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Achtes Kapitel.
Parva domus magna quies.

»Nein, mein Jack, nein, mein liebes Kind, fürchte nichts, Du brauchst nicht wieder in das abscheuliche Gymnasium zurück. Mein Kind zu schlagen ...! Sie haben mein Kind zu schlagen gewagt! Du hast recht gethan, zu entschlüpfen. Dieser elende Mulatte hat Hand an Dich gelegt! Er weiß also nicht, daß Du durch Deine Herkunft, ohne von Deiner Farbe zu sprechen, das Recht hättest, ihn zu prügeln. Du hättest ihm sagen sollen: ›Mama hat Mulatten in ihrem Dienst gehabt.‹ Nun, sieh mich nicht mehr so traurig an. Ich sage Dir ja, daß Du nicht zurückkehren brauchst; Du sollst mich überhaupt nicht verlassen. Ich werde Dir hier ein niedliches Zimmerchen einrichten. Du sollst sehen, wie schön es auf dem Lande ist. Wir haben Vieh, Hühner, Kaninchen, eine Ziege und einen Esel. S' ist eine wahre Arche Noah, das Haus. Richtig, da fällt mir ein, daß ich meine Hühner noch nicht gefüttert habe; Deine Ankunft hat mich so aufgeregt. Ach, als ich Dich in diesem Zustande auf der Landstraße liegen sah! Nun schlafe aber und ruhe Dich ein wenig aus; zum Mittagessen wecke ich Dich. Vorher trinke aber noch ein wenig kalte Brühe, Du weißt, was Herr Rivals gesagt hat: ›Du brauchst nur Schlaf und kräftige Nahrung!‹ Nicht wahr, Mutter Archambaulds Brühe schmeckt gut. Armes Herz, wenn ich daran denke, daß Du, während ich schlief, allein auf der Straße wandertest. Es ist schrecklich ... Hörst Du, wie meine Hühner mich rufen? ... Ich gehe zu ihnen ... Schlaf wohl.«

Sie schlich auf den Fußspitzen hinaus, leicht, glücklich, immer reizend, obgleich ein wenig sonnverbrannt und sehr überladen in einem sogenannten ländlichen Anzug aus bräunlicher Leinwand mit sehr viel schwarzem Sammet und einem blumengeschmückten, italienischen Strohhut gekleidet. Sie spielte wie ein Kind mit dem Landleben.

Jack konnte nicht schlafen; die wenigen Ruhestunden nach seiner Ankunft, ein Bad, Mutter Archambaulds Brühe und vor allem die wunderbare Widerstandskraft der Jugend, seine zähe Natur, hatten ihm über die Folgen der Anstrengung hinweggeholfen.

Er blickte umher und genoß das Wohlbehagen dieses friedlichen Ortes. Hier herrschte nicht mehr die ehemalige vergoldete, gepolsterte, erstickende Pracht des Boulevard Haußmann. Das Zimmer, in welchem er sich befand, war mit klarem, persischem Stoff ausgeschlagen und mit schmucklosen, weißgrauen Möbeln im Stil Louis XVI. ausgestattet. Draußen in der ländlichen Stille raschelten die Zweige gegen die Fenster, ertönte das Gurren der Tauben auf dem Dache und das »Put, put« seiner Mutter im Hühnerhof, vermischt mit jenem Piepen und Gackern, welches sich um eine Handvoll Hafer sammelt.

Jack vernahm mit Behagen diesen kleinen Tumult inmitten der allgemeinen Stille. Er war glücklich, neu gestärkt.

Eins störte ihn nur: das Porträt d'Argentons ihm gegenüber am Fußende des Bettes, in despotischer, anspruchsvoller Haltung, mit harten kalten Augen.

Der Knabe sann nach:

»Wo ist er? Wo wohnt er, warum habe ich ihn nicht gesehen?«

Endlich stand er auf, da ihn der vorwurfsvolle fragende Blick unangenehm berührte und ging zu seiner Mutter hinunter. –

Sie stand noch immer in bis auf den Ellbogen reichenden Handschuhen, den kleinen Finger gespreizt, das Kleid, welches einen gestreiften Unterrock und hochhackige Stiefelchen sehen ließ, hochgenommen und fütterte ihre Tiere mit eleganter Unbeholfenheit. Mutter Archambauld lachte über ihr Ungeschick, während sie selbst den Kaninchenstall zurechtmachte. Mutter Archambauld war die Frau eines Waldhüters, welche Küche und Wirtschaft im Erlenhäuschen besorgte, wie man im Dorfe das kleine Häuschen welches Jacks Mutter bewohnte, wegen einer am Ende des Gartens stehenden Erlengruppe nannte.

»Herr Gott, wie niedlich ist ihr Junge,« rief die alte Bäuerin, von Jacks Erscheinung entzückt, aus.

»Nicht wahr, Mutter Archambauld? wie ich Ihnen sagte.«

»Aber Tausend, der gleicht vill' mehr sen'r Mamma, als sei'm Papa, wahrhaftig. Guten Tag mein Herzchen, soll ich Dich küssen?«

Sie rieb ihr altes, runzliges, schwarzäugiges nach Kohl riechendes Antlitz gegen das Gesicht des Kindes. Bei dem Wort Papa hatte Jack den Kopf erhoben.

