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Fünftes Kapitel.
Die Folgen eines Leseabends im Moronval'schen Gymnasium.

Am folgenden Tage erhielten Herr und Frau Moronval für den künftigen Montag von Frau von Barancy eine Einladung. Am Fuße des Briefchens war ein kleines Postscriptum angefügt, welches dem Vergnügen Ausdruck gab, das man empfinden würde, wenn Herr von Argenton die Güte haben sollte, sich zu ihnen zu gesellen.

»Ich gehe nicht ...« sagte der Poet trocken, als Moronval ihm das kokette, parfümierte Briefchen übermittelte.

Da geriet der Mulatte in Zorn. Das war ja erbärmlich, wie sich d'Argenton benahm! ein Streich, ganz eines schlechten Kameraden würdig! In welcher Hinsicht konnte es ihm denn beschwerlich sein, diese Einladung anzunehmen?

»Ich esse bei solchem Schlage von Frauenzimmern nicht zu Mittag.«

»Zuvörderst,« sagte Moronval, »ist Frau von Barancy nicht, was Du zu sein glaubst. Und dann bringt man doch für einen Freund auch ein paar Bedenken zum Opfer. Du weißt, daß ich der Gräfin notwendig bedarf, daß ihr der Gedanke meiner Kolonial-Revue gefallen hat; und Du nun thust, was in Deinen Kräften steht, um die Sache in schlechtes Fahrwasser zu lenken. Das ist nicht nett von Dir.«

d'Argenton nahm schließlich, nachdem er sich recht sehr hatte quälen lassen, die Einladung an.

Am nächstfolgenden Montag begaben sich Herr und Frau Moronval, nachdem sie ihr Institut unter die Obhut des Doktors Hirsch gestellt hatten, nach dem kleinen Hotel auf dem Boulevard Haußmann, woselbst sich der Poet zu ihnen gesellen sollte.

Das Diner war auf sieben Uhr bestimmt. d'Argenton kam erst um halb acht, und man kann sich wohl denken, daß es Moronval während dieser halben Stunde nicht möglich wurde, von seinem großen Projekte zu reden.

Ida war von einer so schrecklichen Unruhe heimgesucht.

»Glauben Sie, daß er kommen wird? ... Wenn er nur nicht gar krank ist ... Er hat eine gar so zarte Farbe.«

Endlich kam er, zu ihrem Unglück kam er – geschniegelt und gebügelt – entschuldigte sich leichthin mit seinen vielen Beschäftigungen, mit all dem Kram, der durch seine Hände gehen müsse, zeigte sich immerhin noch sehr reserviert, aber doch minder hochnäsig als es sonst seine Gewohnheit war.

Das Hotel hatte seinen Eindruck auf ihn nicht verfehlt.

Das damals funkelnagelneue Stadtviertel, dieser Luxus an Teppichen und Blumen, der auf der mit grünen Gewächsen geschmückten Treppe seinen Anfang nahm, um in dem kleinen, mit weißem Flieder parfümierten Boudoir zu endigen, der blaue, mit Goldleisten gesäumte Himmel dieses Zahnbrecher-Salons, das schwarze, gelbseiden gepolsterte Mobiliar und der Balkon, wo der Boulevard-Staub in Beimischung mit dem Gipse der Neubauten herumschwirrte – das waren alles Dinge, welche diesen Stammgast des Gymnasiums Moronval über die Maßen entzücken, ihm einen Eindruck von üppigem und vornehmem Leben erwecken mußten.

Der Anblick der gedeckten Tafel, der imposante Habitus Augustins, des Sonnenanbeters, und alle jene minutiösen Eigentümlichkeiten des Tafeldienstes, welche den schlechten Weinen fröhliche Reflexe und den gewöhnlichsten Speisen und Gängen Wohlgeschmack verliehen, vollendeten sein Entzücken. Ohne weder so erstaunt noch so bewunderungsvoll zu sein wie Moronval, welcher Ausrufungen über Ausrufungen ausstieß und den eitlen Neigungen der Gräfin mit Frechheit schmeichelte, schliff sich d'Argenton, der unbestechliche, vor jeglicher Verderbnis sich ängstlich hütende d'Argenton langsam, ganz allmählich ab und geruhte schließlich, zu lächeln und zu sprechen.

Er war ein Schwätzer ohne Boden, ohne Ende, vorausgesetzt nur, daß von ihm die Rede war, und daß man ihn in dem angefangenen Satze niemals unterbrach; denn seine launenhafte Einbildungskraft war sehr leicht aus dem Sattel zu heben. Es folgte hieraus, daß dem Tone seiner Stimme ein sententiöser Klang anhaftete, der sich bei den schwächsten Behauptungen, die aus seinem Munde kamen, befehlshaberisch, soldatisch, jeden Widerspruch abschneidend anhörte. Hierzu kam in weiterer Folge eine gewisse Eintönigkeit der Stimme, die sich durch das ewige »Ich ... ich« – »Ich ... ich,« womit er jeden seiner Sätze anfing, zur Abscheulichkeit steigerte. Die Hauptsache war ihm, daß er seine Zuhörer unter der Fuchtel hielt, daß seinen Worten unbedingtes Gehör gezollt wurde.

Unglücklicherweise war nun die Fähigkeit des Zuhörens keine Tugend, die man bei der Gräfin suchen mußte; und dieser Umstand führte während des Diners zu einigen verdrießlichen Zwischenfällen. D'Argenton liebte es vor allem, diejenigen Worte zu wiederholen, welche er in gewissen Zirkeln gesprochen, an bekannte Persönlichkeiten, Zeitungs-Redakteure, Verleger, Theater-Direktoren, die seine Stücke niemals annahmen, weder seine Poesie noch seine Prosa jemals drucken wollten, gerichtet hatte. Es waren dies schreckliche Worte, mit Widerhaken besetzte, mit Gift durchtränkte Worte – Worte, die auf die Seele brannten, die den Bissen im Halse stecken ließen.

Im Gespräch mit Frau von Barancy war er aber niemals imstande, zu solchen berühmten Worten zu gelangen, denen zum weitaus größten Teile immer eine sehr langatmige Auseinandersetzung und Erklärung voraufzugehen schien. Sobald er an den pathetischen Teil der Geschichte gelangte und mit seiner Stimme feierlichem Klange anhub: »Und da sprach ich nun jenes grausame Wort ...« da schnellte just immer in diesem selben Augenblicke die unglückselige Ida, die ja freilich immer nur mit ihm beschäftigt war, in Gedanken immer nur bei ihm weilte, leider aber in einer für die Unterhaltung höchst verhängnisvollen Weise die Rede mitten zwischen seinen Satz hinein:

»O! Herr d'Argenton, bitte, bitte! nehmen Sie doch noch einmal hier von diesem Eis ...«

»Danke, meine Gnädige!«

Und der Poet sprach zum andern male, indem er die Brauen runzelte, und mit verdoppeltem Nachdruck:

»Und da habe ich ...«

»Finden Sie das Eis nicht vortrefflich?« fragte sein Gegenüber harmlos und unbefangen.

»Ganz ausgezeichnet ... Und da habe ich denn dieses grausame Wort ...«

Aber das so lange verschleppte grausame Wort übte nun keinen Effekt mehr, um so weniger keinen Effekt mehr als es am häufigsten Redensarten waren wie: »Wem die Jacke paßt, der mag sie sich anziehen!« oder: »Bei Philippi sehen wir uns wieder, mein Musje!« Welchen Redensarten der Herr d' Argenton niemals die Worte hinzuzusetzen vergaß: »O! und das hat ihn gewurmt!«

Über dem gestrengen Blicke, welchen der in seinem Redeflusse gestörte Poet ihr zuwarf, geriet Ida ganz außer sich ... »Was ist ihm bloß? ... Ich habe ihm wohl schon wieder mißfallen.«

Zweimal oder dreimal kam ihr während des Diners die größte Lust an zum Weinen; und soweit ihr dies möglich war, versteckte sie diese Empfindung hinter Worten, die sie dann auf die liebenswürdigste Weise an Frau Moronval richtete: »Aber so essen Sie doch! Ach, Sie essen ja gar nichts!« und zu Herrn Moronval: »Aber warum trinken Sie denn gar nicht!« Was übrigens ganz erschreckliche Lügen waren, denn die Erfinderin der Methode Decostère ließ ihre Kauwerkzeuge noch weit energischer funktionieren als sie an den Leseabenden mit deutlichem, ausdrucksvollem Vorlesen ihre Lippen zu rühren pflegte; und ihre kräftige Art der Appetitsstillung fand ihresgleichen nur noch in dem schier unersättlichen Durste ihres Ehegesponses, des Herrn Moronval.

