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Zweites Kapitel.
Das Gymnasium von Moronval.

»Nr. 25 Avenue Montaigne, im schönsten Stadtteile von ganz Paris,« so hieß es in dem Prospektus Moronval.

Es läßt sich in der That nicht leugnen, daß die Avenue Montaigne in einem der schönsten Stadtviertel von Paris belegen ist, mitten auf den Champs-Elysees, und nicht minder, daß es sich dort sehr angenehm wohnen läßt, denn die Avenue wird hüben begrenzt durch die Kais der Seine und drüben durch die blumenumsäumten Springbrunnen des Rundells. Aber sie macht doch den ungereimten, zusammen gewürfelten Eindruck einer in der Hast trassierten und noch nicht fertigen Straße.

Neben großen Palästen, die ihre gerundeten Ecken mit fleckenlosen Spiegeln, mit hellseidenen Vorhängen, mit vergoldeten Bildsäulen, mit ländlichen Blumen-Auslagen schmücken, finden sich hier Arbeiterhäuser, alte baufällige Häuser, aus denen die Hammerschläge hervorschallen. Es steckt dort ein ganzer Vororts-Überrest, den die Streichmusik von Mabille des Abends mit dem Lärm einer gutfundierten Kneipe belebt. Zu dieser Zeit sah man sogar in der Avenue – und ich denke, es giebt ihrer auch heute noch – zwei bis drei schmutzige Gassen – eine Erinnerung von Alters her an die alte Allee des Veuves, deren armseliger Anblick einen merkwürdigen Gegensatz zu der glanzvollen Umgebung bildet.

Eines von diesen Gäßchen fing an mit Nr. 25 der Avenue Montaigne, und nannte sich das Zwölfhäuser-Gäßchen.

Vergoldete Buchstaben über dem im Simse des im Spitzbogenstil gehaltenen Gitterthors kündigten mit großer Pracht an, daß sich das Erziehungs-Institut Moronval an diesem Orte befände. Sobald man aber das Gitter überschritten hatte, setzte man den Fuß in jenen schwarzen, pestartigen, unzerstörbaren Schmutz, den Niederreißungen und Bauten jungen Datums um sich her zu bereiten pflegen, einen unklaren, undefinierbaren Bau- und Bodenschmutz. Der Rinnstein mitten in der Gasse, die den Raum quer durchschneidende Straßenlaterne, und hüben und drüben düstre Wohnlöcher, Bauten, die aus alten Planken zusammengefügt waren – dies alles setzte einen um vierzig Jahre im Leben zurück und nach dem andern Ende von Paris hin, nach La Chapelle oder Menilmontant.

Dieserlei Arten von Schweizerhäuschen, die in direkte Verbindung mit der Straße durch bedeckte Galerien, durch Außentreppen in Verbindung gesetzt wurden, waren übervoll von aufgehängter Wäsche, von Kaninchenkäfigen; es wimmelte in ihnen von Kleinkindervolk in Lumpen, von mageren Katzen, abgerichteten Dohlen.

Man wunderte sich auch, daß auf einem so winzigen Flecke ein solches Volk von englischen Stallknechten, von entlaufenen Lakaien, soviel Livreen alten Datums, soviel Lappen und Lumpen, soviel rote Westen und soviel großkarrierte Mützen sich herumtreiben konnten. Füge man noch hinzu, daß allabendlich bei Sonnenuntergang, nach vollendetem Tagewerk, die Stuhlvermieterinnen, das Ziegen-Gefährt, die Puppentheater-Spieler, Oblaten-Verkäufer oder Händler mit Hunde-Raritäten, Bettlervolk aller Arten und Gattungen, die kleinen Zwerge aus dem Hippodrom mit ihren mikroskopischen Ponnys und ihrem Reklame-Plakat dorthin zurückkehrten, und man wird eine Vorstellung von diesem merkwürdigen, einer übervollen, im Schatten befindlichen Kulisse gleichenden Durchgange hinter dem schönen Dekorationsstück der Champs-Elysees haben, der umschlossen ist von dem dumpfen Geratter der Wagen, von den grünen Bäumen, von dem ruhigen Luxus dieser großen Avenüen, deren jämmerliche und lärmige Kehrseite er zu sein schien.

Inmitten dieses malerischen Ensembles war das Gymnasium Moronval durchaus nicht verkehrt oder falsch am Platze.

Mehrmals am Tage kam ein hochgewachsener Mulatte von erschrecklicher Magerkeit, dem schlichtes Haar über die Schultern fiel, der einen breitrandigen Quäkerhut, einer Aureole vergleichbar, nach hinten in den Nacken gesetzt trug, mit überaus geschäftiger Miene über die Gasse geschritten, und hinter ihm her liefen ein halbes Dutzend von kleinen Teufeln, deren Hautfarbe alle Spielarten vom hellen Kupfer bis zum tiefsten Schwarz aufwies, die in abgeschabten Uniformröcken von schlecht gehaltenen Kolleg-Schülern staken, mager und abgezehrt, schlotterig und lotterig aussahen und irgendwelchem, in Revolte befindlichen Truppen-Korps aus einer Kolonial-Armee anzugehören schienen.

Der Direktor des Gymnasiums Moronval führte seine »kleinen heißen Länder,« (wie er sie nannte) spazieren, und das Kommen und Gehen in dieser vielfarbigen Pensions-Anstalt, das Zusammenhanglose der von ihnen betriebenen Beschäftigungen, der erstaunliche Habitus der Herren Lehrer bildeten zur fremdartigen Physiognomie des »Zwölf-Häuser-Gäßchens« eine sehr geeignete Ergänzung.

Ganz gewiß würde sich Frau von Barancy, wenn sie selbst ihr Kind hierher in dies Gymnasium geführt hätte, ob des Anblicks dieses Wunderhofs, den man durchschreiten mußte, um zu dem Erziehungs-Institute zu gelangen, entsetzt und nimmer ihre Einwilligung dazu gegeben haben, ihr »süßes kleines Wesen« in einer solchen Kloake zu lassen. Ihr Besuch bei den Jesuiten-Patres war aber so unglücklich, der Empfang dort so verschieden von dem gewesen, den sie erwartet hatte, daß das arme Geschöpf, das im Grunde sehr schüchtern und leicht aus der Fassung zu bringen war, Furcht vor irgend welcher neuen Demütigung gehabt und Mamsell Constant, seiner Kammerfrau, die Sorge überlassen hatte, Jack in das Pensionat zu überführen, welches die Dienerschaft für ihn auszusuchen die Güte gehabt hatte.

Es war ein kalter trauriger Schneemorgen, als Ida's Equipage in der Avenue Montaigne hielt, gegenüber von dem vergoldeten Aushängeschilde des Gymnasiums Moronval.

Die Gasse war öde und leer, die Straßenlaternen knarrten an ihrem Stricke, und das Balkengefüge der baufälligen Häuser, die Papierfetzen, die ihnen als Fensterscheiben dienten, das alles bot den schimmeligen, verwitterten, verfallenen Anblick, den eine vor kurzem stattgefundene Überschwemmung oder die Nachbarschaft eines Kanals, dessen Kais noch im Bau begriffen, verursacht.

Das kühne Faktotum rückte tapfer vorwärts, an der einen Hand das Kind führend, in der andern den Regenschirm haltend.

Beim zwölften Hause wurde Halt gemacht.

Es war ganz am Ende des Gäßchens, an der Stelle, wo sich dasselbe noch verschmälert, um die Rue Marboeuf zwischen zwei hohen Mauern zu erreichen. Ein paar schwarze und magere Äste schlotterten über einer grünen, verschlossenen Thür.