»Nun, wenn Du nicht mehr schlafen kannst, will ich Dir das Haus zeigen,« sagte Charlotte, welche jeder Beschäftigung sehr bald überdrüssig wurde.

Sie strich ihr Kleid zurecht und ließ das Kind den eigenartigen Wohnsitz sehen, welcher einen Büchsenschuß weit vom Dorf gelegen, jenen Traum von Einsamkeit und Behagen darstellte, den alle Dichter hegen, den aber zumeist nur Krämer zu verwirklichen imstande sind.

Das eigentliche Wohnhaus bestand aus einem ehemaligen Jagdpavillon, der früher zu einem jener großen Schlösser aus Louis XV. Zeit gehörte, aber durch die Zerstückelung des Besitzes von demselben getrennt worden war und nun außerhalb des Herrensitzes lag.

An seine alten Mauern lehnte sich ein neuer Turm mit Taubenschlag und Wetterfahne, welcher dem Hause das Aussehen eines wiederhergestellten kleinen Edelhofes verlieh.

Sie besuchten auch den Pferdestall, die Schuppen, den riesigen Obstgarten, der auf den Senartwald mündete. Zuletzt wurde der Turm bestiegen. Eine von bunten Glasfenstern erhellte Wendeltreppe führte zu einem großen, runden Gemach mit vier gotischen Fenstern und einem ringsum laufenden türkischen Divan. Allerhand künstlerische Merkwürdigkeiten waren hier aufgestellt: alte Eichentruhen, ein venetianischer Spiegel, alte Vorhänge und ein hoher, geschnitzter Stuhl aus der Zeit Heinrichs II., der vor einem großen mit Scharteken bedeckten Arbeitstisch stand. Nach allen Seiten öffnete sich ein Ausblick auf eine wundervolle, waldige Fluß- und Hügellandschaft; hier von einer Wand grüner Büsche begrenzt, dort frei und sonnig sich ins Endlose ausdehnend.

»Hier arbeitet ›Er‹«, sagte die Mutter auf der Schwelle in andächtigem Ton.

Jack hatte nicht nötig zu fragen, wer dieser ehrwürdige »Er« war.

Mit halblauter Stimme, als sei sie in einem Heiligtume, fuhr sie fort, ohne ihren Sohn anzusehen:

»Er ist jetzt auf Reisen, kommt aber in wenigen Tagen zurück. Ich werde ihm schreiben, daß Du hier bist, er wird sich freuen, denn sieh, trotz seines strengen Wesens ist er der beste Mensch und liebt Dich sehr. Du mußt ihn wieder lieben, mein kleiner Jack ... Sonst würde ich zwischen Euch beiden sehr unglücklich sein.«

Indem sie so sprach, betrachtete sie d'Argentons an der Wand hängendes Bild, ein Gemälde, welches das Original der unten im Zimmer hängenden Photographie zu sein schien. In der That wiederholte sich das Bildnis des Dichters in allen Zimmern, die Büste aus florentinischer Bronze nicht mitgerechnet, welche mitten auf dem Grasplatz am Eingange des Obstgartens thronte, und ein sehr bezeichnender Umstand war, daß sich kein anderes Bild, als das seinige, im ganzen Hause befand.

»Versprich mir, mein Jack, daß Du ihn lieben willst,« wiederholte die arme Närrin vor dem strengen, schnurrbärtigen Antlitz.

Der Knabe senkte den Kopf und erwiderte mühsam:

»Ich verspreche es Dir.«

Dann schloß sie die Thür, und sie stiegen schweigend hinunter. –

Es war der einzige Schatten an diesem denkwürdigen Tag.

Sie fühlten sich beide so wohl in dem großen, mit Fliesen ausgelegten Eßzimmer, wo die dicke, dampfende Kohlsuppe einen halb aristokratischen Duft ausströmte. In der Küche hörte man Mutter Archambauld ihre Teller waschen. Rund um das Haus schwebte die ländliche Stille wie ein geheimnisvoller Wächter.

Jack wurde nicht müde, seine Mutter zu bewundern. Auch sie fand ihn hübsch, größer, für seine elf Jahre sehr kräftig, und nach jedem Bissen umarmten sie sich wie zwei Verliebte.

Gegen Abend kam Besuch. Vater Archambauld holte wie allabendlich seine Frau ab; denn sie wohnten weit drinnen im Walde. Er wurde ins Eßzimmer genötigt.

»Hier, ein Glas Wein, Vater Archambauld, auf das Wohl meines Jungen; ist er nicht niedlich und werden Sie ihn auch einmal mit in den Wald nehmen?«

»Gewiß Frau d'Argenton.«

Und während er sein Glas erhob, warf dieser braune Riese, der Schrecken der Wilderer, einen Blick nach rechts und links, der durch manche Nachtwache zwischen Busch und Baum so scharf und beweglich geworden war, daß er nirgends lange haften konnte.