Als das Diner beendigt war, und man sich in den Salon begeben hatte, der tüchtig geheizt und brillant beleuchtet war, wo auch der Kaffee einen einladenden Duft verbreitete, da erachtete der Mulatte, welcher seiner Beute nun volle zwei Stunden lang auflauerte, den günstigen Augenblick für gekommen und sagte plötzlich mit vornehmer Nonchalance zu der Gräfin:

»Ich habe mich in Gedanken viel mit unserer geschäftlichen Angelegenheit beschäftigt ... Die Sache wird bei weitem weniger Geld erfordern, als ich vorher angenommen habe.«

»Ach!« machte sie mit zerstreuter Miene.

»Du meine Güte, freilich! ... Und wenn unsre schöne Direktrice geruhen wollte, mir einige Augenblicke ein ernstes Ohr zu schenken ...«

»Direktrice« war ein kühner Wurf, ein Fund seines Genius, der aber zum bloßen Schlag ins Wasser wurde, weil die »Di'ekt'ice«, wie Moronval das Wort aussprach, nicht gehört und – nicht begriffen wurde. Ihr Auge folgte ihrem Dichter, der schweigsam, ganz in Gedanken, den Salon des Langen und Breiten durchschritt.

»Wo weilen seine Träume?« sprach sie zu sich.

Er verdaute.

Da er nämlich an einem leichten Magenkatarrh litt und um seine Gesundheit immer äußerst besorgt war, versäumte er niemals, wenn er vom Tische aufstand, eine Viertelstunde auf und ab zu wandeln, mit großen Schritten, ohne Rücksicht darauf, wo er sich befand. Überall anderswo konnte das nur einen höchst lächerlichen Eindruck machen; hier aber wirkte es als ein erhabener Zug seines Wesens mehr – und anstatt auf Moronval zu hören, wandte Ida keinen Blick von dieser in strenge Falten gezogenen, tief zur Erde gesenkten Stirne des bald im Hintergrunde, in düsteren Schatten, bald im Bereiche des Lampenlichtes wandelnden Mannes.

Zum ersten mal in ihrem Leben liebte sie wirklich, leidenschaftlich, und fühlte jene vollen Schläge ihres Herzens, mit denen nichts anderes irgendwelche Ähnlichkeit besitzt. Bislang hatte sie sich immer dem Zufall ihrer Lebensweise, der Grille ihrer Eitelkeit überlassen; und die Verhältnisse von längerer oder kürzerer Dauer, welche sie ins Joch gezwängt hatten, waren geknüpft und gelöst worden, ohne daß ihr Wille dabei irgend etwas zu thun gehabt hatte.

Sattsam dumm und unwissend, von leichtgläubigem und romantisch angehauchtem Geiste, dicht an der Grenze jener verhängnisvollen Dreißiger, welche bei den Frauen immer das Datum irgendwelcher Wandlung bildet, nahm sie jetzt ihre Zuflucht zu allen Romanen, die sie gelesen hatte, um sich ein Ideal zu schaffen, welches in Ähnlichkeit mit d'Argenton stand. Ihr Gesichtsausdruck nahm eine so vollständig andere Gestalt an, wenn sie im Anschauen seiner Figur versunken war, ihre lustigen Augen zeigten eine so tiefe, so rührende Zärtlichkeit, und ihr Lächeln wurde so schmachtend und schmelzend, daß ihre Liebe für keinen Menschen mehr ein Geheimnis sein konnte.

Moronval zuckte, als er sie so versunken und eingeschüchtert sitzen sah, seiner Frau mit den Achseln zu – auf unmerkliche Art – was ihr aber deutlich besagte:

»Das Frauenzimmer ist verrückt!«

Sie war es auch wirklich, und nachdem das Diner vorbei war, quälte sie ihren Geist ab, ein Mittel ausfindig zu machen, das ihr den Weg zu seiner Gnade erschlösse. Endlich hatte sie gefunden, was sie suchte; und als der Dichter jetzt auf seinem an einen im Käfig eingesperrten Panther erinnernden Wandelgange dicht in ihre Nähe kam, da sagte sie:

»Ach, wenn doch Herr d'Argenton so liebenswürdig sein möchte, uns jenes schöne Gedicht vorzutragen, das neulich abends im Gymnasium Moronval eine so schöne Wirkung erzielte ... Ich habe es die ganze Woche über nicht aus den Gedanken bekommen ... Besonders eine Zeile aus ihm verfolgt mich Tag und Nacht ... Ich – ich ... wie hieß es doch gleich? ... Ach! ...«

»Ich glaube an die Liebe, wie an den lieben Gott!«

»An Gott!« wiederholte der Dichter mit einer Grimasse so gräßlich, als sei ihm der Finger zwischen eine Thür gequetscht worden.

Die Gräfin, die in der Prosodie nicht sehr bewandert war, begriff nur eins, nämlich: daß sie abermals sein Mißfallen erweckt hatte. Die Sache war eben die, daß er jenen verdummenden, vernichtenden Eindruck auf sie zu machen anfing, dessen sie sich niemals gänzlich erwehren konnte, und der ihrer Liebe Ähnlichkeit mit jenem platten, schreckhaften Kultus ließ, welchen die Japanesen ihren wilden und grausamen Götzenbildern mit den Beilstein-Augen widmen.

Im Umgang mit Argenton, und besonders, wenn sie ihm gegenüber saß, zeigte sie sich noch erheblich dümmer, als sie von Natur aus war, und ging sogar jenes lebendigen Liebreizes als lustig flatterndes Vögelchen, jenes unvermuteten Kapriolenschießens im Gedankengange und in der Rede verlustig, womit ihr beschränkter Verstand durch eine beständige Mannigfaltigkeit zu gefallen im stande sein konnte.

Indes geruhte der Götze, sich umgänglicher, menschenfähiger zu gestalten; und um der gnädigen Frau von Barancy den Beweis dafür zu erbringen, daß er ihr keinen Groll nachtrüge deshalb, weil sie seinen Vers verstümmelt hatte, geruhte d'Argenton, seine gesundheitsförderliche Leibesübung jetzt auszusetzen.

»Ich habe gar keinen anderen Wunsch, als Ihnen etwas vorzutragen ... Aber was? Ich habe tatsächlich keine Ahnung ... ich weiß absolut nichts.«

Er wandte sich mit jener bei allen Poeten beliebten Gebärde – die ja gemeinhin bloß in der festen Absicht um Rat fragen, ihn nicht zu befolgen – an Moronval mit der Frage:

»Was meinen denn Sie, daß ich hersagen soll?«

»Nun!« gab der Andre in mürrischem Tone zur Antwort, »da man Dich doch um das Credo angeht, so sprich doch das Credo.«

»Wirklich! ... Ist das Ihr Wunsch?«

»Ach ja, mein Herr,« sagte die Gräfin, »Sie werden mich dadurch sehr, sehr glücklich machen!«

»Nun, los denn!« sagte d'Argenton in sehr natürlicher Rede – und nachdem er sich eine schickliche Positur gegeben, den Blick nach oben erhoben hatte, suchte er eine Minute nach dem Anfange und begann dann also:

» An Eine, die mir weh gethan …

Als er die erstaunte Miene gewahrte, mit welcher Ida, die etwas andres erwartet hatte, seinem Anfange lauschte, wiederholte er mit noch feierlicherer Miene:

» An Eine, die mir weh gethan …

Die Gräfin und Moronval tauschten einen vielsagenden Blick aus. Ohne Zweifel war jetzt die Rede von der in Frage stehenden vornehmen Dame.