Eine gewisse Sauberkeit kündigte die Nähe der aristokratischen Erziehungsanstalt an, und die Austernschalen, die Topfscherben, die alten aufgebrochenen und leeren Sardinenbüchsen waren fürsorglich von dem grünen, massigen, soliden Portale beiseite geschoben – vor einem Portale, welches einen so trotzigen und grimmigen Eindruck machte, als wenn es den Zugang bildete zu einem Gefängnisse oder zu einem Kloster.

Das große Stillschweigen, das draußen herrschte und die Gebäude und Gärten des Gymnasiums weiter und geräumiger zu machen schien, wurde plötzlich von dem kräftigen Glockenschlage zerrissen, den Mamsell Constant erschallen ließ.

Jack durchrieselte es eiskalt, als er den Glockenschlag vernahm, und die Sperlinge, die sich mit jenem Geselligkeits-Instinkte, der sie im Winter überkommt, wenn das Korn rar wird, auf einen einzigen Baum gehockt hatten, stiebten ganz entsetzt auseinander und flogen über die rückseitige Hälfte des Nachbardaches davon.

Niemand kam indes, die Thür zu öffnen; man hörte aber hinter den schweren Thürflügeln Geflüster, und an dem kleinen, vergitterten Guckfenster, das in der dichten Portalwand zu bemerken war, spreizte sich ein schwarzes Gesicht mit wulstigen Lippen, dicken, verwunderten Augen und schweigsamem Lächeln.

»Das Gymnasium Moronval!« wünschte das eindruckskräftige Faktotum der Madame von Barancy.

Der Krauskopf hatte einem andersartigen Typus Platz gemacht, einem Mandschu- oder Tartaren-Kopfe mit kleinen, kreuzweis gestellten Augen, mit stark entwickelten Oberbacken, einem schmalen und spitzzulaufenden Schädel. Dann kam ein milchkaffeefarbiger Mischlingskopf an die Reihe mit neugierigem, mildlächelndem Gesicht. Die Thür blieb aber verschlossen, und Fräulein Constant fing schon an ungeduldig zu werden, als eine schrille Diskantstimme aus der Ferne her rief: »Ob dieser Schwarm von Meerkatzen wohl so gut sein will, die Thür aufzumachen!«

Alsbald nahm das Gezischel von neuem in verdoppelter Weise, wunderlich und scharf accentuiert, seinen Anfang.

Es wurden rasch hintereinander allerhand Schlüssel in die Rostrinnen des Schlosses geschoben – dann wurde gewettert und geflucht, es setzte Knüffe und Püffe – ein ganz schreckliches Gelaufe und Gedränge! und als die Thür dann endlich aufgemacht wurde, sah Jack einen ganzen Schwarm von Schüler-Rücken, die nach allen Richtungen hin auseinander stiebten, genau ebenso erschreckt und verscheucht wie es die Sperlinge gerade auch gewesen waren.

Es blieb nur ein einziger langer magerer Mulatte am Eingangsthor, dessen weiße, mehrfach um seinen haarlosen Hals geknotete Kravatte das Gesicht noch schwärzer und erdiger erscheinen ließ.

Herr Moronval bat Fräulein Constant gefälligst, hereinzutreten, bot ihr den Arm, und nun schritt man durch einen ziemlich großen Garten, dessen aufgerissene Gänge und zerstörte Rasenränder der einförmigen und düstern Färbung des Winters ein noch traurigeres Gepräge liehen.

Mehrere zerstreut liegende Wohnräume von wunderlichem Aussehen standen in Zwischenräumen voneinander mitten auf den verblichenen Rasenplätzen. Das Gymnasium sah aus wie eine photographische Anstalt einer alten Reitschule, die Herr Moronval zum Bildungs- und Erziehungs-Tempel umgewandelt hatte. Es war da unter anderen ein großer Rotundenbau, mit Glas überdacht, mit Sand und Kies bestreut, welcher den Zöglingen als Erholungssaal diente und dessen viereckige, nach Art von Treibhausfenstern angelegte, teilweis zerbrochene oder von Rissen durchsetzte Glasdach-Scheiben von unzähligen Papierstreifen durchquert waren.

In einer der Alleen begegnete man einem kleinen Neger in roter Weste, der mit einem großen Besen und mit einem Kohlen-Eimer bewaffnet war. Er drückte sich schüchtern zur Seite, voller Achtung vor dem Herrn Moronval, der ihm im Vorübergehen sehr geschwind zuherrschte:

»Feuer im Salon!«

Der Neger zeigte eine so verwirrte, so verdutzte Miene, als wenn man ihm zugerufen hätte, im Salon wäre Feuer ausgebrochen, während ihm doch einfach nur befohlen wurde, sehr schnell welches im Salon anzuzünden.

Und das war keineswegs ein Befehl, der sich als unnütz erwies.

Man konnte sich kein kälteres Loch denken als dieses große Empfangs- und Sprechzimmer, dessen verblichener, gebohnter Fußboden einem vorkam wie ein gefrorener, spiegelglatter See. Den Möbeln sogar schien sich diese Polar-Temperatur mitgeteilt zu haben – eingepackt wie sie waren in alte Hüllen und Überzüge, die kaum für sie gemacht worden sein durften, und in die sie sich so gut und schlecht einmummelten wie Spital-Kranke in ihre Anstalts-Hauskleider.

Fräulein Constant sah aber weder den Verfall der Mauern und Wände, noch die Kahlheit dieses großen Salons, welcher einem zum Teil mit Glas gedeckten Korridor glich, dem die photographische Anstalt, während ihrer Bestands-Phase in diesen verstreuten Baulichkeiten, einen Überfluß an kaltem Lichte gelassen, dessen man sich sehr bald beraubt hätte.

Die Kammerfrau war höchst vergnügt darüber, die Dame zu spielen, sich in Licht und Ansehen zu setzen.

Sie strahlte vor Wonne, gewann die Meinung, daß die Kinder sich hier sehr wohl befinden müßten, daß sie hier frische Luft hätten so schön wie auf dem Lande.

»Ganz so, ganz so, wie auf dem Lande,« versetzte Herr Moronval, sich auf den Hüften wiegend.

Es trat nun ein Moment der Verwirrung, der Einrichtung oder Unterbringung, des Zurechtfindens im fremden Raume ein, wie es sich in den Wohnungen der armen Leute trifft, wo die Besuchsgäste immer das Aussehen haben, als scheuchten sie eine Masse von unsichtbaren Atomen zum Vorschein.

Der Negerknabe brachte das Feuer in Stand. Herr Moronval suchte nach einem Sesselchen für die vornehme fremde Dame. Endlich bewirkte Madame Moronval, geborene Decostère, die man schleunigst benachrichtigt hatte, mit anspruchsvollem Knixe ihren Eintritt. Diese kleine, sehr kleine Dame mit länglichem bleifarbenem Kopfe, der bloß Stirn und Kinn war, mußte irgendwo eine Verunstaltung an sich haben. Sie zeigte sich immer von vorn, immer in kerzengerader Haltung, ohne einen Zoll von ihrer Leibesgröße einzubüßen, gleichsam als hätte sie jenes Zuviel zu verstecken, das sie zwischen den Schultern sitzen wußte. Im übrigen war sie sehr liebenswürdig, diensteifrig und würdevoll.

Sie rief das Kind zu sich, streichelte ihm das lange Haar, fand seine Augen außerordentlich schön.

»Die Augen seiner Mutter ...« setzte Moronval keck hinzu, indem er Fräulein Constant ansah.

