombrero schwenkte, mitten auf der Straße mit schallender Stimme:

»Gegrüßt, Du trautes Heim ...«

»Onkel!« rief der sogenannte Nanteser, indem er sich umwandte.

Eine zärtliche Begrüßung folgte. Man stellte den Lehrling vor, den der Nanteser mit verächtlicher Miene musterte, während Frau Roudic sanft sagte:

»Ich hoffe, mein Kind, Du wirst Dich bei uns wohl fühlen.«

Dann trat man ein.

Hinter dem schmalen Hause war der Tisch in einem kleinen ausgetrockneten Garten voll hochaufgeschossener Gemüse und verblühter Blumen gedeckt. Andere, ganz ähnliche, nur durch ein Gitter voneinander getrennte Gärten zogen sich an dem schmalen Seitenarm der Loire hin.

»Und Zenaide?« fragte Labassindre in dem Augenblick, als man sich unter der Laube zu Tische setzte.

»Wir müssen immer ohne sie anfangen,« sagte Roudic, »sie wird gleich kommen; sie ist tagsüber im Schlosse, oho, das ist eine großartige Schneiderin geworden.«

»Sie arbeitet bei dem Alten?« schrie Labassindre, dem sein Empfang noch immer auf dem Herzen lag, »nun, das muß angenehm sein, ein so stolzer, eingebildeter Mensch!«

Nun begann er, unterstützt von dem Nanteser, der seine besonderen Gründe hatte, ihm zu grollen, gegen den Direktor loszuziehen.

»Ihr irrt Euch, es ist im Gegenteil ein ausgezeichneter Mensch,« sagte Vater Roudic, seinen Vorgesetzten, den er liebte, verteidigend, »ein wenig streng zwar, aber wenn man zweitausend Arbeiter zu kommandieren hat, ist es nötig, nicht wahr, Clarisse?«

Er wandte sich bei jeder Gelegenheit an seine Frau, denn er war nicht sehr redegewandt, aber Clarisse beschäftigte sich mit ihrem Teller.

Glücklicherweise erhielt Roudic Verstärkung. Zenaide trat ein, eine dicke, kleine Person, noch ganz rot und atemlos, die sich sogleich in den Kampf stürzte. Die war garnicht hübsch, ihre kurze, schwerfällige Gestalt mit der plumpen Taille glich der ihres Vaters. Die weiße, diademartige Haube, der kurze, auf den Hüften von einem Kissen gestützte Rock, ließen sie noch breiter erscheinen, sie sah wirklich aus wie ein Schrank. Aber in den dichten Augenbrauen, dem viereckigen Kinn des braven Mädchens lag soviel Willenskraft und Energie, als die Züge der Stiefmutter Träumerei und Nachlässigkeit ausdrückten.

Ohne sich Zeit zu nehmen, eine große, wie ein Säbel herabhängende Scheere loszunesteln, oder die wie ein Küraß mit Steck- und Nähnadeln gepanzerte Schürze abzubinden, setzte sie sich neben Jack und begann das Gefecht. Die Beredsamkeit des Sängers und des Zeichners flößten ihr keine Furcht ein; nur, wenn sie zu ihrem Vetter sprach, nahmen Blick und Stimme einen zornigen Ausdruck an. Der Nanteser that, als merke er es nicht, nahm alles als Scherz auf und antwortete mit kleinen Bosheiten, welche sie nicht aufheiterten.

»Und dabei wollte ich sie miteinander verheiraten,« sagte Vater Roudic halb scherzend, halb ernsthaft.

»Ich habe nicht nein gesagt,« versetzte der Nanteser lachend, indem er seine Cousine ansah.

»Aber ich,« sagte die Bretonin, indem sie die Augenbrauen zusammenzog, »und ich bin froh darüber, denn sonst läge ich schon längst im Wasser: aus Kummer über einen Mann wie Du, mein schöner Vetter.«

Sie sagte das mit solcher Betonung, daß der schöne Vetter eine Minute lang verdutzt schwieg.

»Höre, Charlot,« sagte Roudic endlich, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, »ich will Dir beweisen, daß der Direktor ein guter Mensch ist. Er will Dir eine gute Stelle in der Hütte von Guerigny verschaffen. Denke daran, mein Junge, daß Du Dich dort viel besser stehst und – und ...«

Er sah alle der Reihe nach an, um das Ende zu finden.

»Und daß es besser ist, freiwillig zu gehen, als fortgeschickt zu werden, nicht wahr, Onkel?« fiel der Nanteser ungestüm ein.

»Nun, wenn man meiner nicht mehr bedarf, so mag man mich entlassen, aber mich nicht wie einen Lumpen behandeln.«

»Donnerwetter, er hat Recht,« schrie Labassindre, auf den Tisch schlagend.

Nun entspann sich ein Streit. Roudic wiederholte seinen Angriff, aber der Nanteser hielt sich tapfer. Zenaide ließ die Stiefmutter nicht aus den Augen, welche alle Augenblicke aufstand, obgleich nichts zu besorgen war.

»Nun Mama,« sagte sie endlich, »bist Du nicht auch der Meinung, daß Charlot lieber dorthin zieht?«

»Gewiß, gewiß,« antwortete Frau Roudic lebhaft, »er thut wohl, die Stelle anzunehmen.«

Der Nanteser stand hastig auf.