Das Stück begann in sehr zahmer Tonart, nach Art einer weltlichen Epistel:

» Sie tragen, gnäd'ge Frau, ein köstliches Kostüm

Darauf aber verdüsterte sich der Ideengang, ging von der Ironie zur Bitternis über, von der Bitternis zum Ingrimme und nahm seinen Abschluß in den folgenden schrecklichen Versen:

» O Herr! erlöst mich von diesem grausen Weibe!
Das alles Blut mir aus dem Herzen saugt

Gleich als wenn diese seltsame Poesie schmerzliche Erinnerungen in ihm aufgerührt hätte, that d'Argenton den ganzen Abend so, als sei er nicht mehr imstande, ein einziges Wort zu sprechen. Die arme Ida war nicht minder nachdenklich und träumerisch. Sie weilte in Gedanken bei jener großen Dame, die ihrem Dichter soviel Herzeleid zugefügt hatte, und die ganze Zeit hindurch sah sie ihn auf hoher Warte, in irgend einem aristokratischen Salon des Faubourgs Saint-Germain, allwo Vampyre in weiblicher Menschengestalt ihm all sein Herzblut aussogen, ohne einen einzigen Tropfen davon für sie übrig zu lassen ...

»Du weißt, mein Junge,« sagte Moronval, während er untergefaßt mit d'Argenton über wüste Boulevards hinschritt und so weite Schritte nahm, daß die kleine Madame Moronval ihnen kaum zu folgen vermochte – »Du weißt doch, wenn ich mein Journal habe, dann mache ich Dich zum Chef-Redakteur.«

Er warf also die Hälfte der Schiffsladung über Bord, in dem Bestreben das Schiff zu retten; denn er sah recht wohl ein, daß, wenn d'Argenton sich nicht in die Sache hineinmischte, es nicht möglich war, der Gräfin andere als grund- und haltlose, nichtsbedeutende Redensarten, Versprechen, die weder Hand noch Fuß hatten, zu entlocken.

Der Dichter gab Moronval keine Antwort. Seine Gedanken waren gerade bei dem Journal seines biedermännischen Kollegen. Ha! ha! ha!

Diese Frau störte ihn, brachte ihn gewissermaßen aus dem Konzepte. Man übt den Beruf eines lyrischen Märtyrer-Dichters der Liebe nicht aus, ohne daß man von jenen Empfindungen stummer Bewunderung in Beschlag genommen wird, welche der menschlichen Eigenliebe gleichzeitig nach zwei Richtungen hin frönen: derjenigen Eigenliebe nämlich, welche dem Litteraten, und derjenigen, welche dem Glücksritter anzugehören pflegt. Vor allem, seitdem er Ida in dem galanten, freilich ein wenig, ganz so, wie sie ja selbst auch war, vulgären, dafür aber um so behaglichern und wohligern Luxus ihrer Umgebung gesehen hatte, fühlte er sein Herz und seinen Geist von einem Schmachten und Sehnen nach Verliebtenweise erfüllt, ohne daß er sich indes über die nähere Natur dieser Empfindung zunächst klar werden konnte, so sehr auch die Starrheit seiner Grundsätze durch sie gelockert wurde.

Amaury d'Argenton gehörte einer jener uralten provenzalischen Familien an, deren Schlösser Ähnlichkeit mit großen Pachthöfen aufweisen, wenn auch der Anblick, den sie bieten, minder reich und üppig ist. Seit drei Menschengeschlechtern ruiniert, hatten die d'Argentons, nachdem sie zwischen jenen alten Mauern jegliche Art von Entbehrung und Not beherbergt, ein richtiges Bauernleben als adelige Jäger und Landleute geführt hatten, dieses einzige Besitztum verkaufen, aus dem Lande gehen und ihr Glück in Paris suchen müssen.

Seitdem waren sie so tief ins Elend und in geschäftliches Pech hineingeraten, daß sie es schon seit mehr als dreißig Jahren unterlassen hatten, das Adelsprädikat vor ihren Namen zu setzen. Amaury holte dasselbe wieder aus der Rumpelkammer hervor, als er sich in die Litteratur stürzte, und führte wieder jenen Vicomte-Titel, auf welchen er ein Anrecht besaß. Er hoffte, ihm zu Glanz und Ruhm zu verhelfen, und in dem Feuer des Ehrgeizes, das Krämerseelen befällt, sprach er die frohen Worte: »Ich will, daß man eines Tages vom Vicomte d'Argenton nicht anders spricht, wie man vom Vicomte de Chateaubriand spricht!«

»Und vom Vicomte d'Arlincourt, ...« antwortete Labassindre, der in seiner Eigenschaft als ehemaliger Arbeitsmann, der dann Jäger geworden, die Gräfin aus tiefstem Herzen verabscheute.

Der Dichter hatte eine unglückliche, armselige Kindheit verlebt, ohne Fröhlichkeit und ohne Licht. Von Ängsten und Thränen umgeben, eine Beute von jenen Geldsorgen, welche die Kinder so rasch zum Welken bringen, hatte er niemals weder gespielt noch gelacht. Eine Freistelle im »College Ludwig der Große«, die ihm allerdings das Studium, das er mutig bis zu Ende führte, erleichterte, gab diesem armseligen Dasein eine Art chronischen Charakters. Die einzige Zerstreuung, die er sich gönnen durfte, war, daß er seine Ferien und die Tage, an welchen dem Schüler ein Ausgang gestattet war, bei einer Schwester seiner Mutter verlebte – einer vortrefflichen Dame, die im Marais ein Hotel garni unterhielt und ihm von Zeit zu Zeit ein paar Gräten gab, daß er sich Handschuhe kaufen konnte, denn sein Äußeres war ihm schon frühzeitig eine seiner größten Sorgen.

Dergleichen trübselige Kinderjahre zeitigten eine verbitterte Frühreife. Es braucht Glück über Glück im Leben, Gedeihen und Wohlergehen ohne Zahl, um den Eindruck solcher ersten Lebenszeit zu verwischen; und man sieht reiche, glückliche, mächtige, hochgestellte Leute, die niemals des Glückes zu genießen scheinen, dermaßen hat ihr Mund den neidischen Zug aufbewahrt, den einstige Enttäuschungen dort gegraben haben, und ihr Benehmen, ihre Haltung verrät noch immer die schämige Schüchternheit, die den jungen, frischbackenen Körpern durch den alten, albern aussehenden Rock verliehen wurde, der aus Vaters Sachen zurechtgeschneidert wurde.

Das bittere Lächeln d'Argentons hatte seine Daseinsberechtigung. Im Alter von siebenundzwanzig Jahren hatte er es noch zu nichts weiterem gebracht, als zur Herausgabe eines Bandes von Humanitären Poesieen auf eigene Kosten – eine Sache, die ihn auf Zeit von einem halben Jahre auf Brot und Wasser gesetzt hatte, und von der niemand ein Sterbenswort geredet hatte. Er arbeitete indessen viel, besaß den Glauben und die Willenskraft; aber für die Poesie sind das verlorene Kräfte, denn für sie werden gemeinhin Fittiche gefordert. d'Argenton besaß dergleichen Dinge nicht. Er empfand vielleicht an ihrer Statt jene Unruhe, die ein mangelndes Glied dem Körper läßt – das war aber alles, und er vergeudete Zeit und Mühe in unnützen und unfruchtbaren Anstrengungen.

Die Unterrichtsstunden, die er gab, um sein Dasein zu fristen, ermöglichten ihm, mit allerhand Entbehrungen ein kärgliches Auslangen bis zum Monatsschlusse, wo ihm seine Tante, die sich in die Provinz zurückgezogen hatte, einen Pensionsgroschen zusandte. Das alles hatte sehr geringe Ähnlichkeit mit dem Ideal, das Ida sich davon schuf, – mit jenem losen, lustigen Leben des weltlichen Poeten, der in allen Salons des vornehmen Faubourgs von Erfolgen zu Intriguen schweifte ...

Von stolzem und kaltem Temperament, war der Poet bis zu diesem Tage jedem ernsten Verhältnis aus dem Wege gegangen. An Gelegenheit zur Anknüpfung eines solchen hatte es ihm nicht gefehlt und fehlte es ihm nicht. Man weiß ja, daß sich immer Frauen reihenweise finden, um dergleichen Geschöpfen ihre Liebe zu schenken und auf ihr »ich glaube an die Liebe« anzubeißen wie der Plötz an den Köder. Was aber d'Argenton anbetrifft, so waren ihm die Frauen immer nur ein Hindernis, ein Zeitverlust gewesen. Von ihnen bewundert zu werden, hatte ihm genügt; er stellte sich mit Absicht auf einen höheren Platz, in jene Sphären, wo man einherschwebt, von Bewunderung und Schmeichelei umkreist und getragen, denen er zu antworten huldvoll geruhte.