Diese hatte es nicht besonders eilig, sich gegen diese Mutmaßung zu wenden. Jack aber rief erregt, mit Thränen in der Stimme:

»Das ist nicht Mama ... Das ist bloß meine Bonne.«

Darauf nahm Madame Moronval, geborene Decostère, die sich durch die Vertraulichkeit der Dame ein wenig verletzt fühlte, eine sehr reservierte Haltung an, welche den Interessen der Anstalt leicht hätte schädlich werden können. Zum Glück verdoppelte ihr Herr Gemahl seine Liebenswürdigkeiten, denn er begriff, daß eine Dienstperson, welche von ihrer Herrschaft beauftragt wurde, das Kind aus dem Elternhause in die Pension zu bringen, dort eine gewisse Wichtigkeit besitzen müßte.

Fräulein Constant bewies es ihm ausgiebig, sie sprach sehr von oben herab und in sehr gebieterischem Tone, verhehlte nicht, daß die Wahl eines Pensionats ganz und gar in ihr Ermessen gestellt worden sei, und jedesmal, wenn sie den Namen ihrer Herrin nannte, geschah dies mit einer Art von Protektorsmiene, mit einer Herablassung und einem Mitleid im Tone, daß Jack schier in Verzweiflung darüber geriet.

Man erörterte den Pensionspreis: dreitausend Francs im Jahre, ohne die Ausstattung des Knaben. Sobald diese Summe ausgeworfen war, begann dann Moronval mit seinen marktschreierischen Kunstgriffen.

Dreitausend Francs! ... Das konnte ja freilich als eine ganz beträchtliche Ziffer erscheinen! Gewiß! gewiß! er wäre durchaus der erste, das zuzugeben! ... Aber das Gymnasium Moronval hätte keine Ähnlichkeit mit den andern Lehranstalten. Es wäre nicht ohne Ursache geschehen, daß man ihm nach deutschem Vorbilde den Namen »Gymnasium« gegeben hätte – als Stätte eben der freien Geistes- und Körper-Übung. Hier führte man die Schüler, während man sie im Wissen unterrichtete, zugleich in das Pariser Leben ein.

Sie gingen mit ihrem Lehrer in das Theater, besuchten gesellschaftliche Zirkel. Den großen akademischen Sitzungen wohnten sie als Zeugen für ihre litterarischen Wettkämpfe bei. Statt grobe, mit griechisch und lateinisch vollgepfropfte Pedanten aus ihnen zu machen, ließe man es sich angelegen sein, in ihnen alle menschlichen Empfindungen zu entwickeln, ihnen auch einen Begriff von den Annehmlichkeiten des Familienlebens beizubringen, deren sich die Mehrzahl, als Ausländer, beraubt wüßte. Trotzdem würde aber der Unterricht nicht vernachlässigt: sehr im Gegenteil. Die bedeutendsten Männer aus der Gelehrten- und Künstlerwelt hätten sich nicht gescheut, sich an diesem philanthropischen Werke in der Eigenschaft von Lehrern, wissenschaftlichen, Geschichts-, Musik-, Litteratur-Lehrern zu beteiligen; ihre Lehrstunden wechselten täglich mit einem Kursus in der Aussprache des Französischen, nach einer neuen und unfehlbaren Methode, deren geistige Urheberschaft Eigentum der Frau Moronval-Decostère sei. Außerdem würde alle acht Tage eine öffentliche Lektion gegeben im lauten, deutlichen Vorlesen, zu welcher die Eltern oder Vormünder oder Pflege-Eltern der Zöglinge Einladung erhielten, und in denen sie sich von der Vortrefflichkeit des Systems Moronval Überzeugung verschaffen könnten.

Dieser lange Redeschwall des Direktors, welcher mehr als sonst wer anders eines Unterrichtes in der Aussprache des Französischen von seiten seiner Frau bedurft hätte, wurde um so rascher aus dem Munde heraus befördert, als er in seiner Eigenschaft als Kreole die Hälfte der Worte verschluckte oder in seiner Rede unterdrückte, ›P'ofesso' de' Litte'atu'‹ sagte statt Professor der Litteratur, »philanth'opisches We'k« sagte statt »philanthropisches Werk« u. s. w.

Gleichviel, Fräulein Constant wurde im buchstäblichen Sinne des Wortes geblendet.

Die Frage des Kostenpunkts kam für sie nicht in Betracht, das weiß ja der Leser recht gut. Worauf es vor allem ankam, war, daß das Kind eine vornehme und aristokratische Erziehung erhielt. –

»O! was das anbetrifft!« sagte Madame Moronval, geborne Decostère, während sie ihren länglichen Kopf in die Höhe reckte.

Und ihr Mann setzte hinzu, daß er nur hervorragenden Ausländern, nur Erben großer Namen, nur Adelskindern, fürstlichen Kindern Zutritt zu seinem Gymnasium gewährte. Er hätte in diesem Augenblicke sogar ein Kind aus königlichem Geblüt unter seinen Zöglingen, den richtigen Sohn des Königs von Dahomey. Dieser Schlag war so außerordentlich und saß so vorzüglich, daß der Enthusiasmus des Fräulein Constant gar keine Grenzen mehr kannte.

»Ein Königssohn! ... Sie hören also, Herr Jack! – Sie werden zusammen mit einem Königssohne Ihre Erziehung erhalten!«

»Jawohl,« versetzte ernst und würdevoll der Institutsvorsteher – »mir ist von Seiner Dahomëischen Majestät die Aufgabe zuerteilt worden, die Erziehung Seiner Königlichen Hoheit zu übernehmen, und ich glaube, ohne mich zu rühmen, daß es mir gelungen ist, einen in allen Hinsichten hervorragenden Menschen aus dem Jünglinge zu machen.«

Was konnte denn dem jungen Negerknaben sein, der dort unten das Feuer in Ordnung brachte, daß er so herumhantierte und den Kohleneimer mit so erschrecklichem Getöse schwang?

Der Institutsvorsteher fuhr fort:

»Ich hoffe, und die hier gegenwärtige Madame von Moronval hofft gleich mir, daß der junge König, wenn er erst einmal auf den Thron seiner Väter gestiegen sein wird, sich der guten Ratschläge und der guten Beispiele erinnern wird, die ihm seine Pariser Lehrer gegeben haben; daß er sich der in ihrer Gesellschaft verlebten Jahre erinnern wird, der unermüdlichen Fürsorge, die sie sich um ihn gegeben, und der unermüdlichen Anstrengungen, denen sie sich mit ihm unterzogen haben.«

Hier sah Jack zu seiner sehr großen Verwunderung, daß der noch immer vor dem Feuer hockende Negerjunge seinen Krauskopf nach ihm hinwendete und die großen blauen Augen in einer Pantomime sehr energischer und wütender Verneinung in seinem Schädel rollte.

Wollte er damit sagen, daß Seine Königliche Hoheit sich im geringsten nicht auf die guten Lehren des Gymnasiums Moronval besänne, oder daß in seinem Herzen keine Erkenntlichkeit dafür wohnte?

Was konnte er davon wissen, dieser Sklave?

Nach dieser letzten Rede des Lehrers erklärte Fräulein Constant sich zur Zahlung, und zwar, wie es der Brauch war, zur vierteljährigen Vorauszahlung, bereit.

Moronval machte eine brillante Handbewegung, welche besagen sollte:

»Die Sache hat gar keine Eile!«

Die Sache eilte aber im Gegenteil ganz außerordentlich.

Im ganzen Hause schrie es nach Geld: die wackeligen Möbel, die in Staub zerfallenen Wände, die verschlissenen Stellen in den Teppichen, das schwarze, abgeschabte Gewand des Herrn Moronval, alles verkündete diesen Geldmangel in seiner Weise, alles schrie, daß es außerordentlich mit der Bezahlung eilte – und das glänzende und zerknüllte Kleid der kleinen Dame that diesen Schrei nach Geld nicht minder.