Der Name d'Argenton, mit welchem seine Mutter angeredet wurde, verdroß unseren Freund Jack ein wenig, aber da er keinen klaren Begriff von den Würden und Pflichten des Lebens hatte, so beschäftigte ihn sein bewegliches Kindergemüt bald mit anderen Gedanken, besonders mit der Aussicht auf eine Eichhörnchenjagd, an welche ihn der Alte noch beim Fortgehen erinnerte, während er seine unter dem Tisch verschnaufenden Hunde rief und seine Mütze mit dem Waldhüterabzeichen auf die krausen Haare setzte.

Als das Paar fort war, hörte man einen Wagen langsam und mühselig die steinige Auffahrt heraufrollen.

»Sieh da, wahrscheinlich Doktor Rivals! Ich erkenne sein Pferd am langsamen Schritt. Sind Sie es, Doktor?«

»Ja, Frau d'Argenton.«

Es war der Arzt von Etiolles, welcher von seiner Tour zurückkehrend, sich nach seinem kleinen Patienten von heute morgen erkundigen wollte.

»Sehen Sie, wie ich Ihnen sagte, nichts als Überanstrengung. Guten Tag mein Kind.«

Jack betrachtete das kupferfarbige Gesicht, den kleinen, untersetzten, gebeugten Mann in seinem langen, bis auf die Hacken reichenden Überzieher, seiner flatternden, weißen Mähne und dem schaukelndem Gang, welcher von einer zwanzigjährigen ärztlichen Thätigkeit auf See herrührte.

Wie gut und treuherzig er aussah!

Wie wohl fühlte man sich unter so braven Leuten in dieser freien, ländlichen Umgebung, fern von dem schrecklichen Mulatten und dem Gymnasium Moronval!

Nachdem der Doktor fort war, wurden die schweren Riegel vorgelegt. Die Dunkelheit zog ihre Schranken um die Mauern und Mutter und Kind stiegen ins Schlafzimmer hinauf.

Dort schrieb sie, während Jack schlief, einen langen Brief an ihren d'Argenton, indem sie ihm die Ankunft ihres Sohnes anzeigte und ihn weich zu stimmen versuchte gegen dieses kleine Geschöpf, dessen regelmäßige, friedliche Atemzüge sie neben sich hinter den Vorhängen hörte.

Sie wurde erst zwei Tage später drüber beruhigt, als d'Argentons Dichterantwort eintraf.

Obgleich voll von Einwänden und Anspielungen auf die mütterliche Schwäche und den unerzogenen Charakter des Kindes war der Brief weniger schrecklich, als man erwarten konnte. Übrigens hatte d'Argenton schon die bedeutenden Kosten einer Erziehung im Gymnasium Moronval in Betracht gezogen und wenn er auch Jacks Flucht mißbilligte, so gab er doch zu, daß das Unglück nicht so groß sei, da das Institut dem Ruin nahe war. (Wann wäre dies nicht der Fall gewesen!)

Was die Zukunft des Kindes anbetraf, so wollte er sich ihrer annehmen und nach seiner Rückkehr in acht Tagen bestimmen, was zu thun sei.

Nie in seinem ganzen Leben, weder als Kind noch als erwachsener Mann, konnte sich Jack ähnlicher, schöner, glücklicher acht Tage erinnern. Seine Mutter, der Wald, der Hühnerhof, die Ziege gehörten ihm, er konnte hinter seiner Ida zehnmal die Treppe hinaufsteigen, ihr auf Schritt und Tritt folgen, lachen, wenn sie lachte, ohne zu wissen warum, es war ein vollkommenes Glück, welches aus einer Anzahl kleiner, kaum nennenswerter Freuden bestand.

Dann kam wieder ein Brief und es hieß:

»Morgen kommt er.«

Obgleich d'Argenton geschrieben hatte, daß er bereit sei, das Kind wiederzusehen und ihm Güte und Nachsicht zu bezeigen, war die Mutter doch unruhig und suchte das Zusammentreffen vorzubereiten. Sie erlaubte nicht, daß Jack mit ihr den Wagen bestieg, welcher den Dichter von der Station Evry abholen sollte. Sie hielt ihm eine für beide Teile peinliche Predigt und gab ihm Verhaltungsmaßregeln, als hätten sie beide einen unverzeihlichen Streich begangen.

»Du bleibst hinten im Garten, hörst Du. Du sollst ihm nicht entgegenlaufen, Du wirst warten, bis ich Dich rufe.«

Welche Aufregung für Jack!

Er verbrachte diese Stunde der Erwartung damit, daß er im Garten umherschlenderte und den steinigen Weg entlang spähte; bis er Rädergerassel vernahm.

Dann floh er und hörte hinter den Johannisbeersträuchern versteckt den Einzug ins Haus mit an, vernahm »seine« strenge, klanglose Stimme und diejenige seiner Mutter, welche noch sanfter als sonst klang.

»Ja, mein Lieber, nein, mein Lieber.«

Dann wurde das Turmfenster geöffnet.

»Jack, komm schnell herauf.«

Sein kleines Herz schlug auf der Treppe vor Erregung und Furcht, und sobald er eintrat, fühlte er sich auf eine so ernste Unterredung schlecht vorbereitet; von dem farblosen Antlitz auf dem dunklen Holzwerk des Stuhles geängstigt, von der Verlegenheit seiner Mutter bedrückt, welche ihm nicht einmal die Hand reichte. –

Er stotterte ein »Guten Tag« und wartete.