Ida de Barancy war wohl die erste, welche einen wirklichen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Sie hatte hiervon nicht die leiseste Ahnung, und jedesmal, wenn sie, häufiger nach dem Gymnasium hingezogen, als notwendig war, um sich nach ihrem kleinen Jack zu erkundigen, dann dem Herrn d'Argenton Auge in Auge stand, so zeigte sie immer die nämliche demütige Haltung, die nämliche schüchterne, um Mitleid bettelnde Stimme.

Der Dichter seinerseits fuhr, sogar nach seinem Besuche im Boulevard Haußmann, fort, seine Gleichgültigkeits-Komödie zu spielen. Das hinderte ihn aber nicht, im Stillen das Kind zu hätscheln, es zu sich zu ziehen, es zu veranlassen, daß es ihm von seiner Mutter, von jenen Wohnräumen erzähle, deren Eleganz ihn, während er über sie schmähte, durch ein Gemisch von Eitelkeit und verliebter Eifersucht bestochen und verführt hatte.

Wieviel mal während des Litteratur-Unterrichts – was für eine Litteratur konnte wohl sie interessieren, diese »kleinen heißen Länder!« – wieviel mal rief er Jack an seinen Tisch heran, um ihn auszufragen ... Wie es wohl seiner Mutter ginge? – was sie denn gesagt hätte?

Jack, dem diese Fragen sehr schmeichelten, gab allerhand Auskünfte über Dinge, um die man ihn fragte, sogar über solche auch, um die man ihn nicht fragte. Auf solche Weise lebte er sich immer mehr und mehr in den Gedanken hinein, der »gute Freund« zu werden – trotzdem er sich anderseits befleißigte, ihn von sich hinweg zu jagen; und dieser blondlockige Knabe mit seiner schmeichlerischen Stimme gab ihm unaufhörlich, unerbittlich zu hören: »Gut Freund war so lieb, war so gefällig!« ... Er war ja so oft bei ihnen zu Besuch; o, sehr oft! und sobald er nicht kam, pflegte er Körbe voll schönen Obstes zu schicken, Birnen von ... solcher Größe! und Spielzeug von allerhand Sorten für den kleinen Jack ... Darum liebte auch Jack ihn von ganzem Herzen – o! das stand fest! – wer wollte da wohl noch reden!

»Und Deine Mama ist ihm doch ohne Zweifel auch recht gut?« fragte d'Argenton, während er die Feder weiter führte oder doch weiter zu führen bestrebt war.

»O ja! Herr d'Argenton!« antwortete Jack harmlos.

War es auch ganz sicher, daß er harmlos und unschuldig redete?

Die Kinderseele ist ein Abgrund. Man weiß niemals, bis zu welchem Punkte ein Kind wirkliche Kenntnis von den Dingen selbst besitzt, von denen es uns erzählt. In jenem Zustande geheimnisvoller Kenntnis, in welchem sich dort fortwährend Empfindungen und Ideen gestalten, geschehen plötzliche Erschließungen, von denen uns nichts Kunde giebt, Bruchstücke von jäh aufgehenden Verständnissen, die sich zu einem Gesamtbilde zu formen schicken, die durch Bänder untereinander verknüpft sind, die das Kind ganz unverhofft erfaßt.

Waren es Beziehungen dieser Art, welche Jack das Verständnis für den Grimm und die Enttäuschung erschlossen, die seinen Lehrer jedesmal dann erfaßten, wenn er ihm von dem »guten Freunde« erzählte? Immerhin kam er ohne Unterlaß auf dieses selbige Thema zurück. Er mochte d'Argenton nicht leiden. Zu dem unangenehmen Eindrucke aus den ersten Zeiten seines Zusammenlebens mit ihm gesellte sich jetzt eine Empfindung von Eifersucht. Seine Mama beschäftigte sich zuviel mit diesem Menschen. Wenn er an Sonntag-Nachmittagen auf Urlaub zu Hause war oder in den Ferien dort weilte, dann stellte sie ihm allerhand Fragen über seinen Lehrer, ob er gut zu ihm wäre, ob er ihm keinen Auftrag an sie gegeben hätte?

»Ganz und gar nichts,« antwortete dann Jack.

Und doch unterließ der Dichter niemals, ihn mit irgend einem Kompliment an die Gräfin zu entlassen. Einmal gab er ihm sogar eine Abschrift von seinem Gedichte »Ich glaube an die Liebe« mit. Aber Jack vergaß sie zuerst, dann vertrödelte er sie, halb aus Zerstreutheit, halb aus List.

So hielt sich, während diese beiden einander so unähnlichen Naturen einander durch alle magnetischen Pole anzogen, das Kind zwischen ihnen, mißtrauisch, aufgeweckt, als wenn es schon argwöhnte, daß es sich in dem heftigen und seit ihrer ersten Begegnung vorausgesehenen Zusammenstoß gefangen, zermalmt, erstickt sehen würde.

Alle vierzehn Tage am Donnerstag hatte Jack seinen Ausgehetag und blieb dann bei seiner Mutter zu Tisch, manchmal mit ihr allein, manchmal auch mit dem »guten Freunde«. Es war für ihn und für alle »kleinen heißen Länder« ein großes Fest, denn er kehrte von diesen Ausflügen ins Familienleben immer zurück mit vollen Taschen.

An einem Donnerstag nun, als er wieder zur gewohnten Stunde ankam, sah Jack in dem Eßzimmer drei Gedecke auf dem Tische, dazu eine große Pracht an Kristallgläsern und Blumen entfaltet ... »O! welch ein Glück!« sprach er bei sich, als er ins Zimmer hineintrat ... »Unser guter Freund ist da!«

Seine Mutter kam ihm entgegen, schön, in großer Toilette; in ihrem Haar hatte sie weiße Lilien stecken, die den Korblilien ganz ähnlich sahen. Ein großes, mildes Feuer brannte im Salon, wohin sie ihn unter Lachen zog.

»Rate einmal, wer da ist?«

»O! ich kann's mir schon denken,« sagte Jack überglücklich – »Gut Freund ist's.«

Denn sie machten solche kleine Szenen oft einmal Donnerstags, wenn er kam.

D'Argenton war's.

Blässer, unheimlicher noch, als er's in der Regel war, spreizte er sich auf dem Divan, im Frack, in weißer Halsbinde, mit einem großen, kräftig gestärkten Hemdbusen, der ihm ein wichtiges Aussehen gab.

Der Feind war am Platze, war da. Die Enttäuschung des Knaben war so groß, daß er die größte Mühe hatte, die Thränen zurückzuhalten.

Für eine Minute herrschte eine peinliche Verlegenheit und ein qualvolles Schweigen.

Zum Glück wurde die Thüre aufgerissen, so geräuschvoll und hastig, als ob sich eine Horde Hunnen auf sie gestürzt hätte, und Augustin rief mit dröhnender Stimme: »Gnä' Frau, 's ist angerichtet!«

Die Mahlzeit kam dem kleinen Jack sehr trübselig und recht, recht lang vor. Er bereitete den andern Verlegenheit und wußte selbst nicht vor Verlegenheit und Unbehagen wo aus und wo ein. Wer hat sie nicht schon einmal gehabt, jene Empfindung, abgesondert zu sein, nicht herzugehören, die einen mit der Begierde erfüllt, zu verschwinden, auf der Stelle auf und davonzugehen, so sehr fühlt man sich unnütz und unnötig! Wenn Jack etwas sagte, wurde nicht auf ihn gehört. Und zu verstehen, was gesprochen wurde, wäre ihm nicht gelungen, wenn er auch daran gedacht hätte.

Es waren jene halben Worte, jenes rätselhafte Hin und Her von Phrasen, dessen man sich bedient, um über die kleinen Köpfe von Kindern hinweg zu sprechen. Zuweilen sah er seine Mutter lächeln, zuweilen bemerkte er, wie sie errötete und schnell einen Schluck trank, damit man nicht sehen möge, daß sie rot wurde.