Was diesen Mangel an dem wichtigsten aber besser bewies als alles andere, das war die Eile, mit welcher beide Ehegatten aus dem anderen Wohnraum eine Liste herbeibrachten, ein prächtiges Kontobuch mit Schlössern daran, um den Namen, das Alter des neuen Zöglings und den Tag seines Eintritts im Gymnasium zu verzeichnen.

Während man diese ernsten und wichtigen Fragen in Ordnung brachte, blieb der Neger noch immer vor dem Herde hocken, vor welchem seine Gegenwart ganz und gar unnötig zu sein schien.

Der Kamin, der sich im ersten Augenblicke geweigert hatte, das kleinste Eichenholz zu verzehren, in der Weise etwa, wie ein durch Fasten abgesperrter Magen aller Speise den Zugang weigert, verschlang jetzt Kohlen mit rasender Gier und polterte in seinem ganzen Rauchfang mit einer hellen, roten Flamme, die bald neckisch züngelte, bald mächtig ächzte.

Der Negerjunge, der den Kopf zwischen die Fäuste gestemmt hielt, mit starren Augen, wie in Verzückung gesetzt, vorm Feuer kauerte, glich mit der schwarzen Hautfarbe, die sich auf diesem hellen Grunde besonders kräftig heraushob, irgend einer kleinen Teufels-Silhouette.

Er riß Mund und Augen weit auf in seiner Pantomime stummen Lachens. Es war als hätte er mit allen Poren seines Leibes die Wärme und das Licht einsaugen mögen, so gierig und ganz hüllte er sich ein in das Feuerstrahlen-Meer des Herdes, während draußen unter dem tief herniederhängenden gelben Himmel der Schnee in greller Weiße tanzte.

Jack war traurig.

Dieser Moronval sah gar böse aus, trotz der schmerzlichen Miene, die er aufgesetzt hatte.

Und dann kam sich das Kind in dieser wunderlichen Pensionsanstalt vor wie verirrt, wie verloren, als sei es von seiner Mutter noch weiter entfernt, als hätten diese aus allen Winkeln der Erde herbeigekommenen Zöglinge tiefe Traurigkeit, namenlose Vereinsamung, all die bange Unruhe, die in weiten Entfernungen liegt, mit hierher gebracht.

Gleichzeitig kehrten seine Gedanken zurück nach dem Colleg Vaugirard, das so heimlich gewesen war, in dem es so lieblich und leise geflüstert hatte, das so still und einsam gelegen gewesen war zwischen seinen schönen Bäumen, dem lauwarmen Treibhaus, wo die ganze Atmosphäre voll gewesen war von Süße und Anmut, von heiliger Ruhe, von der ihm die Hand des Vorstehers einen fühlbaren Eindruck gegeben hatte in dem Augenblick, als sie auf seinem Haupte gelegen.

O! warum war er denn nicht dort unten geblieben? ... Und als er sich hierauf besann, da sagte er sich, daß man ihn vielleicht auch hier nicht würde aufnehmen wollen.

Einen Augenblick hatte er hiervor Furcht.

Neben dem Tische standen, um das dicke Kontobuch geschart, Herr und Frau Moronval und Mamsell Constant; sie zischelten zusammen, während sie ihre Blicke auf ihn gerichtet hielten. Er erhaschte den und jenen Schlußsatz, das und jenes Augenzwinkern, das ihm galt. Die kleine Frau mit dem langen Kopfe sah ihn teilnahmsvoll an, und zweimal hörte Jack, wie sie gleich dem Priester murmelte: »Armes Kind!«

Also sie auch? – Was hatten sie denn alle für Ursache, ihn zu beklagen?

Dieses Mitleid war etwas Schreckliches – er fühlte es wie eine Zentnerlast auf seiner Seele lasten. Es fehlte wenig, so hätte er vor Scham geweint; denn in seinem kindlichen Gemüt setzte er dieses mit Geringschätzung gepaarte Mitleid auf irgend eine Eigentümlichkeit seines Anzuges, auf seine nackten Beine oder sein langes Haar.

Aber die Verzweiflung seiner Mutter war noch ganz besonders ein Umstand, welcher ihn bei einer etwaigen neuen Weigerung, ihn aufzunehmen, am allermeisten beunruhigte.

Plötzlich sah er Mamsell Constant die Schnur von ihrer Handtasche lösen, sah, wie sie Bankscheine und Louisd'ors auf den alten grünen, mit Tinte beklecksten Tisch aufzählte.

Ganz entschieden behielt man ihn hier.

Er empfand darüber eine ernstliche Freude, der arme Kleine, ohne daß er eine Ahnung davon hatte, daß in diesem Augenblicke sich das Unglück seines ganzen Lebens entschied, seines ganzen unheilvollen Lebens – daß es hier auf diesem unsaubern Tische für ihn, statt seiner, unterzeichnet wurde.

In diesem Augenblick erschallte in der Einsamkeit des Gartens eine gewaltige Baßstimme:

»Nonnen, die ihr ruht
Hier unter kalter Erde.«

Die Glasscheiben des Sprech- und Empfangszimmers zitterten nach, als ein dicker Mann von kurzer Gestalt, breitem, vierschrötigem Bau, mit schwarzem Samtfilz auf dem Kopfe, kahlgeschorenem Haar, schlecht verstutztem Bart, geräuschvoll die Thür aufriß.

»Feuer im Salon!« rief er mit komischer Verblüfftheit. »Ist das eine Verschwendung! Bu-huh! bu-huh! Wir haben also ein heißes Ländchen gefaßt? ... Bu-huh! bu-huh!«

Zufolge einer ihm inne wohnenden Sängerwut, und um in der Tiefe seines unterirdischen Klavicymbels das Vorhandensein eines tiefen C's zu konstatieren, auf welches er sehr stolz war und das ihm niemals Ruhe ließ, verschärfte der neugekommene Mann alle Sätze, welche er sprach, durch diesen Laut »bu-uh! bu-uh!« der eine Art von Gebrüll aus tiefer Höhle war und aus dem Erdboden heraufzusteigen schien nach jenen Räumen, wo er sich hörbar machte.

Als der Mann der fremden Dame, des Kindes und der aufgeschichteten Thalersäulen ansichtig wurde, gebot er seinem Wesen jähen Halt – das Wort saß ihm wie festgenagelt auf den Lippen. Das Entsetzen, die Freude, der Stumpfsinn – alle diese Zustände sah man im Kampfe stehen auf seinem Gesicht, dessen Muskeln nach diesen verschiedenen Ausdrücken gemodelt zu werden schienen.

Moronval wendete sich mit sehr wichtiger Miene zu der Kammerfrau herum:

»Herr Labassindre, Mitglied der Kaiserlichen Musik-Akademie! unser Gesanglehrer!«

Labassindre verneigte sich zwei-, dreimal vor der Dame, dann gab er, um sich eine schickliche Haltung zuzulegen, dem kleinen Neger einen Fußtritt, der ohne einen Mucks, den Kohleneimer mit sich nehmend, von der Bildfläche verschwand.

Die Thür ging von neuem auf, um zwei weitere Persönlichkeiten herein zu lassen.

Die eine von ihnen war erschrecklich häßlich, spielte schon stark ins Grau hinüber und hatte ein verschlagenes, bartloses Gesicht, auf den Augen saß eine Brille mit konvex geschliffenen Gläsern und bis zum Kinn stak er eng zugeknöpft in einem alten Frack, welcher auf seiner Rückseite die sämtlichen Spuren der ihm anhaftenden Ungeschicklichkeit eines Kurzsichtigen zeigte.

Dies war der Doktor Hirsch, an der Anstalt thätig als Professor der Mathematik und Naturwissenschaften.

Er strömte einen sehr kräftigen Alkali-Geruch aus, und seine Finger spielten, dank allerhand chemischen Hantierungen, die er verrichtete, in allen Farben: gelb, grün, blau und rot.