Die Strafpredigt war kurz, beinahe wohlwollend, da die demütige Haltung des Schuldigen dem Dichter nicht im Geringsten mißfiel, und er sich obendrein über den dem Direktor gespielten Streich freute.

»Jack,« sagte er schließlich, »jetzt heißt's verständig sein und arbeiten. Das Leben ist kein Kinderspiel. Ich verlange nur, daß Du bereust, und wenn Du verständig bist, werde ich Dich sicher liebgewinnen, und wir können alle drei glücklich sein. Nun will ich Dir einen Vorschlag machen. Von der Zeit, welche ich meinen harten, künstlerischen Kämpfen widme, will ich täglich eine bis zwei Stunden Deiner Erziehung, Deinem Unterricht opfern. Wenn Du Lust zur Arbeit hast, so will ich es auf mich nehmen, aus Dir, dem unerzogenen, leichtsinnigen Knaben, einen kampfgerüsteten Mann, wie ich, zu machen.«

»Hörst Du, Jack?« sprach die durch das Stillschweigen ihres Kindes beunruhigte Mutter, »nicht wahr, Du erkennst das große Opfer an, welches sich unser Freund um Deinetwillen auferlegt?«

»Ja, Mama,« murmelte Jack.

»Halt, Charlotte,« versetzte d'Argenton, »erst muß ich wissen, ob ihm mein Vorschlag gefällt. Ich zwinge niemand, das versteht sich. Nun Jack?«

Jack, ganz bestürzt darüber, daß seine Mutter Charlotte genannt wurde, wußte nicht, was er antworten sollte und suchte so lange nach einer zärtlichen, beredten Erwiderung auf diese Großmut, daß er schließlich seine Dankbarkeit in tiefes Schweigen vergrub. Als seine Mutter dies bemerkte, schob sie ihn dem Dichter in die Arme, welcher ihm einen richtigen, kalten Theaterkuß versetzte und dabei noch aussah, als müßte er ein Gefühl der Abneigung unterdrücken.

»Mein Teurer, wie groß, wie gut bist Du!« murmelte die arme Frau, während der durch eine Handbewegung verabschiedete Knabe eilends die Treppe hinabstieg, um seine Bewegung zu verbergen. –

Im Grunde wurde Jacks Ankunft zu einer Zerstreuung für den Dichter. Nachdem das erste Vergnügen an der Einrichtung vorüber war, hatte ihn das Alleinsein mit Ida, die er nach Göthes Heldin und um ihr nichts von der ehemaligen Ida von Barancy zu lassen, Charlotte nannte, geradezu ermüdet.

In ihrer Gesellschaft fühlte er sich allein, so sehr hatte seine imponierende Persönlichkeit dies arme Geschöpf von beschränktem Geist und haltlosem Charakter überwältigt.

Sie wiederholte seine Worte, prägte sich seine Ideen ein, dehnte seine Paradoxen zu einem unendlichen Geschwätz aus, sodaß sie beide eins waren; aber diese Einigkeit, welche in gewissen Lebenslagen als das ideale Glück erscheint, wurde zur Qual für d'Argenton, welcher zu streitlustig und absprechend war, um an dieser stetigen Übereinstimmung Gefallen zu finden.

Jetzt konnte er wenigstens jemand widersprechen, leiten und schulmeistern, und unter diesen Umständen unternahm er Jacks Erziehung mit jener großartigen Pünktlichkeit und pedantischen Würde, welche seinen geringfügigsten Handlungen ein feierliches Gepräge verlieh.

Als Jack am nächsten Morgen in seinem Stübchen erwachte, bemerkte er im Spiegelrahmen ein Täfelchen, welches mit der schönen, fleckenlosen Handschrift des Dichters bedeckt war und in großen Buchstaben die Überschrift trug: Tagesordnung.

Es war ein Stundenplan, welcher den Tag in viele kleine, mit Beschäftigungen dichtgefüllte Fächer teilte. »Um sechs Uhr: Aufstehen; von sechs bis sieben: Frühstücken; von sieben bis acht: Hersagen; von acht bis neun: und so fort.«

Die so geregelten Tage glichen festgeschlossenen Läden, welche zwischen den Ritzen gerade Luft genug zum Atmen und hinreichendes Licht für die Augen hindurchlassen. Für gewöhnlich sind diese Vorschriften nur dazu da, umgestoßen zu werden; aber d'Argenton besaß eine krittlige Strenge, welche keine Nachlässigkeit duldete. Damit verband er noch die Sucht nach einem System, welche sich der ehemalige Professor am Gymnasium Moronval noch immer nicht abgewöhnen konnte.

Das System d'Argentons bestand darin, im Kopf des Anfängers die verschiedenartigsten Gegenstände, Griechisch, Lateinisch, Deutsch, Algebra, Geometrie, Grammatik, mit den unerläßlichen Elementarfächern zu mischen.