»Oh! Nein, nein!« sagte sie und »Wer weiß? – Kann sein! – Meinen Sie?« Alle Arten von kleinen Wörtchen, die nichts zu bedeuten, nichts sagen zu wollen schienen und die sie doch recht zum Lachen brachten. Wo waren sie hin, die fröhlichen Mahlzeiten, wo Jack, zwischen seiner Mutter und »gut Freund« sitzend, der wahre König der Tafel war und nach seiner Laune die Heiterkeit und die Gespräche der Gäste leitete? Diese Erinnerung stieg ihm plötzlich bei einer unglücklichen Redensart auf. Frau de Barancy hatte d'Argenton soeben eine Birne hingereicht, und er erging sich in Lobpreisungen dieser prächtig aussehenden Früchte.

»Die kommt aus Tours,« sagte Jack, mit oder ohne Bosheit. ›Gut Freund‹ hat sie uns geschickt.«

D'Argenton, der sich anschickte, seine Birne zu schälen, legte sie wieder auf seinen Teller mit einer Gebärde, die den Ärger, eine Frucht, die er gern mochte, nicht essen zu können, und den ganzen Widerwillen, den ihm sein Nebenbuhler einflößte, zu erkennen gab.

Oh! der schreckliche Blick, den die Mutter dem Knaben zuwarf! Noch nie hatte sie ihn so angeblickt!

Jack wagte sich nicht mehr zu rühren, geschweige denn ein Wort zu sprechen; und der ganze weitere Abend trug dieses Gepräge des Stillschweigens.

Dicht beieinander am Kamin sitzend, waren d'Argenton und Ida in einer leisen Unterhaltung begriffen, die in jenem vertrauten Tone geführt wurde, der auf bereits innige Freundschaft schließen läßt. Er erzählte ihr sein Leben, seine nervöse und an Krankheiten reiche Kindheit, die über die Mauern eines alten, tief in den Bergen verlorenen Schlosses nicht hinauskam. Er schilderte die Gräben, die kleinen Türmchen und die langen Gänge, wo sich der Wind heulend fing; dann die Kämpfe, die er als Künstler zu bestehen hatte, seine ersten Arbeiten, die Hindernisse, die seinem Genie beständig in den Weg traten, und die Anfänge, die für den hohen Flug seiner Laufbahn viel zu niedrig waren.

Er sprach von den bitteren, grausamen Verfolgungen, deren Opfer er gewesen, von seinen litterarischen Feinden, von den furchtbaren Epigrammen, die er auf sie losgelassen.

»Da habe ich ihm das grausame Wort gesagt!«

Dieses Mal unterbrach sie ihn nicht mehr. Sie lauschte, ihm zugeneigt, den Kopf in die Hand gestützt, und lächelte wie verzückt. Ihr ganzes Sinnen und Denken war derartig in Beschlag genommen, daß sie noch immer lauschte, als er schon schwieg und im ganzen Salon nichts weiter zu vernehmen war, als das Ticktack der Uhr und das Knittern der Seiten, welche das Kind voller Langeweile umschlug, halb eingeschlafen über dem Album, darin es blätterte.

Plötzlich stand sie auf, von einem leisen Beben geschüttelt.

»Schnell, Jack, lieber Junge, rufe Constant; sie soll Dich hinbringen. Es ist Zeit ...«

»Oh, Mama!«

Er wagte nicht zu sagen, daß er sonst habe länger bleiben dürfen, er fürchtete; seiner Mutter Kummer zu bereiten und vor allem in diesen heiteren klaren Augen, von denen er zart und liebreich angeschaut zu werden gewohnt war, wieder jenem Ausdruck des Zornes zu begegnen, der ihn soeben so sehr erschreckt hatte.

Sie belohnte ihn für seine Gefügigkeit, indem sie ihn mit seltsamer Inbrunst umarmte.

»Gute Nacht, Kind ...« sagte d'Argenton mit verdoppelter Feierlichkeit; und er zog den Kleinen zu sich heran, als wenn er ihn in die Arme schließen wollte. Der Knabe streckte ihm seinen hübschen Blondkopf entgegen.

»Gute Nacht, Herr!«

Aber der Dichter stieß ihn zurück, als wenn er von einer unwiderstehlichen Regung des Widerwillens hingerissen würde, ähnlich der Empfindung, die ihn überkam während der Mahlzeit, als er sich die schöne Frucht schälen wollte.

Und doch war es kein Angebinde von »Gut Freund« – dieses Kind da.

»Ich kann nicht – ich kann nicht,« murmelte er, und er sank auf das Sofa zurück, indem er sich die Stirn abwischte.

Jack sah verblüfft seine Mutter an, wie wenn er sagen wollte: »Was hab' ich denn eigentlich gethan?«

»Geh, mein Jack. Bringen Sie ihn hinaus, Constant.«

Und während Frau de Barancy wieder zu ihrem Dichter trat und ihn zu beruhigen suchte, kehrte das Kind schweren Herzens zum Gymnasium Moronval zurück, und auf dem düstern Wege, den der Kummer, schon wieder zurück zu müssen, noch schwärzer und trübseliger erscheinen ließ, und in dem eiskalten Schlafsaal dachte er an den Lehrer, der dort unten auf dem Sofa im Salon zwischen dem Lichterglanz und dem Blumenduft sich so breit und häuslich niedergelassen hatte, und sagte voller Neid zu sich selber: »Der hat's gut, ja, der hat's gut! Der kann sich freuen! – Bis wie lange wird er wohl dort bleiben?«

In dem Ausrufe d'Argentons: »Ich kann nicht!« und in dem Widerstreben, den kleinen Jack zu umarmen, war sicherlich die Emphase und die Sucht nach Effekt, die dieser komödiantenhaften Natur zu eigen war, aber doch auch ein wahres und aufrichtiges, tief verborgenes Gefühl an den Tag getreten.

Er war eifersüchtig auf das Kind, gleich wie das Kind eifersüchtig war auf ihn. In seinen Augen verkörperte sich in diesem Knaben Idas ganze Vergangenheit, der lebende Beweis – der leibhaftigste aller Beweise – dafür, daß andre sie vor ihm geliebt hatten. Sein Stolz litt darunter.

Nicht als ob er in die Gräfin sehr verliebt gewesen wäre. Man hätte eher sagen können, er liebe sich selbst in ihr, und daß er, wenn er sein eignes Bild in den leuchtenden und unschuldigen Augen verschönert zurückgestrahlt erblickte, voller Gefallen an sich selbst mit dem egoistischen Lächeln dabei verweilte, welches jedes Weib dem Spiegel zuwirft, der sie reizend erscheinen läßt. Aber d'Argenton hätte den Wunsch hegen mögen, der Spiegel würde von keinem Hauch getrübt werden, daß er nichts weiter widerstrahle, als nur ihn, anstatt im Schatten der Vergangenheit die beleidigende Erinnerung an eine Menge anderer Gesichter zu bewahren.

Aber das war nicht mehr zu ändern. Die arme Ida konnte ja nichts dafür, sie konnte nur das Bedauern ausdrücken – jenes Bedauern, das sie alle zum Ausdruck bringen mit den Worten: »Warum habe ich Dich erst so spät kennen gelernt?« das aber freilich nicht dazu angethan ist, die Qualen jener seltsamen Eifersucht zu lindern, die aus einem Rückblick auf Vergangenes entspringt, noch dazu, wenn diese Eifersucht sich paart mit einem außerordentlichen Stolze.

»Sie hätte mich nur zu ahnen brauchen,« dachte d'Argenton, und daraus entsprang der dumpfe Groll, den der bloße Anblick des Kindes in ihm wachrief.

Sie konnte sie doch nicht verleugnen, nicht aufgeben oder verlassen, diese teure, goldhaarige Vergangenheit. Aber nach und nach ward es ihr unter dem Einfluß des Dichters zur Gewohnheit, Jack weniger oft kommen zu lassen, um das so peinvolle Zusammensein zu vermeiden, wo ein jeder unter der Verlegenheit des Andern litt, und auch selbst ihre Besuche im Gymnasium abzukürzen. Somit trat sie bereits auf die Straße der Opfer, und dieses erste schon war kein geringes.

Was ihr Haus, ihren Wagen, den ganzen Luxus, in dem sie lebte, anbelangte, so war die arme Frau bereit, allem zu entsagen, und wartete nur auf einen Wink von d'Argenton, um den »guten Freund« zu verabschieden.