Die letzteingetretene Persönlichkeit stand zu diesem phantastischen Subjekt im merkwürdigen Gegensatz.

Ein ziemlich hübscher Bursche, mit peinlicher Sorgfalt gekleidet, in hellen Handschuhen, die Haare prätentiös nach hinten zurückgekämmt, gleichsam als wenn er beflissen sei, eine endlose Stirn noch zu vergrößern, zeigte sein Gesicht einen zerstreuten, geringschätzigen Blick; und sein starker, sehr kräftig gewichster Schnurrbart, sein breites, bleiches Gesicht gaben ihm das Aussehen eines kranken Musketiers.

Moronval stellte ihn vor als »unsern großen Dichter Amaury d'Argenton, Professor der Litteratur.«

Auch er erlitt angesichts der Goldstücke die nämliche Regung des Entsetzens, der Verblüfftheit, welche der Doktor Hirsch und der Sänger Labassindre gezeigt hatten ... Sein kaltes Auge wurde von einem Blitze durchzuckt, schloß sich aber sehr geschwind wieder nach einem umfassenden Rundblick, der von oben nach der Mutter und dem Kinde hernieder geworfen wurde.

Dann trat er zu den andren Professoren, die sich vor dem Kamin gruppiert hatten, und nachdem sie einander begrüßt hatten, sahen sie sich alle drei, ohne ein Wort zu sagen, mit verstörten und freudigen Mienen an.

Mamsell Constant fand, daß dieser d'Argenton eine sehr stolze Miene, ein sehr stolzes Wesen hatte; auf Jack machte er einen unsagbaren Eindruck von Abscheu, Widerwärtigkeit und Grausen.

Von allen diesen hier befindlichen Personen sollte das Kind Herzeleid erfahren, von diesem Manne aber noch weit mehr als von den andern. Es war beinahe, als wenn es eine Ahnung hiervon im Herzen getragen hätte. Sobald er nur den Fuß ins Zimmer setzte, hatte das Kind auch instinktivmäßig »den Feind« erraten, und jener harte Blick, der den seinigen gekreuzt hatte, war ihm eiskalt bis tief in sein innerstes Herz gedrungen.

O! wie oft, in allen Trübsalen seines Lebens, sollte er ihm begegnen, diesem Auge mit dem erloschenen Blau, das unter seinem schweren Lide verschlafen ruhte, und das in seinen wachen Momenten stahlhartes Gefunkel, einen undurchdringlichen Schimmerglanz zeigte. Man hat die Augen die Fenster der Seele genannt; diese Augen aber waren so wohlverschlossene Fenster, daß man Zweifel daran schöpfen konnte, ob hinter ihnen überhaupt eine Seele ruhte.

Als die Unterhaltung zwischen Mamsell Constant und Herrn und Frau Moronval zu Ende geführt war, näherte sich der Mulatte seinem neuen Zögling und sagte zu ihm, während er ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Wange gab:

»Aber, aber! mein junger Freund! Eine etwas fröhlichere Miene müssen wir schon hier bei uns machen, als Du sie zeigst!«

Wirklich war es Jack in dem Augenblick, als er Abschied von der Kammerfrau nahm, als wenn sich ihm die Augen mit Thränen füllten. Nicht als ob er für diese Frau eine große Teilnahme gefühlt hätte, aber sie war ein Bestandteil des Hauses, sie war alle Tage in der Nähe seiner Mutter, und die Trennung von ihr schien ihm nun endgültig, nachdem diese dicke Person ihn verlassen haben würde.

»Constant! Constant!« bat er sie wiederholt mit leiser Stimme, indes er sich ihr an die Röcke hing. – »Du wirst's doch der Mama sagen, daß sie mich besuchen soll.«

»Ja doch, ja doch! Sie wird schon kommen, Herr Jack ... aber weinen darfst Du nicht ...«

Das Kind fühlte starke Versuchung hierzu, bloß war es ihm, als ob alle diese Menschen hier ihn examinierten, als ob der Professor der Litteratur seinen ironischen und eiskalten Blick auf ihn heftete – und das war hinreichend für ihn, um seinen verzweiflungsvollen Schmerz tief in seinem Innersten zu verbergen.

Der Schnee fiel draußen mit Macht.

Moronval erlaubte sich den Vorschlag, einen Wagen holen zu lassen; aber das Faktotum erklärte zum großen Entsetzen aller in dem Zimmer Anwesenden, daß Augustin am Ausgange des Gäßchens mit der Equipage ihrer wartete.

Donner und Doria! eine Equipage!

»Was übrigens Augustin anbetrifft,« sagte sie, »so hat er mich mit einem Auftrage betraut ... Haben Sie nicht einen Schüler hier des Namens Saïd?«

»Jawohl ... jawohl ... stimmt ganz genau ... ein prächtiger Mensch ...« äußerte sich Moronval.

»Und eine Stimme von majestätischer Tiefe! Sie sollen ihn augenblicklich hören!« setzte Labassindre hinzu, während er sich aus dem Fenster herausbeugte, um Saïd mit Donnerstimme zur Stelle zu rufen.

Ein fürchterliches Gebrüll gab ihm Antwort, worauf flugs die Erscheinung des prächtigen Menschen folgte.

Man sah einen großen Schüler von schwarzbrauner Hautfarbe eintreten – dessen Uniformjacke, wie alle Jacken, die hier von den Schülern getragen wurden und samt und sonders Kleidungsstücke waren von unverwüstlicher Dauer auf Leibern, die unter Wachstum zu leiden hatten – zu eng und zu kurz war, gehalten von einer Schnur nach Art eines Kaftans, und dem schwarzbraunen Jüngling das Aussehen eines auf europäische Mode gekleideten Ägypters gab.

Was diesen Eindruck vervollständigte, war ein ziemlich regelmäßiges und volles Gesicht, dessen braune, bis zum Platzen straff gespannte Haut aber mit so viel filzigem Geiz vom Schöpfer über sein Gesicht verteilt worden zu sein schien, daß die Augen sich von selbst schlossen, wenn der Mund sich aufthat, und umgekehrt.

Dieser unglückliche junge Mensch mit der zu knapp geratenen Haut machte einem thatsächlich Lust, ihm einen Schnitt, einen Stich beizubringen, irgendwas mit ihm vorzunehmen, was ihm Erleichterung schaffen konnte.

Im übrigen besann er sich sehr gut auf den Kutscher Augustin, der bei seinen Eltern Lakai gewesen war und ihm alle seine Cigarrenstummel gab.

»Was wünschen Sie, durch mich an ihn bestellen zu lassen?« fragte Mamsell Constant mit dem liebenswürdigsten Wesen, dessen sie fähig war.

»Nichts,« antwortete einfach der Schüler Saïd.

»Und Ihren Eltern ... wie geht es ihnen? ... Haben Sie Nachricht von zu Hause?«

»Nein,« antwortete der Schüler Saïd.

»Sind sie nach Ägypten zurückgekehrt, wie es ihre Absicht war?«

»Weiß nicht ... niemals Brief bekommen ...«

Um die Wahrheit zu sagen, so war das Musterstück der Erziehungskunst Moronval-Decostère in den Erwiderungen, die er gab, nicht glücklich, und Jack machte sich, als er ihn reden hörte, Gedanken seltsamlicher Art.

Die durchaus herzlose Art und Weise, in welcher dieser junge Mensch von seinen Eltern sprach, im Verein mit dem, was Herr Moronval eben noch von dem Familienleben sagte, dessen die Mehrzahl seiner Zöglinge seit ihrer Kindheit beraubt gewesen, und für die er ihnen Ersatz zu schaffen den genialen Einfall hatte – verursachte ihm eine Empfindung unheimlicher Art.