Das System mochte vortrefflich sein, aber war es nun für das Begriffsvermögen des Kindes zu hoch, oder gebrach es dem Lehrer an der Geschicklichkeit, seine Lehren zu entwickeln, Jack zog keinen Nutzen daraus. Dennoch war er für sein Alter sehr geweckt und trotz seiner mangelhaften Erziehung weiter, als man es mit elf Jahren zu sein pflegt. Aber alles Unklare, welches seine ersten Schuljahre in ihm zurückgelassen hatten, wurde noch verstärkt durch das gewaltsame System, welches sein Lehrer jetzt anwendete. Auch ängstigte ihn dessen imponierende Persönlichkeit und was die Hauptsache war, die Natur nahm ihn ganz in Anspruch.

Mit einem Schlage aus dem engen, feuchten Hof des Gymnasiums Moronval und der schrecklichen Zwölf-Häuserreihe mitten aufs Land versetzt, war er von dem Anblick und fortwährenden Verkehr mit der Natur überwältigt und entzückt. Wenn er an den schönsten Nachmittagsstunden oben im Turm vor seinem Lehrer und seinen Büchern über ein dickes Heft gebeugt saß, dessen Zeilen vor seinen Augen tanzten, dann überkam ihn eine tolle Begierde, irgend einen Paragraphen der Tagesordnung zu überspringen und in die Freiheit atmende, lebendige Schule da draußen zu entschlüpfen. Durch die offenen Fenster sandte der blühende Mai seine Düfte, der Wald sein Rauschen, und Jack unterbrach seine Lektion, um die leichten Flügelschläge zwischen den Bäumen zu verfolgen, oder ein Eichhörnchen zu beobachten, welches sein rotes Fell in das Laub des großen Nußbaumes mischte. –

Welche Strafe, rosa, die Rose, in mehreren Sprachen deklinieren zu müssen, während der Waldrand von der zarten, frischen Farbe der Heckenrosen erglänzte. Er dachte nur daran, in der frischen Luft im Sonnenschein zu sein.

»Der Junge ist idiot!« schrie d'Argenton, wenn Jack für alle seine Fragen und Gründe nur ein zerstreutes Gesicht hatte, als müsse er sich beeilen, den Baumwipfeln, welche er betrachtete, oder der leichten nach Westen schiffenden Wolke zu antworten.

Nach einem Monat erklärte d'Argenton, den Unterricht aufgeben zu müssen, da er seine kostbaren, ernsten Beschäftigungen entzogene Zeit nicht nutzlos vergeuden wollte. In Wahrheit war er froh, den vielfachen Anforderungen dieser eisernen Vorschrift, welche ihn ebenso wie den Knaben knechtete und fesselte, zu entgehen. Ihrerseits machte sich Ida, oder vielmehr Charlotte, sehr bald mit dem Gedanken vertraut, daß Jack unfähig, von langsamen Begriffen sei. Sie war damit eher zufrieden, als mit den heftigen Auftritten, den endlosen Thränen, welche diese so schwierige Erziehung mit sich brachte. Sie liebte die Ruhe über alles und wünschte alles um sich her zufrieden zu sehen. Ihr beschränkter Verstand dachte nie über den Tag hinaus und ihre unmittelbare Bequemlichkeit schien ihr mehr wert als die Zukunft.

Man kann sich denken, wie glücklich Jack war, diesen tadellosen Stundenplan: Um sechs Uhr: aufstehen; von sechs bis sieben: Frühstück; von sieben bis acht: ... u. s. w., nicht mehr vor Augen zu haben. Die Zeit erschien ihm so viel länger, leichter. –

Da er sehr wohl wußte, daß er jedermann im Hause störte und es an der Art, wie ihn seine Mutter küßte, an der Stimme, mit der sie ihn in »seiner« Gegenwart anredete, merkte, so war er den ganzen Tag über verschwunden, ohne sich um die Zeit zu kümmern, wie es Kinder und Tagediebe so gern thun.

Er besaß zwei gute Freunde, den Wächter und den Wald.

Schon am frühen Morgen brach er auf und erreichte Archambaulds Häuschen, wenn die Frau, ehe sie zu den Parisern ging, ihrem Mann das Frühstück in dem sauberen, frischen Stübchen auftrug, welches mit hellgrüner, viele Male denselben Jäger auf dem Anstand und den flüchtenden Hasen darstellender Tapete ausgeklebt war. Eine Thür führte in einen Verschlag für die in Dressur befindlichen Hunde, welche bellend und winselnd in übermütigen Sätzen sich an das Gitter drängten, bis die endlich befreite Schaar kurzer, langer, geschweifter Schnauzen, spitzer, herabhängender, behaarter Ohren sich in einem Rausch von Glück und Freiheit in den Hof stürzte. Welche Sprünge, welche natürlichen Bewegungen sah man da, fern von dem Trog und dem Stroh des Hundezwingers!

Vater Archambauld schulte seine Zöglinge sehr gewissenhaft mit dem Stachelhalsband, strafenden Peitschenschlägen und jenen strengen Blicken, welche für manche Tiere so vernichtend sind, sie zähmen, beugen und furchtsam und zitternd auf die Erde strecken. Jack dachte oft von einem Widerspänstigen: »Da ist einer, der nichts vom System versteht,« und hätte ihn gern mit in den Wald genommen und ihn an jener Sorglosigkeit teilnehmen lassen, die ihm selbst solchen Überfluß an Lebenskraft gab.