»Du wirst ja sehen,« sagte sie zu ihm, »ich werde Dir helfen, werde arbeiten. Und dann werde ich Dir auch nicht mehr ganz zur Last fallen. Ich werde ja noch ein ganz hübsches Sümmchen Geld übrig behalten.«

Aber d'Argenton zögerte noch. Trotz seiner scheinbaren Überspanntheit war er nämlich doch ein sehr kalter Kopf, ein sehr klarer Geist, ein bürgerlicher, methodischer Herr, ein Gewohnheitsmensch; und selbst über seine Streiche und Späßchen vernünftelte er lange hin und her.

»Nein, nein ... Wir wollen noch warten ... Der Tag wird anbrechen, da ich reich sein werde, und dann ...«

Das war eine Anspielung auf die alte Tante vom Lande, die ihm die Pension zahlte, und die er jedenfalls eines schönen Tages beerben würde. Sie war ja schon so betagt, die liebe, gute Alte.

Und sie entwarfen köstliche Pläne, was sie thun wollten, sobald das eingetreten. Dann würden sie aufs Land gehen, an einen Ort, der noch nahe genug bei Paris lag, um von den Strahlen der Großstadt noch getroffen zu werden; weit genug ab von Paris, um von seinem Trubel verschont zu sein. Sie würden ein kleines Haus für sich bewohnen, dessen Plan er schon lange in seinem Innern erwog; ganz niedrig sollte es sein, mit einer italienischen Terrasse, die mit Weinranken verziert werden sollte, und unter dem Giebel der Thür sollte der Wahlspruch prangen: › Parva domus, magna quies‹ (Kleines Haus, großer Frieden). Dort würde er arbeiten. Er würde ein Buch schreiben, sein Buch, das Buch, das BUCH, die »Tochter Faust's«, von der er schon zehn Jahre lang sprach. Dann, gleich nach der »Tochter Fausts«, sollten die »Passionsblumen« kommen, ein Band Gedichte, sodann »Eherne Saiten«, unbarmherzige Spottverse. In dieser Art hatte er eine Unmenge von hohlen Titeln ohne Folge, von Gedankenschnippelchen, von Bücherrücken ohne irgendwelchen Inhalt.

Dann würden die Herausgeber kommen; sie würden einfach gezwungen sein zu kommen! Er würde reich, berühmt, vielleicht gar in die Akademie aufgenommen werden, obgleich diese Einrichtung bereits erheblich heruntergekommen und wurmstichig wäre.

»Aber nein, das schadet ja nichts, das macht nichts,« sagte Ida. »Du mußt Mitglied werden.« Sie sah schon, wie sie sich am Tage der Aufnahme in irgend eine Ecke der Akademie drückte mit erregt wogendem Busen, in schlichtem, bescheidenem Kleid, wie sich das für die Frau eines berühmten Mannes geziemt.

Unterdessen fuhren sie fort, des »guten Freundes« Birnen zu essen, der ja allerdings der bequemste und kurzsichtigste aller »guten Freunde« war.

d'Argenton fand diese Satansbirnen ganz vortrefflich, aber er aß sie in schrecklich schlechter Laune, unter Wutausbrüchen, zähneknirschend, und rächte sich durch einige kleine, sehr beißende und verletzende Bemerkungen an der armen Ida für sein eigenes unzartes Benehmen.

Wochen, Monate vergingen auf diese Weise, ohne irgend eine andere Veränderung in dem Leben aller herbeizuführen, als eine sehr merkliche Entfremdung zwischen Moronval und seinem Literaturprofessor. Der Mulatte, welcher sehnsüchtig darauf wartete, daß die Gräfin inbetreff des Journals eine Entscheidung träfe, argwöhnte, daß d'Argenton sein Projekt mißbillige, und trug kein Bedenken, seine Meinung über diesen Herrn unumwunden auszusprechen.

Am Morgen eines Donnerstags betrachtete Jack, dem man nur noch selten auszugehen verstattete, trübselig durch die zahlreichen Scheiben der Spielhalle den herrlichen, tiefblauen, weit sich aufthuenden Frühlingshimmel, und bei diesem Anblicke versank er in Träume von Spazierengehen und von Freiheit.

Die Sonne schien schon warm; an den Ästen der Fliedersträuche begann das erste Grün hervorzusprießen, und der unbebaute Erdboden des kleinen Gartens verriet Spuren des die Banden des Winters gewaltsam sprengenden Lebens, wie das Gemurmel unsichtbarer Quellen.

Vom Gange her erklangen helle Kinderstimmen und der Gesang gefangener Singvögel. Es war einer jener Morgen, an denen man alle Fenster öffnet, um ein wenig Licht in die Häuser zu lassen, und die Schatten des Winters, all die Dunkelheit, mit der sich lang verschlossene Zimmer durch die langen Winternächte und die qualmenden Feuer füllen, zu vertreiben.

Jack überlegte, wie herrlich es an einem solchen Morgen sein müßte, ein wenig vom Gymnasium fortzuschlüpfen, einmal etwas anderes zu erblicken als immer und ewig die große epheubewachsene Mauer, an deren Fuße der Garten in Haufen grün gefärbter Kieselsteine und welker Blätter endigte.

Gerade in diesem Augenblicke ertönte draußen die Thorglocke; er sah seine Mutter im vollsten Staate, strahlend, eilig und mit außergewöhnlicher Aufregung eintreten.

Sie holte ihn ab, um ihn in den Wald mitzunehmen.

Man wollte erst am Abend wiederkommen. Eine wirkliche Vergnügungstour, wie er sie früher gemacht hatte.

Sie mußten erst Moronval um die Erlaubnis dazu bitten, aber da Frau de Barancy das Geld für das Vierteljahr mitbrachte, so wurde die Erlaubnis selbstverständlich schnell erteilt.

»O! wie glücklich bin ich!« rief Jack, und während seine Mutter dem Mulatten erzählte, Herr d'Argenton habe eben nach der Auvergne zu seiner Tante, die im Sterben liege, abreisen müssen, durcheilte das Kind mit schnellen Schritten den Hof, um sich umzukleiden.

Auf seinem Wege begegnete er Maduh, Maduh, der abgezehrt und trübselig schien, von allen Sorgen für die Haushaltung in Anspruch genommen war, und der seine Besen und seine Eimer herumschleppte, ohne zu merken, wie mild das Wetter war, und wie die Luft von frischem, würzigem Dufte erfüllt war.

Bei seinem Anblick schoß Jack ein abenteuerlicher Gedanke durch den Kopf; einer jener Gedanken, wie ihn ein glückliches Kind hat, das seiner ganzen Umgebung von seinem Glück mitteilen möchte.

»Oh! Mama, wenn wir Maduh mitnehmen könnten ...!«

Die Erlaubnis hierzu war sehr schwer zu erhalten, wegen der vielfachen Verrichtungen, die dem kleinen Könige am Gymnasium oblagen; aber Jack bat so sehr, daß die herzensgute Frau Moronval erklärte, für den heutigen Tag wolle sie sich allen Arbeiten des kleinen Negers unterziehen.

»Maduh, Maduh,« schrie Jack und stürzte hinaus, »mach' hurtig, zieh Dich an, wir nehmen Dich mit in den Wagen, wir wollen im Wäldchen frühstücken.«

Eine augenblickliche Verwirrung folgte. Maduh war ganz verdutzt. Frau Decostère besorgte ihm leihweise eine Bluse für diese Gelegenheit. Der kleine de Barancy hüpfte vor Freude, und Frau de Barancy glich einem schwatzhaften Piepmatz, der durch ein Geräusch in Aufregung versetzt wird, wie sie so Moronval eine Menge von Kleinigkeiten über d'Argentons Reise und das hoffnungslose Befinden seiner Tante mitteilte.

Endlich brach man auf.

Jack und seine Mutter nahmen in der »Viktoria« Platz, während Maduh zu Augustin auf den Bock kletterte; das war zwar recht wenig königlich, aber Seine Majestät hatten schon ganz andre Dinge erlebt.