Es schien ihm, als wenn er zu Waisenkindern gebracht würde, zu verlassenen, vergessenen Kindern, die ebenso verlassen, vergessen seien, wie er selbst – ganz so, als wenn er aus Timbuktu oder Otahaiti hierher käme ...

Mechanisch klammerte er sich an den Rock des abscheulichen Dienstmädchens, welches ihn hierher geführt hatte ...

»O! sag' ihr, daß sie mich besuchen soll! ... sag' ihr, daß sie mich besuchen soll!«

Und als die Thüre sich über dem Falbelbesatz des Faktotums wieder schloß, da ging ihm das Verständnis dafür auf, daß alles zu Ende sei – daß ein ganzes Stück seines Lebens, sein Leben eines verhätschelten, verzogenen Kindes, schon in die Vergangenheit getreten sei, und daß er solch glückliche Tage niemals, niemals wieder verleben würde! ...

Als er, gegen die Gartenthür gelehnt, stillschweigend zu weinen anfing, streckte sich eine Hand nach ihm aus mit etwas Schwarzem darin.

Es war der große Saïd, der, um ihm zu trösten, ihm Cigarrenstummel reichte.

»Nimm nur ... thu nur nicht so ... Ich hab ihrer einen ganzen Kasten voll ...« sagte der interessante Mensch, indem er, um sprechen zu können, die Augen schloß.

Jack, der durch seine Thränen lächelte, winkte ablehnend, daß er kein Verlangen nach Cigarrenstummeln habe – und der Zögling Saïd, dessen Beredsamkeit sehr enge Grenzen gezogen waren, blieb wie festgewurzelt vor ihm stehen, da er nicht wußte, was er sagen sollte. In diesem Augenblick trat Herr Moronval wieder in das Zimmer.

Er hatte Mamsell Constant nach dem Wagen zurück geleitet und kehrte, von achtungsvoller Nachsicht für den Kummer seines neuen Zöglings beseelt, in das Zimmer zurück.

Der Kutscher Augustin trug einen so wundervollen Pelz, das Pferd vor der Equipage war ihm so pompös erschienen, daß der kleine von Barancy sein Benefiz aus dem prächtigen Aussehen seiner Equipage zog. Es war eine sehr glückliche Fügung für ihn, denn Herr Moronval nahm für gewöhnlich, um das Heimweh seiner »heißen Länder« zu besänftigen, zu einer pfeifenden, züngelnden, schneidenden Methode, die ganz und gar nicht à la Decostère war, seine Zuflucht.

»Recht so,« sagte er zu dem Ägypter, »suche ihn zu zerstreuen ... Spielt ein bischen zusammen im Garten ... Zuvor aber geht wieder in den Saal zurück, wo es viel wärmer ist, als hier. Zum Besten des neueingetretenen Zöglings gebe ich bis morgen frei!«

Armer neuer Zögling!

In der großen, glasbedachten Rotunde, wo sich ein Dutzend von Mischlingen heulend und brüllend an den Turngeräten herum tollte, wurde er sogleich umringt und in den unverständlichsten Redensarten ausgefragt. Mit seinen blonden Locken, seinem schottischen Plaid, seinen nackten Beinen, wie er so unbeweglich und schüchtern dastand mitten unter der ungezügelten Geberdensprache all dieser kleinen, mageren und lebhaften »heißen Länder,« da sah er ganz so aus, wie ein eleganter kleiner Pariser, der sich in den Affen-Käfig im Jardin des Plantes verirrt hat.

Dieser Gedanke, welcher Moronval kam, erlustigte ihn außerordentlich; aber er wurde durch das Geräusch einer sehr lebhaften Unterhaltung, in welcher sich die »Bu-uh! Bu-uh!« Labassindre's und das feierliche Stimmchen von Madame Moronval zu einem fürchterlichen Wettkampfe vereinigten, aus seiner schweigsamen Herzensfröhlichkeit gerissen. Im Nu erriet er, um was es sich handelte, und tummelte sich, seiner Ehegattin zu Hilfe zu eilen, welche mit Heldenmut den »Vierteljahrs-Groschen« gegen die Anforderungen der Professoren verteidigte, denen die Schuldirektion ein beträchtliches Gehalt noch schuldig war.

Evariste Moronval, seines Zeichens Advokat und Litterat, war von Pointe-à-Pitre nach Paris geführt worden im Jahre 1848 und zwar als Sekretär eines Deputierten für Guadeloupe. Er war damals ein junger Schlingel gewesen von fünfundzwanzig Jahren, voller Ehrgeiz und Lebenslust, dem es weder an Schulkenntnis noch an Lebensschliff fehlte. Da er keinen Heller im Vermögen besaß, hatte er sich zur Annahme dieser abhängigen Stellung entschlossen, um sich der Fahrtkosten zu entschlagen und nach diesem schrecklichen Paris gelangen zu können, dessen Flamme so weithin durch das ganze Weltall brennt, daß sie sogar die Schmetterlinge aus den Kolonieen an sich lockt.

Kaum gelandet, ließ er seinen Deputierten sitzen, schloß ein paar Bekanntschaften und steuerte sein Lebensschiff in die beredte und geberdenreiche Politik hinein, in der Hoffnung, seine überseeischen Erfolge wieder zu finden. Er hatte aber seine Rechnung ohne das pariserische große Mundwerk und ohne diesen vermaledeiten kreolischen Accent gemacht, dessen er sich niemals ganz zu entschlagen vermochte, so sehr er auch Anstrengungen dazu machte.

Das erste mal, als er öffentlich sprach – machte er einen schmählichen Ausfall im Kampfe gegen diese »e'bä'mliche Ch'onikaste', die de' ganzen Litte'atu' nu' zu' Uneh'e wä'en;« und die ungeheure Lach-Salve, die seine Rede begrüßte, war dem armen »Eva'ïste Mo'onval« ein lehrhafter Wink für die unendliche Schwierigkeit, die es ihm bereiten würde, sich als Advokat einen Namen zu machen.

Er begnügte sich nunmehr mit schriftlicher Thätigkeit; merkte aber alsbald, daß es in keiner Weise leicht ist, in Paris ebensolche Berühmtheit wie in Pointe-à-Pitre zu erlangen.

Er war stolz im höchsten Maße, verwöhnt durch seine Kirchtums-Erfolge, dazu heftig, gewaltthätig, ohne jede Rücksicht gegen andere, und so wandelte er nach und nach durch verschiedene Zeitungen, konnte aber bei keiner zu dauerndem Halte gelangen.

Und nun begann für ihn jenes erschreckliche Leben tollen Hetzens unter schweren, drückenden, nagenden Entbehrungen, das den Menschen entweder auf der Stelle darniederschmettert oder fürs ganze Leben zu Stahl und Eisen wandelt. Er wurde einer von jenen zehntausend heißhungrigen und hochmütigen armen Teufeln, die, durch leeren Magen und ehrgeizige Träume ganz von Sinnen, allmorgendlich in Paris aus ihren Betten kriechen, auf der Gasse in kleinen Happen ein Sou-Brot verschlingen, das sie versteckt in der Tasche tragen, die schwarze Farbe ihrer Röcke mit einer Feder voll Tinte auffrischen und die weiße Farbe ihrer Hemdkragen mit Billardkreide wieder herstellen, die keine andre Möglichkeit sich im Winter aufzuwärmen kennen als die Wärmröhren der Kirchen und Bibliotheken.

Ihm wurde die ganze Skala der Demütigungen, des ganzen Jammers und Elends bekannt, sowohl die Beschneidung seines Kredits in der Garküche, als die Vorenthaltung des Schlüssels zu seinem möblierten Stübchen um die elfte Stunde der Nacht; sowohl das für nächtliches Wachen zu niedrig gebrannte Talglicht, als die wasserziehenden Schuhe.