»Gut,« sagte er düster, »wenn mich alle gern scheiden sehen, so weiß ich, was ich zu thun habe; in acht Tagen bin ich auf und davon, nun habe ich genug.«

Die Nacht brach herein, es wurde Licht gebracht. Auch die benachbarten Gärten wurden hell, man hörte Gelächter und Tellerklappern.

Labassindre führte das Wort. Bekannte traten ein und wurden von Roudic aufgefordert, sich mit an den Tisch zu setzen. Sie waren noch im Arbeitsanzug, hatten schwarze Hände, stützten die Ellbogen schwerfällig auf den Tisch, tranken ihren Wein schnaufend und schmatzend und wischten sich mit dem Ärmel den Mund. Auch sprachen sie nicht wie andere Leute, sondern bedienten sich eines Kauderwelschs, welches Jack plump und häßlich fand.

»Also so muß ich auch werden,« dachte er entsetzt.

Später stellte ihn Roudic dem Obermeister der Schmiede vor, welcher Lebescam hieß, und unter dessen Kommando der Knabe anfangen sollte. Dieser Lebescam, ein wahrer Cyclop mit bis an die Augen reichendem Bart, schnitt ein Gesicht, als er den feingekleideten zukünftigen Lehrling mit den zarten weißen Händen sah. Er fand, daß er sehr zerbrechlich, sehr erbärmlich aussah.

»O, das ist nur die Reisemüdigkeit und der feine Anzug,« sagte der brave Roudic und fügte zu seiner Frau gewendet hinzu: »Clarisse, suche eine Hose und Blouse für den Lehrling heraus, und weißt Du was? Nimm ihn gleich mit in sein Zimmer, er fällt ja vor Müdigkeit um und morgen muß er um fünf Uhr auf sein. Hörst Du, mein Junge, Punkt fünf Uhr rufe ich Dich.«

»Ja, Herr Roudic.«

Ehe er ging, mußte Jack noch das Lebewohl Labassindres anhören, der ein Glas auf sein besonderes Wohl trinken wollte.

»Auf Deine Gesundheit, mein alter Jack, auf das Wohl des Arbeiters.«

Während die Männer weiter plauderten, betrat Jack in Begleitung der beiden Frauen das Haus. Es war nicht sehr geräumig und bestand aus einem in zwei Zimmer abgeteilten Erdgeschoß, wovon das eine, die gute Stube, mit einem Sessel und großen Muscheln geziert war. Oben war dieselbe Einteilung. Keine Tapeten an den Wänden, sondern ein oft ausgebesserter Kalkanstrich, große Himmelbetten mit blau und rosa geblümten Vorhängen. In Zenaiden's Zimmer befand sich das Bett nach alter bretonischer Sitte in einer Nische in der Mauer. Ein geschnitzter, eisenbeschlagener Eichenschrank, Heiligenbilder und Rosenkränze aller Art vervollständigten die Einrichtung. In der Ecke verbarg ein großgeblümter Wandschirm die Leiter, welche zu dem Dachstübchen des Lehrlings hinaufführte.

»Hier schlafe ich,« sagte Zenaide, »und Du, mein Junge, wohnst da oben über mir. Du brauchst Dich aber nicht zu genieren, sondern kannst gehen und tanzen, ich habe einen festen Schlaf.«

Eine große Laterne wurde angezündet, dann sagte er »Gutenacht« und kletterte auf seinen Hängeboden. Sicherlich hatte der Schlafsaal im Gymnasium Moronval den alten Jack auf sonderbare Behausungen vorbereitet; aber es waren doch mehrere, welche dieses Elend teilten, hier war weder Maduh, noch sonst jemand.

Der Knabe betrachtete die niedrige, hängende Decke, an der er sich die Stirn stieß, das mit Stecknadeln an der Wand befestigte Bild von Epinal; er betrachtete auch den auf dem Bett liegenden Lehrlingsanzug, die weite blauleinene Hose und den auf den Achseln mit groben Stichen durchsteppten Kittel.

»Das bin ich,« dachte Jack, und während er noch traurig vor sich hinsann, drang aus dem Garten das wirre Durcheinander der Redenden, vermischt mit einem sehr erregten Gespräch, welches im unteren Zimmer zwischen Zenaide und ihrer Stiefmutter stattfand.

Man unterschied deutlich den tiefen, männlichen Baß des jungen Mädchens von Frau Roudic's leichter, schmelzender, jetzt von Thränen erstickter Stimme.

»Mein Gott, ja, mag er gehen,« sagte sie leidenschaftlicher, als man von ihrem schlaffen Wesen erwarten konnte.

Nun schien Zenaide besänftigt und beide küßten sich.

In der Laube sang Labassindre jetzt eine alte süßliche Romanze, wie sie die Arbeiter gern hören, und der Chor fiel in langgezogenen Tönen ein.

»Ja, ja, laßt uns singen.«

Jack befand sich in einer neuen Welt, in der er sich nicht zurechtzufinden wußte. Nur der Gedanke an seine Mutter hielt ihn aufrecht.

Seine Mutter.

Er dachte an sie, während er den sternenbesäeten Himmel betrachtete. Plötzlich hörte er neben sich einen tiefen Seufzer und bemerkte, daß Frau Roudic an ihrem Fenster weinte und daß noch ein anderer Schmerz, als der seinige, in dieser schönen Nacht wachte.


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