Die Fahrt, hinab die Avenue de l'Impératrice, die am Morgen so breit und so luftig und so traut ist, war köstlich. Man begegnete etwelchen Spaziergängern, von jener Art, die gerne ein wenig in der reinen, sonnigen Luft atmen, ehe der Tag seinen Trubel, seinen Lärm und seinen Staub heraufführt, ehe die Schar der Kinder kommt in Begleitung der Dienstmädchen und Erzieherinnen, der ganz kleinen Kinder, die noch auf dem Arm getragen werden mit feierlich wallenden langen Röcken von schneeiger Weiße, und die schon größeren mit bloßen Armen und nackten Beinen und flatternden Haaren. Reiter und Reiterinnen stoben vorüber; und auf dem für sie abgesonderten Teile der Allee zeigte der frisch geharkte Kies tief und deutlich die Spuren der ersten Reitergruppen und schien, wie er so an den grünen Rasenplätzen entlangführte, mehr ein Parkweg als ein öffentlicher Reitweg zu sein. Dasselbe friedliche, üppige, ruhige Gepräge trugen auch die zwischen dem Grün verstreuten Villen, deren blaßrote Ziegelsteine und bläuliche Schieferdächer an diesem schönen Morgen, während sie von frischem Lichte strahlten, wie neugewaschen aussahen.

Jack wußte sich vor Entzücken nicht zu lassen, umarmte seine Mutter und zupfte Maduh an der Bluse.

»Freust Du Dich, Maduh?«

»Oh! Sehr, sehr freuen, Herr!«

Man kam nach dem Wäldchen, das stellenweise schon grün war und hier und dort bereits Blüten und Blumen aufwies. Der Laubfirst einiger Alleen zeigte schon ein graufarbiges Grün, und an manchen Zweigen quollen frische, saftige, rötliche Knospen, die ihnen, während sie in Sonnenlicht gebadet waren, ein duftiges Aussehen verliehen. Die verschiedenen Holzarten, von denen die einen mehr, die andern weniger dem Einfluß der Frühjahrssonne sich erschlossen, vermischten das zarte Grün ihrer neuen Triebe mit der dauernden Färbung der Immergrüne. Stechginstersträucher, die den Schnee auf ihren harten und gekräuselten Blättern getragen hatten, paarten sich mit knospendem Flieder, der noch fröstelte und sich nicht recht hervor getraute.

Am »Restaurant Du Pavillon« hielt der Wagen an, und während das Frühstück bereitet wurde, stieg Frau de Barancy mit den Kindern aus, um einen Spaziergang um den See herum zu machen.

In so früher Morgenstunde war der Weg noch nicht wie am Nachmittage durch die langen Reihen von Spaziergängern und den eitlen Prunk gepuderter und galonnierter Kutscher, mit Federbüschen geschmückter Pferde und glänzenden Karossen überfüllt.

Es war in der Nacht ein frischer Tau gefallen, welcher jetzt in feinen Dunstwolken im Sonnenlichte emporstieg. Schwäne glitten über die Wasserfläche dahin, Grashalme spiegelten sich in dem klaren Wasser, dem der Schatten, die Ruhe und die Einsamkeit scheinbar das Ansehen eines fließenden Gewässers gaben. Es kräuselte sich mit leichtem Wellenschlage, und von den Quellen, die sich am Grunde des Sees befanden, stiegen gurgelnd klare Wasserblasen empor. Statt jener unbeweglichen weiten Fläche, die nur den neuen Moden und Eitelkeiten des Pariser Lebens als Spiegel dient, wagte der See einmal wieder ein ordentlicher See zu sein, Wasservögel durchkreuzten, Fische belebten ihn, und die mit dem Grün der jungen Keime verzierten Weiden tauchten ihre Zweige nachlässig in seine klaren Wellen.

Welch entzückender Spaziergang!

Und erst das Frühstück! ... Das Frühstück bei offenem Fenster mit jenem bekannten Schuljungenappetit, der herzhaft und ohne sich lange zu besinnen, sich über alles mit gleichem Mute hermacht. Während der ganzen Mahlzeit lachte man in einem fort. Alles wurde dazu zum Vorwand genommen, sogar ein Stück Brot, das hinab fiel, oder die Haltung des Kellners; und diese harmlose Fröhlichkeit weckte in den Zweigen die ersten Vogelstimmen.

Darauf, nach Beendigung des Mahles, schlug die Mutter vor: »Wie wär's, wenn wir in den Zoologischen Garten gingen?« –

»Hurrah, Mama! das ist ein famoser Gedanke. Maduh hat so etwas noch nie gesehen ... das wird ihm Freude machen!«

Man bestieg wieder den Wagen, um die große Allee bis zum Thor entlang zu fahren. In dem fast menschenleeren Garten empfanden sie dieselbe Ruhe und Kühle, die sie im Wäldchen genossen hatten; aber auf die Kinder übte das Tierleben, das den Garten bis in die kleinsten Winkel hinein erfüllte, weit mehr Anziehungskraft aus. Wo sie vorüberkamen, sprangen die Tiere an den Umzäunungen in die Höhe, schlaue oder begehrliche Augen richteten sich auf sie und blaßrote Schnäuzchen schnüffelten nach dem gutriechenden frischgebackenen Brote, das sie aus dem Restaurant mitgebracht hatten.

Maduh, der bis jetzt sich lustig gezeigt hatte, um Jack zu erfreuen, fing jetzt wirklich an aus Herzenslust vergnügt zu sein. Er hatte die blauen Schildchen nicht nötig, die all diesen kleinen Einzäunungen das Aussehen von Gefangenenzellen gaben, um sofort gewisse Tiere seines Heimatlandes wiederzuerkennen. Mit gemischtem Gefühle, halb Freude, halb Wehmut, betrachtete er die Känguruhs, die auf ihren langen, beweglichen Hinterfüßen aufrecht dasaßen. Es war, als hätte er Mitleid mit ihnen, da sie auch heimatlos wären und als thäte es ihm wehe, sie in dieser engen Einzäunung zu sehen, die sie in drei Sprüngen durchmaßen, um ihre kleine Hütte wieder zu gewinnen mit jener Überstürzung, wie sie einem Tiere eigen ist, das seinen Zufluchtsort und die Notwendigkeit seiner kleinen Hütte kennt.

Er machte Halt vor den leichten Gittern, die, um die Täuschung zu vermehren, hell angestrichen waren, und hinter denen die wilden Esel und die Antilopen eingepfercht waren, ohne Rücksicht auf ihre feinen, so zarten und behenden Hufe; es waren da auch kleine abgegraste, grüne Ecken vorhanden, kleine Hügel, die so grasarm waren, daß plötzlich vor Madou das undeutliche Bild einer fernen sonnenverbrannten Landschaft auftauchte, indes die Tiere eilig vorbeitrabten.

Die eingesperrten Vögelchen machten vor allem sein Mitleid rege. Die Strauße und Kasuare hausten einzeln im Freien unter tropischen Gewächsen, die sich die Allee entlang zogen, wie auf der Abbildung einer Naturgeschichte. Sie hatten wenigstens Platz, sich auszubreiten, unter den Kieselsteinen die frische Erde aufzuscharren, durch die der Zoologische Garten immer ein unfertiges Aussehen hatte.

Aber wie trübselig erschienen die Papageien und Aras in dem langen Käfig, der in gleichförmige Abteilungen zerfiel, von denen jede ausgeschmückt war mit einem kleinen Becken und einem Baumstumpf, auf dem das Tier angekettet saß, und jeglichen Zweiges oder grünen Blattes entbehrte.

Bei der Betrachtung dieser melancholischen, ein wenig düsteren Örtlichkeiten mußte Maduh – denn das Haus ist in Anbetracht des kleinen Hofes sehr hoch, – an das Gymnasium Moronval denken. Bei dem Schmutz, der diese engen Bauer erfüllte, erschienen die herrlichen Federn matt, zerzaust und zerknickt, sie sprachen von Zwistigkeiten, von Kämpfen, von der Erregtheit, mit der Gefangene oder Wahnsinnige die Eisengitter entlang toben auf der Suche nach einer Öffnung. Und die Vögel der Wüste oder weiten Steppe, die Flamingos, deren rosarotes Gefieder und langgereckter Hals, geformt wie ein Triangel, über die Fluten des blauen Nil dahin und am bleichen Himmel entlang fliegt, die Ibisse mit langem Schnabel, die auf regungslosen Steinbildern der Sphinx hocken und träumen, alle nahmen sie dasselbe alltägliche Aussehen an inmitten der weißen Pfauen, die sich eitel blähten, und der kleinen, zartfarbigen chinesischen Enten, die behaglich auf ihrem winzigen Pfuhl schnatterten und im Schlamme wühlten.