Er wurde einer von jenen Professoren, die »in allem machen«, gleichviel was es auch sei, die das Pariser Straßenpflaster nutzlos und zwecklos abklopfen; er schrieb Broschüren, die sich mit dem Wohle der Menschheit befassen, fertigte für die Encyklopädieen Artikel zum halben Centime für die Zeile, verfaßte eine Geschichte des Mittelalters in zwei Bänden zu fünfundzwanzig Francs pro Band, fertigte Register und Abrisse, schrieb Akten ab und Theaterstücke für Spezial-Handlungen.

Er fand als Einpauker für Englisch in Schulen und Erziehungsanstalten Stellung, wurde aber zum Teufel gejagt, weil er die Schüler aus alter Kreolen-Gewohnheit geprügelt hatte. Dann bewarb er sich um eine Anstellung als Schreiber in der Morgue, scheiterte aber in seinen Bemühungen infolge Mangels an Konnexionen, wie auch infolge eines gewissen politischen Aktenstückes, das er veröffentlicht hatte.

Endlich nach drei Jahren eines derartigen grausigen Daseins, als er eine unberechenbare Zahl von schwarzen Rettichen und rohen Artischocken verspeist hatte, als er seine Illusionen verloren und sich den Magen verdorben hatte, verschaffte ihm der Zufall eine englische Unterrichtsstunde in einem Pensionat für junge Mädchen, das von drei Schwestern, Jungfrauen namens Decostère, gehalten wurde.

Die beiden ältesten dieser Damen hatten das vierte Lebens-Jahrzehnt bereits überschritten, die dritte vollendete eben das dritte. Von sehr minimaler Figur, sentimental angehaucht und allerhand Dünkel im Kopfe, war die Erfinderin der Methode Decostère sehr stark bedroht davon, gleich ihren Schwestern dem Cölibat für die Dauer des irdischen Lebens anheim zu fallen, als Moronval um ihre Hand anhielt und beifällige Aufnahme fand.

Nachdem sie den Bund ihrer Ehe geschlossen halten, lebten sie einige Zeitlang noch in dem Hause, wo sich das junge Paar dadurch nützlich machte, daß es Unterrichtsstunden gab. Moronval hatte aber aus der Zeit seines Jammerlebens die Gewohnheiten des Herumflanierens, die Kaffeehäuser u. s. w. zu besuchen, mit in die Ehe herübergenommen, und ein ganzer Schwarm von Zigeuner- und Bummler-Volk hing sich ihm an die Fersen, der nun über das friedsame und ehrenwerte Pensionat wie die Heuschrecken herfiel. Außerdem traktierte der Mulatte seine Schüler und Zöglinge, als wenn er eine Zuckerrohr-Plantage unter seiner Fuchtel gehabt hätte. Die altjüngferlichen Damen Decostère, die ihre jüngere Schwester abgöttisch liebten, wurden auf diese Weise gezwungen, das Ehepaar aus ihrem Hause zu entfernen, wobei sie es durch die Auszahlung einer Summe von einigen dreißigtausend Francs für ihre etwaigen Ansprüche entschädigten.

Was nun mit diesem Gelde anfangen?

Moronval hatte zuerst Lust, ein Journal oder eine Monatsschrift zu gründen; aber die Furcht, seinen Schatz zu zerbröckeln, trug in seinem Herzen den Sieg davon über die Wonne, sich durch die Presse zu verjüngen.

Was ihm vor allem not that, war die Ausfindigmachung eines Mittels, seinen Reichtum zu mehren, und auf der Suche hiernach geschah es eines Tages, daß ihm eine geniale Idee kam.

Er wußte, daß man die Kinder aus den fernsten Ländern nach Paris schickt, sie dort erziehen zu lassen. Es kommen ihrer her aus Persien, aus Japan, aus Hindostan, aus Neu-Guinea. Sie werden Schiffskapitänen oder Handelsleuten anvertraut, die dann für diese Kinder, solange der Aufenthalt derselben in Paris dauert, eine Art von Pflegschaft oder Vormundschaft übernehmen.

Da diese ganze kleine Welt gemeinhin mit Geld wohlversehen und in der Art, wie man Geld anwendet, ziemlich grün ist, leuchtete Moronval alsbald ein, daß sich ihm hier ein Bergwerk darbot, dessen Ausschachtung mit geringer Mühe sich bewerkstelligen ließ. Außerdem konnte das System von Madame Moronval-Decostère in durchaus vollkommner Weise Verwendung zur Verbesserung aller möglichen fremdländischen Aussprache-Weise und aller Sprach-Gebrechen finden. Der Mulatte zog einige Verbindungen zu Rate, die ihm in den Kolonieen zu dortigen Zeitungen geblieben waren, und gab eine erstaunliche, in mehreren Sprachen abgefaßte Reklame zum Abdruck, die auch in den Marseiller, wie in den zu Havre herauskommenden Blättern zwischen den Namen der zur Abfahrt bereit liegenden Schiffe und zwischen den Mitteilungen und Berichten des »Büreau Veritas« wieder abgedruckt wurde.

Schon im ersten Jahre stiegen zu Batignolles in dem kleinen Appartement Moronval, das bald zu eng für sein Geschäft wurde, der Neffe des Sultans von Sansibar ab und einige herrliche schwarze Schlingel von der Zahn- und von der Pfefferküste. Nun machte er sich auf die Suche nach einer auskömmlichen Lokalität, und von dem Gesichtspunkte geleitet, Sparsamkeit walten zu lassen und zu gleicher Zeit den Erfordernissen seiner neuen Stellung Rechnung zu tragen, mietete er in jenem abscheulichen »Zwölfhäuser-Gäßchen«, das den Vorzug eines so schönen Gitterthors nach der Avenue Montaigne hinaus besaß, jene von einer Pferde- und Reitschulen-Photographie innegehabte Baulichkeit, die vor kurzem erst in Konkurs geraten war, weil sich die Pferde immer dagegen gesträubt hatten, ihre Hufe in diese Kloake hinein zu setzen.

Man konnte dem neuen Pensionat den Vorwurf machen, daß es überschüssigen Reichtum an Glas- und Fensterscheiben besitze, der Aufenthalt hier war ja aber nur ein Interimistikum, denn die Photographen hatten in Moronval die Hoffnung erweckt, daß für den Durchbruch einer in der Einbildung vorhandenen Straße in diesem von soviel unvollendet gebliebenen Wegen und Straßen schon überreich durchschnittenen Stadtviertel eine demnächstige Zwangs-Enteignung zu erwarten stünde.

Ein Boulevard sollte hier hindurchführen; der Plan dazu läge schon in den städtischen Bau-Kanzleien, und nun sieht man leicht, welche Störung und welchen Wirrwarr diese in der Ferne winkende Miets- und Umzugs-Entschädigung in die Moronval'sche Einrichtung bringen mußte. Der Schlafsaal würde naß sein, die Temperatur im Erholungs- und Spielraum würde sich auf Treibhaushitze stellen. Aber das hatte ja alles nichts zu sagen. Es handelte sich einzig und allein darum, einen recht langen Pachtvertrag zu unterzeichnen, über die Thüre ein großes goldenes Geschäftsschild auszuhängen und dann zu warten.

Wieviel Pariser haben nicht innerhalb dieser drei Jahrzehnte ihre Kräfte, ihr Leben, ihr Vermögen in solchem Erwartungsfieber vergeudet! Moronval's bemächtigte es sich in einem wachsenden Grade. Die Erziehung und Bildung seiner Zöglinge, ihr Wohlergehen, war von nun ab die geringste der Sorgen, die ihn erfüllten.