Der kleine Jack war so selig, so stolz, den Heger durch den Wald zu begleiten, an der Seite dieses schrecklichen, von allen Wilderern gefürchteten Menschen zu schreiten, dem das umgehängte Gewehr ein kriegerisches Ansehen gab. In seiner Gesellschaft sah er einen ganz besonderen, lebendigen, bevölkerten Wald, den Uneingeweihte garnicht kennen.

Hinter dem durchsichtigen Vorhang junger Zweige, durch welche der Weißdorn seine großen duftenden Blütensträuße schlang, lebte und webte es im Schatten der hohen Wipfel. Der Alte überwachte jeden Bau, jede Brutstätte; er tötete schädliche Tiere, als: Kreuzottern, Elstern, Eichhörnchen, Feldmäuse und Maulwürfe. Für den Kopf oder Schwanz eines dieser Räuber bekam er so und soviel und alle Halbjahr brachte er eine ganze Sammlung staubiger, vertrockneter Überreste nach Corbeil aufs Amt. Wenn er nur die Köpfe aller Wild- und Holzdiebe hätte hinzufügen können! Seine Bäume liebte Vater Archambauld noch mehr, als die Tiere. Ein Reh wird ersetzt, auf einen toten Fasan kommen im Frühjahr tausend neue. Aber ein Baum braucht lange Zeit!

Wie er sie bewachte, wie er die geringste Krankheit erspähte. Da war unter anderem eine vom Borkenkäfer angegriffene Fichtenpflanzung, die ihn sehr unglücklich machte. Diese kleinen Käfer, welche zu Hunderttausenden in geschlossenen Reihen, man weiß nicht woher, kommen, wählen sich den stärksten, gesundesten, schönsten Baum aus und nehmen ihn in Angriff. Um diesem Überfall zu widerstehen, hat der Baum sein Harz und versucht nach Kräften mit Hilfe dieses Lebenssaftes, der ihm einen Teil seines Lebens kostet, den Feind zu bekämpfen. Er vergießt Ströme von Harz auf die Käfer und ihre zwischen der Borke niedergelegten Eier und erschöpft sich in diesem fast immer nutzlosen Kampfe. Jack interessierte sich für das Schicksal der armen Bäume, er sah während des Kampfes diesen duftenden Schweiß, diese schweren, bernsteinfarbenen Pflanzenthränen herniederrieseln.

Die Buchen hatten einen anderen Feind, eine winzige rote Käferart, welche so zahlreich auftrat, daß jedes Blatt eine Larve, ein hellrotes Pünktchen trug. Von weitem glich dieser Teil des Waldes mit seinen von einem frühzeitigen Herbst gefärbten Zweigen einer trügerischen Gesundheit, jener krankhaften Röte, welche das Antlitz der Schwindsüchtigen belebt; Vater Archambauld betrachtete sie mit jenem traurigen Achselzucken, welches ein verzweifelter Arzt bei manchen Krankheiten zeigt.

Bei diesen Waldspaziergängen sprachen der Heger und der Knabe wenig mit einander; die große Symphonie des Waldes überwältigte sie. Nach dem Wesen der Bäume, welche er schüttelte, änderte der Wind seinen Odem und sein Klagen. In den Kiefern tönte er wie Meeresrauschen, in den Birken und Eschen zitterte derselbe, ohne die Äste zu bewegen, und fuhr in tausend metallischen Tönen über die Blätter; von den Ufern der in diesem Teile sehr zahlreichen Teiche erklang das sanfte Rauschen und Rascheln des Schilfes, dessen lange glänzende Halme sich gegeneinander neigten. Von oben her tönte der scharfe Ruf und das Klopfen des Spechtes, melancholischer Kuckucksruf und alle jenen unbestimmten Geräusche, welche sich in einem vier bis fünf Meilen langen Walde erheben. Sie tönten Jack unaufhörlich in den Ohren und er hörte sie gern. Dennoch hatte er, obgleich er den ganzen Tag in des Hegers Gesellschaft den Wald durchstreifte, Feinde. Am Waldrande hauste eine Bande von Wilderern, denen Archambaulds Wachsamkeit das Leben schwer machte und die ihn deshalb tödlich haßten. Begegneten sie dem Alten im Walde, so lüfteten sie wohl mürrisch den Hut zu einem Gruß, der zugleich auch dem Knaben galt, befand sich dieser aber allein, so drohten sie ihm mit der Faust. Da war besonders eine Alte, Mutter Salée genannt, rotbraun, wie eine alte Indianerin, deren gefurchtes Gesicht mit dem eingefallenen Munde Jack bis in seine Träume verfolgte.