Nach und nach füllte sich der Garten.

Jetzt wurde er weltlich, laut, belebt, und plötzlich erfüllte ein Schauspiel, ein fremdes, phantastisches Schauspiel, das sich ihm zwischen den beiden Alleen darbot, Maduh mit so großer Aufregung, daß er unbeweglich stehen blieb, stumm, ohne ein Wort finden zu können, seine Verwunderung und sein Entzücken zum Ausdruck zu bringen.

Über den Büschen und Gittern, fast in gleichen Höhen mit den mächtigen Bäumen, erschienen zwei Elephanten, von denen man zuerst nichts weiter sah als die mächtigen Köpfe und die schwingenden Rüssel, und kamen näher, dieweil sie auf ihrem breiten Rücken eine bunte Gesellschaft schaukelten: Frauen mit hellfarbigen Sonnenschirmen, Kinder mit Strohhüten, Blondköpfe, Schwarzköpfe, farbige Bänder im Haar. Hinter den Elephanten schritt in ganz anderer Gangart eine Giraffe daher, den Hals steif emporgereckt, den kleinen, ernsten Kopf stolz emporgetragen; auch auf ihrem Rücken saßen Leute. Und diese seltsame Karawane zog die sich schlängelnde Allee entlang zwischen den Spitzenvorhang der jungen Zweige, unter Lachen, leichtem Geschrei, mit jener Aufregung, welche die Höhe verursacht, die so frische Luft und auch eine unbestimmte Furcht, die nur durch eine ziemliche Portion Eigenliebe gedämpft wird.

Bei dem schon heißen Sonnenlichte erschienen diese Frühjahrskleider reich und schmeichlerisch; und alle die Farben hoben sich lebhaft ab von der dicken, runzligen Haut der Elephanten. Endlich sah man sie in ihrer ganzen Gestalt; geführt von dem Wärter, schaukelten sie einher, indem sie ihre Rüssel bald nach rechts bald nach links reckten, bald nach den frischen Trieben der Bäume, bald nach den Taschen der Spaziergänger langten, dick, belastet, ruhig und wundervoll, ihre langen Ohren kaum bewegend, wenn ein über ihren Buckel geneigtes Kind oder ein erwachsenes Mädchen aus dem Volke sie leise mit der Spitze eines Sonnenschirmes oder einer unschädlichen Gerte kitzelten.

»Was hast Du, Maduh? ... Du zitterst ... Bist Du etwa krank?« fragte Jack seinen Freund.

Thatsächlich wäre Maduh vor Aufregung beinahe ohnmächtig geworden; aber als er erfuhr, daß er auch auf die mächtigen Tiere steigen dürfe, nahm seine Gestalt einen würdigen, gesetzten, fast feierlichen Ausdruck an.

Jack weigerte sich, ihn zu begleiten.

Er blieb bei seiner Mutter, die ihm für diesen glücklichen Tag nicht munter und vergnügt genug vorkam; er empfand das Bedürfnis, sich an sie zu schmiegen, sie zu bewundern, und in dem Staube zu gehen, welchen ihre langen, seidenen Schleppen, die sie königlich ziehen ließ, aufwirbelten. Sie setzten sich beide und sahen zu, wie sich der kleine Neger hoch auf den Elephanten hinaufschwang mit einer Hast und einem leisen Beben, das ganz eigentümlich war.

Einmal oben, schien er ganz an seinem Platze zu sein, ganz da, wo er hingehörte.

Da war er nicht mehr das Kind, das ferne von der Heimat weilte im fremden Land, zeigte nicht mehr jene lächerliche Haltung, ließ nicht mehr jene beinah komische Sprache hören; er war nicht mehr der linkische, begriffsstutzige Schüler, der kleine Bediente, den knechtische Verrichtungen und die Tyrannei der Herrn demütigten. Unter seiner schwarzen Haut, die gewöhnlich erdfahl aussah, sah man das Leben pulsieren, sein wolliges Haar richtete sich wild empor und in seinen Augen sprühten, neben dem Leid und der Qual des Exils, Blitze des Zorns und der Begierde zu herrschen.

Glücklicher kleiner König!

Zwei oder drei Mal nacheinander ließen sie ihn die Alleen entlangreiten.

»Noch einmal! Noch einmal!« rief er, und über die kleine Brücke, die sich über den seichten Weiher spannte, und zwischen den Hürden der wilden Esel, der Kängurus und Ferkelkaninchen ritt er wieder und wieder dahin, bis zur Trunkenheit erregt durch die schwerfällige und rasche Gangart des Elephanten. Kerika, Dahomey, der Krieg, die großen Jagden, alles das kam ihm wieder in die Erinnerung. Er sprach vor sich hin, in seiner Muttersprache, und bei dieser dünnen, afrikanischen Stimme, dieser murmelnden und liebkosenden Stimme, die ihn die Augen vor Wonne schließen machte, stieß der Elephant begeistertes Geschrei aus, wieherten die Zebras und hüpften die Antilopen erregt hin und her, während aus dem großen Käfig der ausländischen Vögel, wo die Sonne mit röteren Strahlen hineinschien, Gezwitscher, Geschrei, Rufen und Picken von scharfen Schnäbeln erscholl; kurz ein Leben und eine Munterkeit erwachte, wie sie der Urwald zeigt vor der Stunde, wo die Sonne zur Rast geht.

Aber es war spät. Man mußte zurückkehren. Er mußte zurückkehren und diesem schönen Traum entsagen. Außerdem erhob sich gleich nach dem Scheiden der Sonne ein scharfer, kalter Wind, wie er oft weht beim Anfang des Frühjahrs, wo kalte Nächte auf die warmen Tage folgen.

Diesen Eindruck des Winters, dieses kalte, scharfe Gepräge, das über allem lag, trübte den Kindern die Heimfahrt, machte sie öde, traurig, starr. Der Wagen schlug die Richtung nach dem Gymnasium ein, entfernte sich von dem Triumphbogen, der schon vom Sonnenuntergang über und über flammte und auf die Nacht zuzugehen schien; Maduh träumte neben dem Kutscher auf dem Bock; Jack war, ohne daß er recht wußte, warum, das Herz schwer; und zufällig war Frau de Barancy auch ganz still; dennoch hatte sie etwas zu sagen, und zwar etwas, was zu sagen ihr viel kostete; denn sie wartete bis zum letzten Augenblick, ehe sie sprach.

Endlich ergriff sie Jacks Hand und legte sie in die ihre.

»Höre, mein Kind, ich habe Dir eine schlimme Nachricht zu melden.«

Er begriff im Nu, daß ihm ein großes Unglück bevorstehe und seine Augen wandten sich mit einem flehenden Ausdruck nach seiner Mutter hin.

»Oh! sag' es nicht, sag' es nicht, was Du mir zu melden hast!«

Aber sie fuhr fort, indem sie mit leiser und sehr hastiger Stimme sprach:

»Ich muß auf eine große Reise gehen ... Ich muß Dich verlassen ... Aber ich werde Dir schreiben ... Weine nicht, um alles nicht, mein Herzblatt, Du machst mir großen Kummer ... Und dann will ich ja auch nicht lange fort sein ... wir werden uns bald wiedersehen ... ja, bald, ich verspreche es Dir.«

Und nun fing sie an, ihm eine Menge alberner Geschichten zu erzählen. Es handelte sich um Geldangelegenheiten, um eine Erbschaft, die anzutreten sei, um ganz geheimnisvolle Dinge.

Sie hätte noch lange schwatzen können, noch tausend andere Geschichten erdichten können, Jack hörte nichts mehr. Niedergeschlagen, niedergeschmettert, weinte er in seinem Winkel leise vor sich hin und das Paris, das sie durchfuhren, schien ihm seit dem Morgen gänzlich umgewandelt, beraubt seiner Frühjahrsstrahlen, beraubt des zarten Fliederduftes, unheildrohend, schauerlich; denn er betrachtete es mit den thränenfeuchten Augen eines Kindes, das eben seine Mutter verloren hat.


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