Wenn er um Wandel, um Besserung dieser Zustände dringlich angegangen wurde, antwortete er immer: »Das wird sich ja ohnehin alles bald ändern,« oder auch: »Wir bleiben ja höchstens noch acht Wochen hier.«

Und auf die gewaltige Summe hin, welche durch diese Expropriierung in Aussicht stand, wurden die phantasievollsten Projekte aufgebaut. Sein Geschäft mit den »kleinen heißen Ländern« sollte in viel größerem Maßstabe weitergeführt werden – er gedachte es zu einem großartigen Werke von civilisatorischer Bedeutung, von allgemeinem Nutzen und Segen auszugestalten.

Unterdes vernachlässigte er sein Gymnasium, erschöpfte sich und rieb sich in unnützen Laufereien auf und fragte jedesmal, wenn er den Fuß wieder in seine Anstalt setzte:

»Nun? Was zu hö'en gewesen von de' Exp'op'iation?«

Nichts. Niemals etwas! –

Worauf wurde denn bloß noch von diesen Menschen gewartet?

Bald ging ihm nun das Verständnis auf, daß er an der Nase geführt worden war; und bei diesem heftigen und doch schwachen indolenten Kreolen-Naturell artete die Entmutigung rasch in Gemeinheit aus. Die Zöglinge wurden nicht einmal mehr überwacht. Wenn sie sich nur recht frühzeitig zu Bett begaben, damit möglichst wenig Holz und Beleuchtung draufginge, sonst kümmerte man sich im geringsten nicht um sie.

Das Tagewerk der Kinder verteilte sich in Klassenstunden, für die es keine bestimmten Anordnungen gab, die sich vielmehr nur nach den Launen des Anstaltsvorstehers richteten; auch wurden sie im persönlichen Nutzen und Interesse desselben mit allerhand Kommissionen in Anspruch genommen.

In der ersten Zeit des Bestandes der Anstalt wurden von den größeren Schülern die Kollegstunden in einem Lyceum besucht. Die Ausgabe wurde aber bald vom Etat gestrichen und nur auf dem Vierteljahrskonto zu Lasten der Schüler weitergeführt. Würden denn nicht angestellte Privat- oder Speziallehrer weit besser imstande sein, diesen althergebrachten Schlendrian des Universitäts-Unterrichts zu ersetzen? Von diesem Gesichtspunkte geleitet, rief Moronval seine alten Kaffeehaus-Bekanntschaften zu sich heran, zu welchen ein Mediziner gehörte, der des Diploms ermangelte, ein Dichter, der keinen Verleger gefunden, ein Sänger, dem es an Engagement fehlte, samt und sonders ausgebeutelte Subjekte, ausgequetschte Citronen, vertrocknete Früchte, die gleich ihm gegen die menschliche Gesellschaft wetterten, weil sie von ihren Talenten nichts hören mochte.

Haben Sie wohl schon bemerkt, wie sich die Leute dieses Schlages in Paris einander suchen und wie sie einander anziehen? wie sie sich zusammenscharen und dabei sich gegenseitig immer mit ihren Lagen, ihren Bedrängnissen und Bedürfnissen, ihren müßigen und unfruchtbaren Dünkelhaftigkeiten in den Ohren liegen? In Wirklichkeit von einer auf Gegenseitigkeit der Empfindungen beruhenden Verachtung erfüllt, bilden sie sich selbst eine beifällige, von Bewunderung erfüllte Galerie, über deren Rahmen hinaus es für sie nichts mehr giebt, als das große leere Nichts.

Urteile man nun, welcher Art die Unterrichtsstunden sein mußten von solchen Lehrern, die kaum einen Franc Salär erhielten, die während des Unterrichts kaum etwas andres thaten, als daß sie sich, mit der Pfeife im Munde, zusammen zu einem Glase Bockbier setzten und einen »Hecht« in die Schulstube qualmten, so dicht, daß man in Bälde kaum mehr sich selbst darin sehen, noch auch nur ein gesprochenes Wort verstehen konnte. Man führte indes sehr laute Gespräche, riß sich die Worte förmlich vom Munde weg; erschöpfte das bischen von Gedanken, das man noch hatte, bis ins Unglaubliche durch Erörterungen, die in einem ganz besonderen Wortschatze geführt wurden, in welchen die Kunst, die Litteratur abgepeitscht nach allen Richtungen, verunstaltet, zerfetzt und zerrissen wurden in der Weise etwa, wie Stoffe zerfallen, wenn sie der Einwirkung zu scharfer Säuren ausgesetzt werden.

Madame Moronval war die einzige Person in der ganzen Anstalt, welche sich die Überlieferungen des Pensionats Decostère bewahrt hatte und ihre Aufgabe und Stellung ernst nahm. Die viele Flickarbeit aber, der sie sich unterziehen mußte, die Küchenarbeiten, die Sorge für dieses große, in Zerfall geratene Gebäude mit all seinem Zubehör nahmen ihre Zeit zu einem reichlichen Teile in Anspruch.

Es war zum mindesten doch eben notwendig, daß die Anstalts-Uniform imstande gehalten wurde, denn die Zöglinge waren außerordentlich stolz auf ihre Jacken, die ohne alle Unterscheidung bis zum Ellbogen hinauf mit Tressen besetzt waren. Im Gymnasium Moronval gab es, wie in gewissen Armeen Süd-Amerikas, nur Sergeanten, und in diesem Umstande lag eine sehr geringe Entschädigung für die traurigen Empfindungen, die das Exil in den Herzen wachrief, für die schlechte Behandlung, die ihnen der Lehrer und Meister angedeihen ließ.

Scherze machte der Mulatte wahrlich nicht! auch spaßen ließ er nicht mit sich! In den ersten Tagen des Vierteljahrs, wenn die Kasse sich füllte, sah man ihn dann und wann einmal noch lachen; die übrige Zeit aber kühlte er gern sein Mütchen an diesen Leibern dafür, daß in seinen Adern Negerblut rann. Seine Gewaltthätigkeit vollendete, was seine Faulheit angefangen hatte.

Es gerieten in Bälde etwelche Pflege-Väter, Vormünder-Reeder, Konsuln in Erregung und Unruhe über diese unvollkommene Erziehung, welche im Gymnasium Moronval den Zöglingen zu teil wurde. Man nahm mehrere Kinder von der Anstalt fort. Ihrer fünfzehn waren es gewesen, die »kleinen heißen Länder,« und es blieben ihrer nur noch acht übrig. »Beschränkte Eleven-Zahl,« hieß es in dem Prospekte. Und diese Phrase war die einzige Wahrheit, die dieser Prospektus enthielt.

Eine düstere Traurigkeit senkte sich über das große, entblößte Anstaltsgebäude. Sogar die Drohung mit Zwangsvollstreckung und Pfändung schwebte über ihm – als mit einem male der kleine Jack unter dem Geleit von Mamsell Constant hineinschneite.

Gewiß war's kein Vermögen, diese im voraus erlegte Vierteljahrs-Rate des Pensions-Geldes! Aber Herr Moronval hatte den ganzen Vorteil begriffen, welcher sich aus der Lage dieses neuen Zöglings ziehen ließ, und aus dieser wunderlichen »Frau Mama,« die er schon erriet, ohne daß er sie noch kannte.

Darum bildete dieser Tag eine kurze Pause in der Strenge, die der Mulatte übte, und in dem Zorne, der ihn beseelte. Es fand zu Ehren des neuen Schülers ein großes Festessen statt, welchem sämtliche Professoren beiwohnten; und die »heißen kleinen Länder« bekamen auch einen Tropfen Wein zu kosten – was ihnen seit gar langer Zeit schon nicht mehr passiert war.

Und die »kleinen heißen Länder« – was wurde inmitten eines solchen Durcheinanders aus ihnen?


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