Wenn er den Heger bei Sonnenuntergang verließ, um nach dem Erlenhäuschen zurückzukehren, fand er die alte Diebin mit ihrem Holzbündel jedesmal am Grabenrande sitzen, wie jener fabelhafte Mann im Monde. Sie ließ den Knaben, der an sich hielt, um nicht zu laufen, dicht herankommen und schrie ihm dann in der gemeinen, kreischenden Aussprache von Ile-de-France zu:

»Du da, warum rennst Du denn so? Ich habe Dich wohl gesehen. Warte, ich werde Dir die Nase mit meiner Sichel abschneiden.«

Dann stand sie auf und that, um ihn zu ängstigen, als wolle sie ihn verfolgen. Jack hörte ihre eiligen Schritte, das Schleifen des Bündels auf dem Boden und kam atemlos nach Hause.

Aber dieser Schreck vermehrte nur noch die Poesie des Waldes und fügte ihr noch die geheimnisvolle Anziehungskraft der Gefahr hinzu. Wenn Jack von seinen Ausflügen nach Hause kam, fand er seine Mutter in der Küche leise mit der Frau des Hegers plaudern. Dumpfes Stillschweigen lagerte auf dem Hause und wurde von dem Pendel der großen Wanduhr im Eßzimmer geregelt. Der Knabe küßte seine Mutter, die ihm mit der Hand ein Zeichen machte.

»Bst ... sei still, »Er« ist oben, »Er« arbeitet.«

Jack setzte sich auf einen Stuhl in die Ecke, amüsierte sich damit, die im Sonnenschein buckelnde Katze, oder des Dichters Büste zu betrachten, deren Schatten sich auf dem Grasplatz majestätisch streckte. Mit der Ungeschicklichkeit der Kinder, die am liebsten Lärm machen, wenn sie nicht sollen, warf er irgend etwas um, rückte am Tisch, stieß an die Uhrgewichte, mit den müßigen, sorglosen Bewegungen, welche solche kleinen, überflüssigen Wesen jeden Augenblick machen.

»Sei doch still,« wiederholte Charlotte und Mutter Archambauld, welche den Tisch deckte, gab sich alle mögliche Mühe, ging auf den Spitzen ihrer großen Füße, welche gar keine Spitzen hatten, machte den Rücken ganz krumm und ging tölpelhaft, eifrig und ungeschickt, um den Herrn, »welcher arbeitete«, nicht zu stören.

Er arbeitete.

Man hörte ihn oben im Turm mit regelmäßigem Schritt seine Träume oder seine Langeweile messen, den Stuhl oder Tisch rücken. Er hatte seine »Tochter Fausts« begonnen und schloß sich den ganzen Tag mit dem aufs Geratewohl hingeworfenen Titel ein; aber keine Zeile rechtfertigte denselben. Dabei besaß er alles, was er sich stets erträumt hatte, Zeit, Landluft, Einsamkeit und ein wundervolles Arbeitszimmer. Wenn er genug vom Walde und seinem Grün hatte, brauchte er seinen Stuhl nur ein wenig zu drehen und er sah das verschiedenartige Blau des Wassers, Himmels und der Ferne vor sich. Der Duft des Waldes, die Kühle des Wassers drangen unmittelbar zu ihm. Nichts konnte ihn zerstreuen und stören, als das zärtliche Girren der Tauben über sich auf dem Dache.

»Gott, wie gut läßt es sich hier arbeiten!« rief der Dichter aus! Alsbald ergriff er die Feder und öffnete das Tintenfaß. Aber es wurde nichts, das Papier blieb weiß, wort- und gedankenleer und die im voraus betitelten Kapitel, denn die Sucht nach Titeln verfolgte ihn beständig, dehnten sich aus wie die nummerirten Beete eines vom Säemann vergessenen Feldes. Er befand sich zu wohl, hatte zuviel Poesie um sich; er erstickte an zuviel Ideal und Wohlbefinden.

Man denke nur! In einem Pavillon aus der Zeit Louis XV. am Waldrande, in der schönen Landschaft Etiolles wohnen, welche mit Erinnerungen an die Pompadour durch rosa Bänder und Diamantagraffen verknüpft ist; alles besitzen, was man braucht, um ein großer Dichter zu werden, eine angebetete reizende Geliebte, welcher der romantische Name Charlotte so gut steht, einen Stuhl im Stil Heinrichs II., welcher strenges, angestrengtes Studium begünstigt, eine kleine weiße Ziege, namens Dalti, welche ihn auf den Spaziergängen begleitet, eine alte Emaillewanduhr, deren sanfter, tiefer Glockenschlag aus der Vergangenheit herübertönt und melancholische Bilder aus längstvergangener Zeit hervorruft.

Das war zuviel und der unglückliche Reimschmied fühlte sich jeder Eingebung bar, wie damals, als er sich nach einem Tage voller Lehrstunden in sein möbliertes Zimmer zurückzog.

Oh die langen mit der Pfeife zugebrachten Stunden, das Faulenzen auf dem Divan, die Stationen an den Fenstern, die Langeweile!

Als Charlottens Schritt auf der Treppe ertönte, setzte er sich schnell an den Tisch, nahm eine gedankenvolle Miene an, während die Augen einen geistesabwesenden Ausdruck zeigten, der ebensogut Träumerei bedeuten konnte.

»Herein!« rief er auf das schüchterne Klopfen.

Sie trat ein, frisch heiter, mit von den hübschen, nackten Armen zurückgezogenen Ärmeln, so ländlich aussehend, daß der Puder auf ihrem Gesicht mehr dem Mehlstaub einer Mühle der komischen Oper glich.

»Ich komme, mich nach meinem Dichter umzusehen,« sagte sie beim Eintreten.

Sie hatte eine Art, Dichter »Dichta« auszusprechen, die ihn stachelte.

»Nun, rückt es vorwärts? Bist Du zufrieden?«

»Zufrieden? Kann man denn bei diesem elenden Schriftsteller-Handwerk, welches eine fortgesetzte, geistige Anstrengung ist, jemals zufrieden sein?«

Der Zorn riß ihn fort, seine Stimme wurde ironisch.

»Gewiß, mein Lieber, ich wollte nur wissen, ob Deine Tochter Fausts ...«

»Nun was denn, meine Tochter Fausts? Weißt Du, wieviel Jahre Göthe zu seinem Faust gebraucht hat? Zehn Jahre. Und dabei lebte er in künstlerischem Verkehr, in einem geistvollen Kreise. Er war nicht wie ich zur geistigen Einsamkeit verdammt, der schlimmsten Art von Einsamkeit verdammt, denn sie bringt einen zur Unthätigkeit und zur Träumerei.«

Die arme Frau hörte schweigend zu. Da sie d'Argenton stets dieselben Phrasen wiederholen hörte, hatte sie endlich begriffen, welche Vorwürfe dieselben für sie enthielten. Der Ton des Dichters bedeutete:

»Du armes Geschöpf kannst mir den Kreis, der mir fehlt, den geistigen Verkehr, der allein Funken entzündet, nicht ersetzen.«

Thatsache war, daß er sie dumm fand und sich in ihrer Gesellschaft langweilte, als sei er allein.

Ohne daß er es selbst wußte, war das, was ihn an dieser Frau entzückte, nur die Umgebung, in der er sie kennen gelernt und bewundert hatte, der Luxus, der sie umgab, das Hotel am Boulevard Haußmann, Pferde, Wagen und Dienerschaft, und der Neid, welchen der Besitz einer solchen Geliebten jenen zweifelhaften Ehrenmännern verursachte. Jetzt, wo sie ihm allein gehörte und er sie umgetauft und umgewandelt hatte, war die Hälfte ihres Reizes dahin. Sie war zwar noch immer hübsch, hübscher noch sogar durch die Landluft, welche ihrer strahlenden Schönheit so gut bekam. Aber was nutzt es, eine hübsche Geliebte zu haben, wenn niemand sie an unserm Arm sieht! Außerdem verstand sie nichts von Poesie, sondern schwatzte lieber mit den Landleuten, kurz, besaß nichts von alledem, was notwendig ist, um einen verzagten Dichter aufzurichten, ihm die unvermeidliche Langeweile zu zerstreuen, welche Müßiggang und Einsamkeit mit sich bringen. Man mußte ihn morgens sehen, wenn er dem Briefträger auflauerte, wie er die bunten Kreuzbänder von den drei oder vier Zeitungen, auf welche er abonniert hatte, abriß, als erwarte er zwischen den Spalten irgend eine ihn betreffende Nachricht zu finden, etwa eine Besprechung des Theaterstücks, welches er in seiner Mappe liegen hatte, oder die Inhalts-Angabe seines Buches, welches er zu schreiben wünschte. Er las seine Zeitungen, ohne eine Zeile zu überspringen, bis auf den Namen des Druckers. Und er fand darin stets eine Veranlassung zum Ärger, einen Gegenstand für lange, fade Frühstücksgespräche.

Die anderen hatten Glück! Man spielte ihre Stücke, was für Stücke! Man druckte ihre Bücher; was für Bücher! Keine Woche verging, ohne daß man ihm einen Gedanken stahl.

»Weißt Du, Charlotte, man hat gestern im Theatre Français ein neues Lustspiel von Emil Augier aufgeführt. Es ist genau wie meine ›Äpfel der Atalante‹.«

»Aber das ist Schurkerei. Man hat Dir Deine »Äpfel der Atalante« genommen. Aber ich werde diesem Herrn Augier schreiben,« sagt die arme Lotte ganz entrüstet.

Darauf versetzte er bitter:

»Das kommt davon, wenn man nicht da ist. Alle Welt läuft einem den Rang ab.«

Er sah aus, als wollte er ihr einen Vorwurf daraus machen, als wäre es niemals der Traum seines Lebens gewesen, ein Heim auf dem Lande zu haben. Die Ungerechtigkeit des Publikums, die Bestechlichkeit der Kritik, alles erörterte er in trockenen kalten Phrasen.

Während dieser verdrießlichen Mahlzeit sprach Jack kein Wort, sondern duckte sich, um übersehen zu werden und sich der allgemeinen Verstimmung zu entziehen. Aber je mehr d'Argenton in Zorn geriet, desto mehr erwachte seine Abneigung gegen das Kind und das Zittern seiner Hände, wenn er ihm zu Trinken eingoß, und die gerunzelten Brauen benachrichtigten den kleinen Jack von dem Haß, der nur auf eine Gelegenheit wartete, um auszubrechen.


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